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Alt 30.03.2007, 14:54   #1
HansSchnier
 
Dabei seit: 03/2007
Beiträge: 9


Standard Licht der Macht

Der Riss, der sich quer über das obere Drittel der Spiegelfläche erstreckte, zerteilte seine Stirn wie eine gewaltige Narbe, aus der Stirnfalten entsprangen wie Sprossen aus einem kahlen Ast. Schweißperlen bildeten sich an seinem immer noch vollen Haaransatz. Mit unruhiger Hand prüfte er die Rasur an seinem kantigen Kinn und lockerte den Krawatten-Knoten, mit dem er die Falten an seinem Hals zu kaschieren versucht hatte. Sie beengte ihn, alles beengte ihn, selbst die Luft, die auf ihn herabdrückte.
Nichts würde der heutige Tag an seiner Macht ändern. Nichts. Sein Verstand war immer noch so scharf, wie an jenem 19. Januar, als er mit dem Spiegel den Berg erklomm. So scharf, wie in all den Jahren unter den Sowjets, die das Dorf dank ihm überstand, ohne die heimatliche Identität zu verlieren. Er hatte gewusst, sich in der Bürokratie zu verstecken, ohne in ihr unterzugehen. Immer noch hatte er das Heft in der Hand, möge der Berg doch abgetragen werden. „Ich bin der Sonnenkönig“, sagte er seinem Spiegelbild wie einem Widersacher.

Die Vorbereitungen liefen bereits seit Wochen, die Sicherheitsmaßnahmen für die kleine Stadt waren abgeschlossen, das schwere Gerät in Position gebracht. Bereits seit drei Tagen wurde gefeiert, seit drei Tagen war er nicht zu sehen. Heute um Punkt 12, exakt 50 Jahre nachdem Ludwig Hochheim den Berg bestiegen hatte, sollte der Spiegel abmontiert werden, am Folgetag die Spitze des Berges mit einer gewaltigen Hydraulikzange zerkrümelt werden. Während hinter vorgehaltener Hand über die Gesundheit des mittlerweile 73-järhigen Bürgermeisters spekuliert und verletzte Eitelkeit diagnostiziert wurde, ließ er wichtige, unaufschiebbare Korrespondenzen mit der Heimat ausrichten. Doch diese Korrespondenzen umfasste 19 Briefe Richtung Deutschland, auf deren Antwort er lange gewartet hatte, aber mittlerweile nicht mehr warten wollte. Der Kontakt zwischen Hoffnungsthal, das Peking sehr viel näher lag als Berlin, und der deutschen Heimat war seine Erfindung. Das aus einer Zeitung ausgeschnittene und eingerahmte Foto Konrad Adenauers, das über seinem Schreibtisch hing, dumpfer Trotz gegenüber heimatlicher Ignoranz. In den letzten Monaten, seit Bekanntwerden der Pläne, den Berg abzutragen, resignierte der Sonnenkönig, was er hinter dem Grollen eines angeschossenen Raubtieres zu verstecken versuchte. Längst waren die Gedanken an die Zukunft durch Erinnerungen an das Vergangene abgelöst worden. Die Vergangenheit ermächtigte sich seiner, so wie sich die Zukunft unmerklich der Welt zu ermächtigen schien und plötzlich Gegenwart war.
Er betrachtete den Spiegel mit seinem hölzernen Rahmen und den Entenornamenten. Zur Verlobung hatte der Vater ihn der Mutter geschenkt. Der Spiegel war der einzige Besitzstand, der der einst wohlhabenden Familie nach den beiden Zwangsumsiedelungen 1914 und 1941 geblieben war. Von Petersburg waren sie zunächst nach Kasachstan und dann an die chinesische Grenze getrieben worden, wo eine Gruppe Deutscher sich schließlich in den Bergen ansiedelte und Hoffnungsthal gründete.

Die geschnitzten Enten um den Spiegel waren kaum noch zu erkennen, die Außenseiten zeigten immer noch die Spuren der Seile, mit denen sich der 23-jährige Ludwig Hochheim, der seit diesem Tag der Sonnenkönig war, den Spiegel in den frühen Stunden der zeitlosen Jahreszeit auf den Rücken gebunden hatte. Der Spiegel mit den Entenornamenten war der größte, den er aufzutreiben konnte, aber wegen seines Rahmens zugleich der schwerste. Trotzdem, er musste es schaffen, er musste bis zum Mittag die Stelle erreicht haben. Schon nach den ersten Metern scheuerten die rauen Seile von beiden Seiten an seinem Hals. Er hatte zwei Seile vertikal um den Spiegel gewickelt und zwei horizontal und alle Seilenden vor seiner Brust verknotet. Als er gegen Mittag sein Ziel erreicht hatte, war der Hals blutig gescheuert, das derbe Grau seines Mantelkragens vermischte sich mit dem pulsierenden Rot der Wunden. Doch das war ihm egal. Er schaute herab auf die kleine Stadt, die in diffuser Dunkelheit lag. Einzig Straßenlaternen durchbrachen das eisige Grau mit einem kalten Weiß, das jede Farbe überfrostete.
Vom Südplateau lugten die ersten zarten Strahlen der Sonne hervor und wärmten die unterarmbreiten Scheuerwunden, die satt leuchteten. Das letzte Mal hatten diese Strahlen vor drei Monaten, am 19. Oktober, den Marktplatz des Dorfes erreicht. Sechs Monate, bis zum 19. April, blieben sie verschwunden. In der Zwischenzeit stand die Sonne so tief, dass es ihre Strahlen nicht schafften, die Berge, die das Dorf umschlossen, zu überwinden.

Hoffnungsthal war in diesen Monaten ein anderer Ort, als er es im Sommer war, wenn wenigstens zur Mittagszeit die Sonne den Marktplatz mit Licht und Wärme speiste. War Polizist Hans Obmann im Sommer nahezu beschäftigungslos, brauchte er im Winter seinen schwerfälligen Sohn Niklas als Gehilfen. In jedem der sonnenlosen Monate erhängte sich mindestens ein Unglücklicher. Und nahezu jeder Bewohner war unglücklich, zimmerte er nicht gerade Särge oder war er kein Apotheker. Besonders die Frauen litten unter der latenten Hoffnungslosigkeit und der offenen Aggressivität ihrer Männer. Erklärten sie im Sommer noch nüchtern ihre Liebe, prügelten sie im Winter betrunken auf die Geliebte ein und wunderten sich im nächsten Sommer über die Narben und Wundmale am Körper der Frau. Die dunkle Jahreshälfte war eine Zeit ohne Gedächtnis. In ihr verschwand alles wie in einem schwarzen Loch, und blieb in ihr gefangen ohne je das Tageslicht zu erreichen. Dies brachte eine juristische Eigenheit in Hoffnungsthal hervor. Wurde ein Verbrechen im Winter verübt, das kein Kapitalverbrechen war und durch das Gericht als Folge der Sonnenlosigkeit anerkannt wurde, konnte die Haft auch nur im Winter vollstreckt werden. Mit den ersten Sonnenstrahlen wurden die Täter freigelassen, auch wenn die Haftstrafe noch nicht völlig abgebüßt war. Die ausstehende Haftzeit wurde ein halbes Jahre gestundet und im folgenden Winter zu Ende verbüßt.

Umständlich band Ludwig sich den Spiegel vom Rücken, wobei ihm die Seile aus den Händen glitten, die in dicke Wollhandschuhe gepackt waren. Der Spiegel stieß hart auf dem steinigen Untergrund auf. In das Geräusch des aufstoßenden Holzrahmens mischte sich ein leises Knacken. Er wagte nicht zu atmen, schloss die Augen einen Moment und dreht sich vorsichtig um, den Spiegel mit einer Hand aufrecht haltend. Ein Riss verlief im unteren Drittel des Spiegels, den er sich falschherum auf den Rücken geschnallt hatte – mehr nicht. Er wagte wieder zu atmen, sein Herz holperte wieder in ein gleichmäßiges Pochen, das immer schneller wurde. Noch hatte die Sonne nicht die Höhe erreicht, die es brauchte, damit sein Plan aufging. Windböen pfiffen ihm eisig durchs Gesicht.
Die letzten Monate war er regelmäßig in den Bergen gewesen, hatte den Lauf der Sonne und den Verlauf der Berge studiert, bis er den Platz gefunden hatte, an dem er jetzt erwartungsvoll stand. Mit niemanden hatte Ludwig, der in Hoffnungsthal zwar geachtet wurde, aber seiner Eigenbrötlerei wegen wenig Beachtung fand, seinen Plan geteilt. Er war von seiner Idee überzeugt und wollte allen Ruhm für sich, fürchtete, dass Helfer sich unberechtigt in den Vordergrund gespielt hätten und das Ansehen seiner Leistung verringert worden wäre.
Mit jedem Moment wurde Ludwig aufgeregter, trippelte auf der kargen Stelle des Hochplateaus nervös hin und her und hob schließlich den Spiegel seitlich von sich in die Höhe und bot dem Wind Angriffsfläche, die dieser gerne annahm. Doch Ludwig wankte nicht. Die kräftigen Sonnenstrahlen überwanden das gewaltige Südmassiv der Berge und ereichten das Westplateau, auf dem Ludwig gegen den Wind und das Gewicht das Spiegels ankämpfte. Die Strahlen fielen auf die Spiegelfläche und nach kurzem tarieren des schweren Spiegels in der widerspenstigen Luft leitete Ludwig den warmen Strahl auf den Marktplatz des Dorfes. Der Strahl durchschnitt die träge Dunkelheit, verlieh dem toten Grau Leben und prallte mit jeder Bewegung Ludwigs auf eine andere Fensterscheibe des Rathauses und wurde so ins Vielfache multipliziert. Der zuvor in künstlichem Grau illumierte Fleck in der Mitte des Dorfes erstrahlte plötzlich, als sei er nicht Ziel sondern Ursprung allen Lichts. Der Marktplatz füllte sich, dunkle Punkte bevölkerten die erleuchtete Fläche, weit entfernter Jubel durchriss die für Ludwig fast heilige Stille.

Den Mund des alten Mannes umspielte ein Lächeln. Die Feindseligkeit mit der er noch Momente zuvor sein Spiegelbild betrachtet hatte, war Hochmut gewichen. Er betrachtete nicht mehr einen alten Mann, dessen Zeit ablief, sondern den Jüngling, der Hoffungsthal das Licht schenkte.
Der Lärm auf dem Marktplatz, der dem gerade begonnen Abbau des Spiegels galt, vermengte sich mit den Erinnerungen des alten Mannes und er vernahm ihn als den Jubel, mit dem man ihm im Dorf empfangen hatte, nachdem er den Ort für Sekunden in Licht getaucht hatte. Da Ludwig bereits im Vorfeld Arbeitspläne entwickelt hatte, konnte unter seiner Leitung schnell mit dem Bau eines gewaltigen Spiegels begonnen werden.
Unter heftigem Widerstand des einzigen Friseurs, einem eitlen, krummgewachsenen Gecken, der eigentlich Horst Schönerde hieß, sich aber Horatio Belmonte nannte, und der von den Männern im gleichen Maße verlacht wurde, wie er über Einfluss auf die Frauen verfügte, wurden alle Spiegel des Dorfes zusammengetragen. Der Versuch Belmontes, zwei besonders schöne, kristallene Spiegel vor den Fängen Ludwigs zu verstecken, endete mit seiner Inhaftierung. So wichtig nahm man Ludwigs Vorhaben, und so groß war mit einem Mal der Einfluss des jungen Mannes, der auf eine harte Strafe gedrängt hatte. Nach einem kollektiven Liebesentzug der weiblichen Dorfbevölkerung erreichte diese aber zumindest, dass der Friseur im Gefängnis seinem Handwerk eine Stunde täglich nachgehen durfte.

Ein Großteil der eingesammelten Spiegel wurde auf das Plateau geschafft und dort zu einem gewaltigen Mosaik zusammengeführt, das befestigt auf einem dreh- und schwenkbaren Sockel dem Dorf das ganze Jahr über Mittagssonne schenkte. Zwei Bauernsöhne, mit denen Ludwig zur Schule gegangen und denen er gut gesinnt war, richteten nun täglich von Oktober bis April den Spiegel nach dem Lauf der Sonne aus. Zudem waren sie mit der Wartung der Anlage vertraut. Die übrigen Spiegel wurden auf dem Marktplatz angebracht, so dass die umgeleitete Sonne immer ein Ziel finden konnte, welches ihre Kraft ins Vielfache steigerte. Lediglich der Spiegel mit den Entenornamenten blieb frei von jeder Aufgabe.
Er fand seinen Platz im kleinen Heimatmuseum, wo er nebst einer wissenschaftlich anmutenden Darstellung des Lichtverlaufes und nachgestellten Bildern, die Ludwig mit dem Spiegel auf dem Westplateau zeigten, 22 Jahre ausgestellt worden war, bis er durch eine Kopie ersetzt wurde. Das Original wanderte wieder in den Besitz Ludwigs. Er war ein Geschenk des Heimatvereins zum 20. Dienstjubiläum ihres Bürgermeisters und Präsidenten.
Die Ämter hatte er genau zwei Jahre nach seiner Wanderung auf den Berg übernommen. Der 19. Januar war seitdem ein Feiertag. Sein Vorgänger, ein alter, auf seine preußische Herkunft pochender und bei Festakten Pickelhaube tragender 85-jähriger Narr, war zwei Wochen zuvor bei einem Unfall ums Leben gekommen. Der genaue Hergang ging in all dem Trubel um die feierliche Bestattung, für die Ludwig als designierter Nachfolger verantwortlich war, unter. Es ging einiges im Glanze des Sonnenkönigs unter, manch Gegner verschwand, Kritiker verloren ihre Lust an der Kritik und die Sonne beschien den Marktplatz an nahezu jedem Tag des Jahres.

Der ansteigende Jubel vor der Villa des Bürgermeisters wurde ihm unerträglich. Die vom Lärm vibrierende Luft ließ ihn vor dem Spiegel wanken wie ein morscher Baum bei Sturm. Die Turmuhr schlug die zwölf scheinbar auf seinem Schädel. Das Gerüst des Spiegel brach in der Ferne mit einem gewaltigen Krachen in sich zusammen, die nur für ihn spürbare Druckwelle warf ihn an die Wand, zwang ihn sich abzustützen. Ein dumpfer Schmerz durchschlug seine Brust. Das Licht des Spiegels schwand. Nacht brach ein.
HansSchnier ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.03.2007, 16:29   #2
Joana
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 424


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Joana ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.04.2007, 11:43   #3
HansSchnier
 
Dabei seit: 03/2007
Beiträge: 9


Joana,

danke für deine Hinweise.

Grundsätzlich ist der Text zwar weniger auf Spannung ausgelegt, als auf den Verfall eines alten Mannes, der sich krampfhaft am Vergangenen festhält, aber, da hast du recht, etwas mehr Spannung, ein Ausbau der Konflikte, würde der Geschichte gut tun.

Und, auch darin hast du recht, das Ganze ist an das italienische Bergdorf angelehnt.
HansSchnier ist offline   Mit Zitat antworten
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