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Alt 27.11.2021, 18:34   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Mein Vorgarten

Vor vierhundert Jahren hätte man mich auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Nicht allein wegen des dunkelbraunen Flecks zehn Zentimeter unter meiner linken Brust, obwohl er als Merkmal des Teufels für ein Todesurteil ausgereicht hätte. Sondern wegen meiner Sprachbegabung.

Ich habe das göttliche Talent, jegliche Sprache schnell aufzugreifen und mich darin zurechtzufinden. Woher auch immer diese Begabung stammt, habe ich nie zu ergründen versucht. Vielleicht bin ich autistisch veranlagt, denn eins ist sicher: In Mathematik bin ich eine Nulpe und glücklich, gerade mal mit der Abrechnung an der Kasse im Supermarkt klarzukommen.

Sprachen hingegen … kein Problem. Um 1600 herum – das war jenes Jahr, in dem sie Giordano Bruno anlässlich eines Festtages bei vollem Bewusstsein verbrannten, weil er die Idee hatte, der ganze Kosmos sei lebendig – wäre ich als Hexe gefoltert worden. Daumenschrauben, Streckbrett, Ziehen der Fingernägel, Verbrennungen, Gamaschenpressen … das ganze Programm.

Meine Verteidigung hätte ich wahrscheinlich in den zehn Sprachen vorgebracht, denen ich damals, mit vierundzwanzig Jahren, mächtig gewesen wäre. Das wäre natürlich kontraproduktiv gewesen, denn eine Frau meines Alters hätte nicht neben ihrem Dialekt fünf andere deutsche Dialekte und außerdem französisch, italienisch, spanisch und englisch sprechen können, wenn sie nicht mit dem Teufel im Bunde gestanden hätte. Menschen mit außerordentlicher Begabung waren nicht Gottes Schafe, sondern des Satans gehörnter Balg.

Heute laufe ich nicht mehr Gefahr, dass mir Feuer unter den Sohlen angezündet wird, denn meine Sprachkenntnisse sind geschätzt. Nur: Sie werden nicht gebührend bezahlt, sondern ausgenutzt. Oben sitzt ein zum Chef gekürter Papagei, der Bericht an einen Papagei schnäbelt, der über ihm sitzt und lieber liest statt zu sprechen, z.B. die Zeitungsseite mit den Börsenkursen. Darunter sitze ich und fasse Sprache in Sätze, die verständlich genug sind, in die Gehirne der Masse zu dringen und ihnen die Welt zu erklären. In vier gängigen Sprachen.

Wem diene ich eigentlich? Diese Frage kochte in den letzten Jahren wiederholt in mir hoch. Und jetzt ist Schluss mit lustig! Ich habe gekündigt. Stehe nicht mehr zur Verfügung. Bin nutzlos für die Gesellschaft geworden.

Im Wald habe ich abgeworfene Äste gesammelt und sie sie in meinem Vorgarten hübsch aufeinander geschichtet. Bald ist der Scheiterhaufen hoch genug. Und bald bin ich alt genug. Irgendwann ist alles genug, auch der Kanister Öl, den ich bis zur Leere darüber gießen werde. Und das Kaminstreichholz, so ein langes, das nicht wie die kurzen aus der kleinen Schachtel in Sekundenschnelle ausgeht. So ein langes Streichholz, das meinen zittrigen Fingern genügend Zeit lassen wird, den Stapel zu entzünden.

Danach werden wir verbrannt sein, ihr Äste, in denen noch Saft war, und ich, die Hexe, in der noch Blut war. Unser Geist wird in dunklem Rauch entschwunden und unsere Asche fahl zu Boden gesunken sein.
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Alt 28.11.2021, 14:16   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
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Hallo Ilka,

ein ziemlich heftiger Text. Ich hoffe, du überlegst dir das Vorhaben in deinem Vorgarten noch einmal es besteht kein Grund dazu, auch nicht, wenn man Begabungen hat, die man nicht mehr nutzen will. Ich behaupte mal, dass man das gar nicht kann. Wer lässt sein Talent links liegen? Ob andere davon profitieren oder nicht.

Ein kleiner Fehler hat sich eingeschlichen:
Zitat:
.Merkmal des Teufel
Merkmal des Teufels

LG DieSilbermöwe
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Alt 28.11.2021, 14:22   #3
weiblich Ilka-Maria
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Danke, Fehler ist korrigiert.

Klar kann man übe den Text diskutieren. Wäre er weniger heftig, gäbe es dafür keinen Anlass. Schönen Sonntag noch ... trotzdem .
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Alt 28.11.2021, 14:24   #4
weiblich DieSilbermöwe
 
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Danke, ich wünsche dir auch einen schönen Sonntag und schönen 1. Advent!
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Alt 29.11.2021, 11:02   #5
männlich Anaximandala
 
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Das waren noch Zeiten damals, eine schöne heile Welt... zumindest hätte niemand etwas anderes behauptet^^
irgendwie musste ich bei deinem Text an die letzten Worte des Marquis de Favras denken, nachdem er seine Verurteilung gelesen hatte und bevor er gehängt wurde, waren seine ziemlich coolen letzten Worte "Ich sehe, dass ihr drei Rechtschreibfehler gemacht habt"... so am Rande und ohne viel Themenbezug

Ich find den Text super, mir geht ein Feuerwerk an Möglichkeiten was ich schreiben wollen würde durch den Kopf, nur das meiste ist abwägig, unpassend oder auf Nebensächlichkeiten bezogen, also erstmal nicht von Bedeutung. Der Text ist stark im Ausdruck und die Bilder sind echt gut gezeichnet, angemessen, ausgewogen das ganze drückt in wenigen Worten viel aus (zumindest für mich)
Ich würd den Text jetzt einfach mal im Kontrast zu "ICH" als ein tolles düsteres Bild von künstlerischem Wert bezeichnen, das Ende ist hammerheftiger Wahnsinn (also, absolut positiv gemeint).

Ich finde deine Erwähnung vom Autismus interessant, bin mir aber nicht ein wenig unschlüssig... entweder hast du ein sehr konkretes, spezifisches Bild vom Autismus im Kopf, das von der Norm abweicht, oder ein falsches Bild.

Zitat:
Vielleicht bin ich autistisch veranlagt, denn eins ist sicher: In Mathematik bin ich eine Nulpe und glücklich, gerade mal mit der Abrechnung an der Kasse im Supermarkt klarzukommen.

Sprachen hingegen … kein Problem.
In der Regel ist es eigentlich so, dass Autisten ein sehr gutes Verständnis für Mathematik und Zahlen haben, es handelt sich ja um eine massive Übersteigerung der logisch abstrakten Intelligenz zu Lasten der emotionalen Intelligenz.
Das Sprechen auf der anderen Seite ist bei Autisten in der Regel zwar sachlich und öfters mal pedantisch, aber von vielen Schwierigkeiten begleitet durch eingeschränktes Einfühlungsvermögen und kaum Verständnis für sinnbildliche Aussagen oder sprachliche Besonderheiten.

AAABER das ist die Regel bei etwas, wo es keine Regel gibt. Jeder Autist ist anders, die Schablone hat nur einen Aspekt: es gibt keine sicher anwendbare Schablone.
Ich geh aber mal davon aus, dass du so eine Aussage nicht aus dem Bauch heraus in den Text einbaust, ohne irgendwas darüber zu wissen, also stört mich eigentlich nur das "denn eins ist sicher" ein wenig. Der Rest ist eigentlich zwar ein Widerspruch, aber Autismus ist so Komplex und im Spektrum gibt es so weniges, was sicher gesagt werden kann, dass ich einfach mal davon ausgehe irgendwo rennt genau der den du beschrieben hast rum
Aber vielleicht meinst du auch dich (tut mir leid wenn nicht und du den Gedanken total abwegig findest, aber ich leg die Möglichkeit einfach mal mit auf den Tisch), neben dem Autismus fällt mir erstmal nur noch Bruno auf, der Erwähnung findet, der Rest vom Text ist ein Monolog ohne viel Bezug nach außen, außer halt der Erwähnung des Rückzugs. Ich glaube in einem anderen Faden haben wir uns mal über Bruno unterhalten, zumindestens da sehe ich einen kleinen Bezug, an sonsten würde ich den aber tragisch finden
(nicht des Autismus wegen, das find ich cool und super spannend, seh mich da in manchen Punkten selbst drin und außerdem, irgendwer hat mal gesagt eine Prise Autismus könnte der Funke Genialität sein, der den Menschen nach vorne treibt, das erste Schneidwerkzeug wird vermutlich auch nicht in geselliger Runde am Feuer entstanden sein, sondern von jemandem der ein Stück anders war als der Rest)
ansonsten fallen mir nämlich zwei Dinge ins Auge, zum einen wirkt das lyrische ich ein wenig selbstbezogen und sich selbst überbewertend, oder übermäßig anpreisend, warum nämlich sonst die explizite und mehrfache Erwähnung von mehreren Sprachen und die Verteidigung wäre viersprachig gehalten worden, etc. Eine andere Option wäre aber auch, dass du einen verdammt coolen Bezug setzt zu Daniel Tammet, einem zehn Sprachen sprechenden Autisten, der sich auch mit Bruno beschäftigt, meine Google suche nach Giordano Bruno Autismus haben mich direkt zu einer Kritik seines Buches "Die Poesie der Primzahlen" geführt, ob nun bewusst gesetzter Akzent oder ein krasser Zufall, das flasht mich gerade etwas.

Zum anderen denke ich, dass das Ergebnis dem Selbstbild widerspricht, was nützt alle Genialität, wenn ausschlaggebend für das eigene Empfinden die Bedeutungslosigkeit im Angesicht von fehlender Wertschätzung ist. Entweder ich tue etwas für mich und jedes Ergebnis ist mir recht, weil ich es für mich getan habe, oder ich tue es für andere...
Aber das lyrische Ich stellt sich ja genau die Frage, wem diene ich, vermutlich ist es also sogar genau das, was du aussagen wolltest; ein wenig Selbstüberhöhung, ein wenig nicht gewusst, was Regel Nummer 1 im Leben ist (es ist deins), ein wenig Lagerfeuer im Garten.

Wie gesagt, ein toller Text

Lieben Gruß an dich
Anaximandala ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 29.11.2021, 11:11   #6
Ex-Fourwaystreet
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Hallo Ilka-Maria,

wie gut, dass Frauen und andere unerwünschte Personen
nicht mehr so schnell abgeschafft werden können,
wie manche Menschen das vllt. gerne hätten.

Dass das LI sein Talent im aktuelllen Leben nicht ausgeschöpft hat,
ist schade bis bitter.
Dass es daraufhin kündigt ist nachvollziehbar.

Als Resumee ahnte ich, dass es zukünftig öfter mal zündelt und sich fürs Feuer machen erwärmt. Dass es sich selber verbrennt, finde ich nicht nachvollziehbar.
Einen Witz sehe ich auch nicht ... .

Nichtdestotrotz ist es ein sehr interessanter Text.

VG

4WS
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Alt 29.11.2021, 11:45   #7
weiblich Ilka-Maria
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Ich weiß nicht, weshalb bei meinem Text der Begriff "Autismus" derart gewichtet wird, denn das ist überhaupt nicht das Thema. Für mich war er nur eine flapsige Nebenbemerkung, von der Protagonistin eher ironisch gemeint. Sie hätte auch anmerken können, ein Ausrutscher der Natur oder mit einer schellingsche Begabung gesegnet zu sein (Schelling konnte sich jeden Text, egal wie lang, nach nur einmaligem Aufsagen merken und wiederholen). Im Grunde ist das für den Text ohne Belang.
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Alt 29.11.2021, 11:51   #8
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Zitat:
Zitat von Fourwaystreet Beitrag anzeigen
wie gut, dass Frauen und andere unerwünschte Personen
nicht mehr so schnell abgeschafft werden können,
wie manche Menschen das vllt. gerne hätten.
Guten Morgen, Fourawaystreet,

mir scheint, diese Angelegenheit ist ohnehin gekippt. Inzwischen ist unsere Gesellschaft dabei, den Mann abzuschaffen bzw. die Männer in Plüschteddys zu verwandeln.

Danke fürs Lesen und Kommentieren. Freut mich, wenn der Text Resonanz findet, zumal ich ihn ziemlich schnell "runtergerattert" habe. Da weiß man nie, wie das Echo klingen wird.

Besten Gruß
Ilka
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Alt 29.11.2021, 12:53   #9
männlich Anaximandala
 
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Zitat:
Ich weiß nicht, weshalb bei meinem Text der Begriff "Autismus" derart gewichtet wird
Ich hab mir das schon gedacht, dass es für den Inhalt keine weitere Bedeutung hat, in dem Fall ist die Beschreibung aber einfach falsch. Dass ich den Autisten mit seiner Poesie der Primzahlen erwähne ist mehr Zufall, weil für mich Giordano Bruno und Autismus als einzige Informationen, die beiläufig, aber nicht notwendig waren, ins Auge gefallen sind... deshalb habe ich beide zusammen gegoogelt um mal zu schauen, was so an Ergebnissen kommt dabei bin ich dann bei ihm gelandet, der passenderweise 10 Sprachen spricht (wohl ein wichtiger Aspekt, zumindest wurde es fast als erstes erwähnt) und für den seine Primzahlen Poesie sind xD
Ich hab mich aber bemüht, nicht zu krass wegzudriften (wirklich) ich bin aber auch eher davon ausgegangen, dass es keine große Bedeutung hat, es hätte mich zumindest gewundert, aber es hätte ja eine geben können irgendwie finde ich einen Sinn, ob ich nun will oder nicht^^
Anaximandala ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 29.11.2021, 14:19   #10
weiblich Ilka-Maria
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Wenn du dich für Giordano Bruno interessierst, empfehle ich dir das Gespräch mit dem Philosophen Jochen Kirchhoff, der früher schon mal eine Biografie über Bruno geschrieben hat.

https://www.youtube.com/watch?v=M4iZpxtK6zM&t=1s
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