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Alt 20.03.2011, 21:47   #1
weiblich Luise
 
Dabei seit: 03/2011
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Beiträge: 4


Standard Das Rosenmädchen

Wärme umgibt dieses wunderschöne, wie schlafend daliegende Mädchen, Doch sie schläft nicht. Sie lauscht auf die leisen, hohen, in ihrem Ohr schwingenden und tanzenden Töne. Sie fühlt wie ein weicher, fast samtener Stoff ihre nackten Schulter umhüllt.
Sie grübelt nicht, denkt an gar nichts, keinen Mann und kein paar Schuhe, plant auch nicht ihr Leben oder die Einkaufsliste, wartet auf nichts. Ganz still liegt sie da und nimmt allein den leichten, in seiner ständigen Präsenz jedoch fast betäubenden Duft wahr, der wie eine leichte Brise über sie hinweg weht.
Sie treibt dahin, zeitlos, wird wie ein Blatt vom Fluss des Daseins getragen.
Als sie die Augen aufschlägt und vom gleißenden, farbigen Licht gar überwältigt wird, ist sie so eins mit sich und der Welt, dass sie nicht einmal die Tatsache verwundert, dass sie in einer riesigen Rosenblüte liegt.

Doch kurz darauf ändert sich alles: Das Licht wird trüber, die ehemals leichte Brise stärker. Kalt beißt diese das Rosenmädchen in die zarte Haut. Da fallen Tropfen, schmerzhaft wie Nadelstiche, die ihr schneeweißes Kleid ganz und gar durchnässen. Die Rosenblätter kleben feucht und eisig an ihrem Körper und der einst so angenehme Duft entwickelt sich zu einer aufdringlichen Essenz, die ihr Kopfschmerzen bereitet.
Als die, sie immer enger umschließenden Blütenblätter drohen ihr den Atem zu rauben, wird ihr klar, dass es nur noch einen Ausweg gibt. Sie schließt die Augen, nimmt all die Kraft ihres kleinen, zarten Körpers zusammen und springt. Sofort verliert sie das Bewusstsein.

*****

Geweckt durch ein lautes, beständiges Rauschen, Hupen und Stimmengewirr öffnet sie ihre Augen. Sieht, hört und fühlt das nichts mehr ist wie zuvor.
Der Boden auf dem sie liegt, ist längst kein so samtenes und weiches Bett, wie sie es gewöhnt ist. Es ist der matschige und dreckige Boden eines Berliner Parks, aufgequollen durch ein Sommergewitter. Von allen Richtungen umgibt sie Lärm. Und sogar sie selbst hat sich verändert: so riesig wie ihr Körper jetzt ist, würde sie in keiner Blüte der Welt mehr Platz finden!

Irgendetwas sticht sie in die Seite. „Aufstehen Mädchen! Solch' ein junges Ding, aber halbnackt im Park liegen!“, endlich lässt die alte Frau mit ihrem Schirm von ihr ab. „Herrgott, immer diese Drogen!“. Sie wendet sich ab und wackelt mit kleinen Schritten davon.
Benommen setzt sich das Rosenmädchen, Jamila wurde sie an jenem anderen Ort genannt, auf und blickt sich um. Als ihr Blick dem lüsternen eines alten Obdachlosen begegnet, der ihr mit seiner Bierdose zu prostet, steht sie rasch auf und geht auf ihren bloßen Füßen unsicher den Weg entlang. Nur weg von hier.
Nach einer Weile kommt sie an einen See, an dem ein Vater mit seinem Kind die Enten füttert. Sie sie sieht Seerosen auf dem Wasser treiben und Tränen benetzten sogleich ihre Augen.
„Wie konnte ich nur so leichtsinnig sein!“.
Niemals hätte sie springen, nie ihre Blüte verlassen dürfen! All die Unbeschwertheit, die die Blumenmädchen sonst ausmacht hat sie in jenem Moment verloren. Ein Kind der Blume lebt und stirbt mit ihr, so ist das Gesetz, das weiß sie doch! Aber warum lebt sie dann noch? Hat man denn schon je von einem Mädchen gehört, dass seine Blume freiwillig verlassen hat?
Der Vater telefoniert nun, seine lauter werdende Stimme reißt sie aus ihren Gedanken. Immer aggressiver klingt er und sein Gesicht verzerrt sich so entsetzlich vor Wut, dass sie schon beinahe sehen kann, wie es zerspringt und die Scherben durch die Luft fliegen. Doch das Kind sieht scheinbar nichts von dieser Gefahr. Es zerrt nur an seinem Arm, weint nun, fordert Aufmerksamkeit. Unwirsch schüttelt der Vater es ab.
Jamila dreht sich weg und erblickt den Alten, der ihr gefolgt ist. Und wohin sie sich auch dreht, streift ihr Blick nur traurige, wütende, aufdringliche oder abweisende Gesichter. Nirgendwo ein Lächeln. Was soll sie denn in dieser kalten Welt überhaupt anfangen? Kein Duft, kein Samt, nur Ekel und Ablehnung umgibt sie.
Immer noch weinend beginnt sie zu rennen, eilt immer schneller den Weg entlang, hinaus aus dem Park, hinein in das laute, dreckige Innenleben Berlins.

*****

Plötzlich stolpert sie über etwas und stürzt. Erschrocken schaut sie, trotz des alles auslöschenden Tränenschleier in ein äußerst überrascht blickendes Augenpaar.
Eine dünne Hand mit langen, ungewöhnlich schönen Fingern streckt sich ihr entgegen und hilft ihr auf. Die Hand gehört zu einem ebenso schlaksigen jungen Mann mit dunklen Locken. Er schaut immer noch leicht irritiert, versucht es aber dann mit einem vorsichtigen Lächeln. Ein hübscher Menschensohn eigentlich...
„Alles okay mit dir? Ich wusste gar nicht, dass ich so leicht zu übersehen bin.“ Mit einem schiefen, fast unverschämt wirkendem Grinsen erklärt er, er heiße Fabian. Ob er wohl das stürmische Mädchen nach seinem Namen fragen dürfe und sie vielleicht sogar Zeit für einen Kaffee habe? Er müsse schließlich sicherstellen, dass es nicht noch mehr Opfer geben würde.
Sie nennt ihm ihren Namen, zögert aber die Einladung anzunehmen. Er bemerkt das, betrachtet gleichzeitig aber schamlos ihr nasses Kleid und die Gänsehaut, die ihre helle Haut überzogen hat.
„Du kannst auch einen Tee haben oder was Stärkeres. Zum Aufwärmen.“
Diesmal lächeln auch seine Augen, fast schon ein bisschen spöttisch. Trotzdem, seine warme, freundliche Art lässt sie ihre Kälte auch ein Stück vergessen. Er meint es gut mit ihr, das ist klar. „Ich habe gerade sowieso nichts zu tun, warum also nicht?“. Nichts zu tun war nett ausgedrückt. Selbst wenn sie wollte, sie hätte ja nicht einmal einen Ort zu dem sie gehen könnte.

Im Café sitzend beginnt sie ihm Fragen zu stellen. Vorsichtig, aber dennoch neugierig. Das Wichtigste ist, ihm keine Möglichkeit zu geben nach ihr zu fragen. Sie erfährt, dass er Geschichte studiert, aber sich am liebsten durch die Stadt treiben lässt, Menschen beobachtet und Fotos von diesem Leben der gespielten Gleichgültigkeit und der echten Suche nach der Kunst, nach den Exzessen und Idealen macht. Er liebt Berlin für all diese Seiten, ist verrückt nach dieser kaputten, schmutzigen, wunderschönen Stadt. Das Studium selbst vernachlässigt er dabei manchmal. Aber angemessen und pflichtbewusst könne er ja später noch sein. Trotzdem war gerade auf dem Weg zur Bibliothek, als sie ihn „überfiel“.
„Was ist eine Bibliothek?“, will sie wissen. Er versucht seine Überraschung bestmöglich zu verbergen.
„Bücher. Tausende Bücher über alles, was man wissen will.“
Das ist der Ort um eine Antwort zu finden! Wo wenn nicht in solch einer „Bibliothek“ sollte sie einen Weg finden, in ihre duftende, bunte, warme Welt zurück zu kehren?
Sie fragt ihn, ob sie ihn dorthin begleiten dürfe und er meint, ein wenig würde er sie vermutlich noch ertragen.

*****

Und schon sind sie wieder auf den Straßen Berlins und jetzt, da er sie darauf aufmerksam macht, versteht sie, dass all das, was sie zuvor so anwiderte, Teil eines Bildes, von seltsamer, heruntergekommener Schönheit ist.
Später, nachdem sie stundenlang durch die Bibliothek gestreift ist und er gearbeitet hat, treffen sie sich wieder und beschließen nochmal etwas trinken zu gehen. Das Bezahlen übernimmt wieder, wie selbstverständlich, er, was einiges leichter macht. Geld ist doch eine wirklich abstruse Idee der Menschen.

Wieder reden und reden sie. Wie zwei Vögel, die sich tanzend in der Luft umkreisen, fliegen sie dann wieder über die Wälder seiner Gedanken, über die Meere seiner Träume. Immer höher fliegen sie, so dass sie nur noch den anderen sehen.
Auf einmal fragt der Barkeeper, ob sie noch etwas trinken wollen und sie schreckt auf. Es ist bereits dunkel geworden! Wo soll die Nacht über bleiben? Eines ist sicher: in den Park möchte sie nicht zurück.
Ob sie wohl zu ihm...? Aber nein, selbst die sorglosen Blumenmädchen tun so etwas nicht. Aber er ist wirklich nett! Plötzlich erinnert sie sich an ein verstaubtes Buch über Mythen, dass sie vorhin in der Bibliothek entdeckt hatte und das ihr Interesse weckte:

„Wer verlor die Kraft zu schweben,
wer verließ das Reich der Blüte
dem wird nur eine Chance gegeben
zurückzukehren durch Gayas Güte.

Nur wen wahre Liebe fängt
dem wird der Weg zurück geschenkt.“


*****


Fabian fällt auf, dass irgendetwas nicht stimmt.
„Was ist los Jamila, bist du müde? Ich kann dich nach Hause bringen!“.
Genau das hatte sie befürchtet. Und um zu wissen, dass er sich bereits viel zu sehr um sie sorgt, reicht schon ein Blick in seinen ehrlichen, leuchtenden Augen.
Sie mag ihn, mag ihn wirklich sehr, aber sobald sie den Wunsch verspüren wird bei ihm zu bleiben... Was für ein dämlicher Zauber!

„Ja, ich muss gehen. Aber du musst mich nicht begleiten.“ Nur schnell gehen, ehe es zu spät ist.
„Mir ist klar, dass ich das nicht muss, aber ich bitte dich darum, es zu dürfen. Du bist zwar scheinbar nicht von hier, aber trotzdem kannst du dir wohl vorstellen, was hier für Menschen nachts auf den Straßen sind, oder?“.
Erneut flackert in der Erinnerung des Rosenmädchens das Bild des Alkoholikers im Park auf.
Ein kleines Stück Begleitung dürfte ja kein allzu großer Fehler sein, redet sie sich ein. Aber wohin überhaupt?
„Hast du denn ein Hotel oder so?“, erkundigt sich Fabian, während sie die Bar verlassen.
„Um ehrlich zu sein, nein. Ich bin er seit heute in der Stadt und habe noch gar nicht darüber nachgedacht, wo ich schlafen soll. Ich wollte eigentlich schon längst wieder zuhause sein.“ Und wie sie das wollte!
„Also ich bin erstens ein braver, zahmer Student und wohne zweitens in einer WG, mit einem nahezu gemütlichen Sofa. Also wenn du willst...“.
Sie ist unsicher, verhandelt mir ihrem Gewissen, doch irgendwie funken immer seiner unverschämt blauen Augen dazwischen und machen es ihr unmöglich vernünftig zu denken.
Außerdem steht es einem Blumenmädchen doch gar nicht an zu grübeln! Und schließlich waren Rosen ja auch noch nie Blumen der Vernunft....

*****

In seiner Wohnung angekommen, geht sie als erstes zum Fenster, öffnet es und sieht hinab auf die nur von blinkendem Neonlicht beleuchtete Stadt.
Warum die Menschen diese kantigen, die Luft und das Licht ausschließenden Gebilde als Wohnraum gewählt haben kann sie wirklich nicht verstehen. Die einzige Möglichkeit sich darin ch nur annähernd als Wesen Gayas zu fühlen sind diese gerahmten Versuche von Freiheit.

Da nimmt sie auf einmal einen vertrauten Duft wahr... Kann es denn sein..? Rosen!
Aber es ist nur ein welkender Strauch, der verschmäht im Innenhof liegt und ein letztes Mal mit seiner ganzen Seele, seiner Essenz die kühle Sommernachtsluft durchtränkt.
Wieder rinnen ihr Tränen die Wange hinab, da spürt sie eine Hand auf ihrer Schulter.
„Weinst du, Jamila? Schhhh...Alles wird wieder gute, Kleines.“
Er nimmt sie in den Arm und nun weint sie richtig.Bevor wieder etwas sagen kann, bittet sie ihn: „Stell mir keine Fragen, Fabian. Halt mich einfach nur. Ich will nicht hier fort, aber hab Angst zu bleiben. Ich kann weder vor, noch zurück. Ich falle und falle! Bitte halte mich einfach nur...“

Und er hält sie.
Er beugt sich zu ihr hinunter und als er sie zärtlich küsst, schmeckt er einen Hauch von Rosen. Behutsam küsst er ihr die Tränen aus dem Gesicht und dann stehen sie noch lange dort am Fenster.
In dieser Nacht schläft sie nicht auf dem Sofa. In dieser Nacht umhüllt der Mantel aus Rosenduft auch Fabian.

*****

Einen merkwürdigen Traum hat er gehabt. Dieses Licht, dieser Duft...Woran erinnert ihn das nur?
Aber egal. Alles egal, der Traum, jegliche Sorgen: er will jetzt nur eins sehen: sein Mädchen mit dem zerbrechlichen Lächeln.

Doch das Einzige was neben ihm liegt, ist eine wunderschöne, betörend duftende Rosenblüte.
Luise ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 13.04.2011, 15:42   #2
männlich Nöck
 
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Das ist doch eine wunderschön erzählte fantastische Geschichte!
Schade, dass bisher noch niemand etwas dazu gesagt hat!
Nöck ist offline   Mit Zitat antworten
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