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29.06.2011, 10:44 | #1 |
Humpe
Humpe war fett und grau. Die dünnen Haare hingen ihm strähnig
ins Gesicht, und sein rechtes Auge sah matschig aus, als hätte er eine Bindehautent- zündung. Die drei Zähne oben und der eine unten waren längst nicht mehr weiß. Er roch nach Tabak, altem Schweiß und harzigem Holz. Wenn er sprach, was selten vorkam, rasselte seine tiefe Stimme wie eine Ankerkette. Ich mochte Humpe. An meinem siebten Geburtstag, als ich mit meinen Freundinnen auf dem Friedhof spielte, rettete er mein Leben: Die Mädchen – ich voran – liefen auf der drei Meter hohen Mauer in Richtung des großen Eingangstores. Als eine nach mir rief, drehte ich mich um, stürzte hinunter und wurde von den schmiedeeisernen Spitzen aufgespießt wie eine Silberzwiebel von einer Cocktailgabel. Auf Fragen zu antworten, war Humpes Sache nie. Als ich wissen wollte, ob ich sterbe, lächelte er nur. Ich spürte keinen Schmerz, aber seine Hände, die meinen Körper von unten stützten. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist die Sirene der Feuerwehr und dass ich dachte, es brennt. Für mich fiel der Rest des Schuljahres aus. Stattdessen lag ich mit einem asthmatischen und einem krebskranken Mädchen monatelang in einem Zimmer des Städtischen Krankenhauses. Wir hatten viel Spaß damit, ihre leidenden Großmütter nachzuahmen, wie sie uns in unseren weißen Metallbetten ansahen, den Kopf schüttelten und leise murmelten: „Armes, armes Kind“. Eines Tages kam Humpe zu Besuch. Er hatte ein Holzauto geschnitzt, das er mir zusammen mit einer Tafel Schokolade schenkte. Viel hatte er nicht zu sagen, eigentlich nur, dass das Spielen auf der Friedhofsmauer und dem ganzen Gelände verboten sei. Aber das wusste ich schon. In meiner neuen Klasse war ich die Älteste und die Einzige, die mit zwei großen Löchern in Brustkorb und Rücken angeben konnte. Mich störten sie nicht besonders, ich hoffte, die beiden vorderen würden mit Busen zuwachsen, hinten war egal. Die Jungs ließ ich zahlen, wenn sie die Löcher sehen wollten. Anfassen war nur für meinesgleichen. Ich fand keine neuen Freunde. Also stromerte ich alleine auf dem weitläufigen Friedhofsgelände umher, manchmal auch in der Nähe von Humpes Haus und der Sargschreinerei, die ihm gehörte. An warmen Abenden saß er in seinem Garten mit einer Flasche Bier in der rechten und einem Zigarillo in der linken Hand. Wie man einfach nur dasitzen, trinken und rauchen konnte, verstand ich nicht, also schlenderte ich rüber, um ihn zu „N´abend, Herr Humpe“, sagte ich. „Verschwinde, s’spät.“ Ich machte einen zweiten Anlauf und bedankte mich für das Holzauto. „S’recht“, antwortete er und ging ins Haus. Eine Woche später sah er mich am großen Brunnen, als ich für Oma Dierling gegen Geld Wasser schleppte. Was ich auf dem Friedhof zu suchen hätte, wollte er wissen, und ob ich schon solch schwere Gefäße tragen dürfte Mit bösem Blick sah er die Dierling an, die verlegen auf den Boden blickte. „Ich brauch das Geld.“ Humpe machte mit der Hand eine wegwerfende Bewegung und ging weiter. „Lass mal Kindchen, ich trage die Kanne selbst zum Grab“, sagte Frau Dierling, und ich war meinen Job los. Auch die anderen Witwen wollten meine Hilfe nicht mehr; die Sache mit Humpe hatte sich rasch im „Café Käthe“ rumgesprochen. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich dann bei Humpe anfing zu arbeiten. Es gab auch kein Geld fürs Fegen der Werkstatt. Aber um mein Essen brauchte ich mir keine Sorgen mehr machen. Humpes Vorratskammer war größer als ein Doppelgrab. Ich entdeckte darin so viele Dinge, die ich nur aus den Regalen im Supermarkt kannte – zum Beispiel: Frühstücksfleisch, Dosensuppen, Kekse, Milchmädchen Kaffeeweißer, Grieß, Hering in Tomatensoße, Englische Bonbons, Mayonnaise, Haferflocken, Schokolade, Tee, Sirup, Dosenpfirsiche, Remoulade in Tuben, Kakao und Marmelade. Als er mich das erste Mal in die Kammer schickte, stand mir vor Staunen der Mund offen. Da, wo ich wohnte, lag im Kühlschrank literweise Fideles Äffchen und drei Fläschchen Nagellack. Im Vorratsschrank hing ein Zettel: Versorg dich selbst. Du bist alt genug. Später zahlte Humpe mir Lohn. Acht Mark die Stunde – 1973 ein Vermögen. Ich erledigte alle Schreibarbeiten, weil Schreiben nicht seine Sache war. Telefonieren mochte er auch nicht. Wäschewaschen fand er überflüssig, ich aber liebte den Geruch von schäumendem Waschpulver. Irgendwann fingen die Leute an, über uns zu reden, und Jahre später hat er mir erzählt, dass eine Frau vom Jugendamt bei ihm war, um zu erfahren, was vor sich geht. Er hat ihr gesagt, das solle sie meine Mutter fragen, aber die war selten zuhause, deshalb hat das wohl nicht geklappt. Humpe fehlt mir. Jeden Tag. Und abends, wenn ich in seinem Garten sitze hinterm Haus, das jetzt mir gehört. Die Sargschreinerei habe ich aufgegeben, seit ich vom Schreiben leben kann. Vielleicht schreibe ich eines Tages eine Geschichte über uns. |
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