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Alt 07.04.2007, 17:46   #1
eijking
 
Dabei seit: 04/2007
Beiträge: 5


Standard Jan Eijking: Dunkle Geister sterben nicht

Dunkle Geister sterben nicht

Ich schaltete die bereits heißgewordene Lampe aus und legte mich in mein Bett. Die Decke war kühl, das Kissen war kühl und auch das Laken war kühl – denn alles hatte den ganzen Tag berührungslos dagelegen. Es war ein bisschen zu kühl, das alles. Ich zitterte, ein eisiger Schauer legte sich über meinen Körper. Meine Arme lagen auf der Decke. Schnell bedeckte ich die Arme, um weniger zu frieren. Schon wurde mir ein kleines Bisschen wärmer. Ich versuchte, mich zu entspannen, doch dieses alte Gefühl kam wieder. Es fühlte sich an, als wäre man in der Dunkelheit nie allein. Vielleicht stimmt das ja auch... Das war der Gedanke, der mich immer ängstlicher machte. Ich traute mich nicht mehr, die Augen zu öffnen, zitterte am ganzen Leib und schwitzte kalten Angstschweiß. Ich hatte auch Angst, es würde etwas schlimmes passieren, wenn ich mich bewegen würde. Also lag ich stocksteif und voller Angst in meinem schützenden Bett. Ich musste an eine Geschichte, die mir mein Großvater manchmal erzählte, denken. Sie handelte von einem alten Indianer, dessen Tochter ein kleines Mädchen zur Welt brachte. Der alte Häuptling durfte das Kind taufen. Er nannte es „Licht der Sonne“. Doch das Glück blieb nicht lange in der Familie: Das Mädchen starb noch als Säugling – keiner wusste, wie es dazu gekommen war. Es gab keinen ernsthaften Grund, doch das Licht der Sonne war trotzdem untergegangen. Der alte Mann war in tiefe Trauer gekehrt und sagte: „Es waren die dunklen Geister. Das Licht der Sonne hat uns ein Zeichen gegeben: Die dunklen Geister sind im-mer noch da. Sie gehen nie ganz fort.“
Ich hatte große Angst, als ich mir die Geschichte durch den Kopf gehen ließ. Vor den dunklen Geistern. Was sind dunkle Geister denn? In meinem Bücherschrank liegt ein dickes, großes und sehr schwereres altes Buch über die indianische Kultur. Ich habe es auch von meinem Großvater. Er sagte, er hätte es einst in seinen jungen Jahren, als er Amerika besuchte, von einem Indianer geschenkt bekommen. Mein Großvater interessiert sich zwar sehr für Indianer, aber ganz kaufe ich ihm die Geschichte des Buches nicht ab, da es auf Deutsch geschrieben ist. Aber in diesem Buch steht auch etwas über dunkle Geister: Sie sind das Unheilvolle, das Böse im indianischen Glauben. Wenn etwas dunkles oder trauriges oder gar etwas furchterregendes in der Geschichte eines Stammes geschehen ist, wird es immer den dunklen Geistern zugeschrieben. Sie haben zum Beispiel den Tod bewirkt, sie sind an allem Schuld. Ich wollte auch gerne einen dunklen Geist haben, dem ich alles in die Schuhe schieben könnte. Doch da war kein dunkler Geist in meinem Zimmer... oder doch? Vielleicht konnte ich ihm meine Angst schenken. Soweit, so gut, dachte ich, doch dann war da noch dieser schreckliche Albtraum: Ich befand mich in einem winzigen, sehr engen Raum. Eine Frau wiegte mich in ihren Armen, ich schrie, denn ich war ein Baby. Die Frau lächelte mich an und sagte etwas in einer mir völlig fremden Sprache. Sie saß im Schneidersitz auf sandigem Boden. Sie sah schön aus: Schwarze Haare, ein ledernes Kleid, mit Fell und wunderschön leuchtenden Perlen. Plötzlich erstarrte die Frau. Sie wiegte mich nicht mehr, lächelte nicht mehr und sagte kein Wort mehr. Vor ihrem Gesicht tauchte grauer Nebel auf, der ihren ganzen Kopf verhüllte. Aus dem Nebel blitzten mich zwei rote, böse und grausam blickende Augen an, dann tropfte eine goldene Flüssigkeit in die Mitte meiner Stirn. Vier Tropfen. Vier Tropfen des Todes. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Und wachte auf. Es stimmte, was der alte Häuptling aus Großvaters Geschichte gesagt hatte: Die Dunklen Geister leben tatsächlich immer noch.

(c) 2007 by Jan Eijking
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