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Alt 01.01.2018, 02:48   #1
männlich Blurryface
 
Dabei seit: 01/2018
Ort: Wichtig? Falls du es wirklich wissen willst: nahe München.
Alter: 29
Beiträge: 3


Standard Duschgedanken

Ich presse meine dröhnende Stirn gegen die weiß geflieste Wand. Der Duschstrahl ist inzwischen eiskalt geworden. Wie lange stehe ich hier schon? Vierzig Minuten? Eine Stunde? Vielleicht interessiert es mich aber auch nicht.

Auf meiner Zunge liegt noch immer der Geschmack von Rotwein und Erbrochenem. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und lasse etwas Wasser in meinen Mund laufen - spucke es in den Abfluss.

Ich sollte jetzt eigentlich am Ende sein; heulend am Boden kauern, die Arme um die Beine geschlungen. Sollte ich vielleicht. Vielleicht auch etwas zu melodramatisch. Liegt wahrscheinlich an zu vielen, klischeebeladenen Filmen.

Die bittere Wahrheit ist, dass ich keine Ahnung habe, wie man sich in solch "offensichtlich emotionalen Situationen" verhält. Konnte sowas noch nie.

Die Umgebung beginnt sich wieder um mich herumzudrehen. Ich stütze mich an der Wand ab, bis der Schwindel vorbeigeht – kneife die Augen zusammen.

Die feuchtkalte Keramik verschwindet unter meinen Handinnenflächen und wird zu sanft kratzenden Bartstoppeln, während meine Fingerkuppen durch seine kurz geschorenen Haare fahren. Mein Blick wandert zu seinen stahlgrauen Augen. Da ist es wieder, dieses Liebevolle, diese Sehnsucht. Ein Schauer überkommt mich; gehauchte Melancholie.

Aber es sind diese winzigen Makel, die Alex wirklich schön machen: Die verblasste, kleine Narbe über seiner linken Augenbraue – ein letztes Geschenk seines Vaters, nach seinem Coming Out – die beiden Leberflecke knapp unter seinem Ohr, das zuwachsende Loch seines Lippenpiercing, das er sich in seiner rebellischen Phase hat stechen lassen…

Dreimal hat er jetzt schon versucht mich zu erreichen; sieben Nachrichten geschickt. Alles was er von mir zurück bekommen hat, sind zwei kleine, blaue Häkchen. Wo er bloß gerade ist?

Es ist erst Ende September und trotzdem schon wahnsinnig frisch. An unserem Platz hat sich wirklich überhaupt nichts getan – wenigstens etwas, das Bestand hat. Die gleichen verrostenden Eisenbahnschienen, überall die leeren Bierdosen der halbstarken 14-jährigen, die hier freitags abhängen. Erinnerungen an die ganzen vergangenen Dramen. Schulstress, das erste Mal Gras, sein Rauswurf bei den Eltern, gemeinsame WG.

Ich spüre seinen flatternden Atem, seine Hände, die er so vorsichtig auf meine Hüfte gelegt hat, als könnte ich zerbrechen. Ich fühle durch meinen Hoodie den sanften Druck wie sie über meine Flanke nach oben wandern; bemerke wie er mich zu sich zieht – ich bin soweit weg von alledem.

Ein Weckerklingeln aus seinem Zimmer, dringt durch das Prasseln des Wasser und verstummt abprubt. Er ist also da. Wo sollte er auch sonst hin? Habe gar nicht gemerkt, wie er gekommen ist. Wette er hat auch nicht geschlafen - so schnell wacht er sonst nie auf.

Seine Lippen sind kühl von der Abendluft; ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hätte. Er hat die Augen geschlossen. Unsere Nasenflügel berühren sich kurz. Ich bin so verdammt fremdgesteuert!
Meine Zungenspitze streift kurz über seine untere Zahnreihe. Ich streichle mit dem Daumen seine Wange, versuche sowas wie "Zärtlichkeit" aufzubauen. Scheiße, ist das mechanisch…

Ein pochender Schmerz jagt durch meine linke Hand. Der Schnitt der Flaschenscherbe zieht sich nur noch als blassrosa Linie über meine bleiche verschrumpelte Haut. Hat mir das ganze Hemd versaut. Wusste gar nicht wie krass sowas bluten kann. Ich balle eine Faust, bis die Knöchel weiß werden und muss mir ein irres Grinsen verkneifen, als mein Gehirn mit Reizen durchflutet wird. Fast freue ich mich über den Schmerz.

Bin ich so gefühlstaub geworden? Er bedeutet mir doch etwas, oder? Er ist doch derjenige, den ich will. So lange wollte...

Manchmal habe ich Angst. Angst, dass mir nichts mehr wichtig ist. Ich ertappe mich immer öfter dabei, wie ich mir irgendwelche Gefühle einrede, weil ich der Meinung bin, dass ich sie jetzt eben fühlen müsste. Oder das sie da sind, aber ich keinen Zugriff darauf habe, oder... Scheiße, was weiß ich. Ich glaube ich bin einfach nur ein Psycho.
Dabei war ich es doch, der um ihn gekämpft hat. Der stur darauf beharrt hat, dass das zwischen uns mehr als "nur" Freundschaft ist. Unzählige Male haben wir schon diskutiert, sogar gestritten. Unzählige Male kam er immer wieder mit den gleichen leeren Ausreden und jedes Mal habe ich es mit einem wissenden Augenzwinkern abgetan.

Alex umarmt mich fester, ganz so als wolle er mit mir verschmelzen, als würde irgendeine Last von ihm abfallen. Ich kann nicht atmen. Wieder diese undefinierbare Mischung aus Verzweiflung, Trauer und Schönheit, die sich in meine Brust krallt, während er meinen Hals küsst.

Es kann nicht sein, dass ich mir das alles nur eingeredet habe. Warum denke ich sonst ständig an ihn? Warum bin ich sonst so eifersüchtig? Warum vermisse ich ihn so brutal, wenn er nicht da ist - ja, selbst wenn er da ist?
Manchmal befürchte ich, dass mich nichts mehr berühren kann.

Langsam löst er sich. Gleitet von mir ab, zusammen mit seinem Geruch und seiner Wärme. Schaut mich einfach nur an. Ein Ausdruck von purem Glück und Erleichterung, vielleicht auch ein wenig Verletzlichkeit. Das ist doch alles so surreal! Der Druck aus meiner Brust kriecht über meinen Nacken in meinen Schädel; presst so fest auf die Augen, dass ich glaube gleich losheulen zu müssen.

Da wäre das "Glück" doch greifbar gewesen. Und wieder muss ich so passiv sein. Wie so eine Marionette.

Ich hasse mich für meine Gedanken. Das ist doch echt, oder? Was will ich denn eigentlich noch. Ich hasse mich für diese ganzen Zweifel. Ich hasse mich für diese Tage, an denen ich niemanden an mich heranlasse, jeden auf Abstand halte. Ich habe doch auf diesen beschissenen Augenblick hingearbeitet, ihn mir verdient. Warum distanziere ich mich JETZT davon?

"Irgendwie bin ich in letzter Zeit ziemlich verliebt in dich."
Meine Kehle trocknet aus. Keine Spur von Unsicherheit klingt aus seiner Stimme heraus - maximal ein wenig Nervosität. Wobei, nicht mal das. Er weiß ja selber, dass das jetzt nicht die große Offenbarung ist.
Ich will ihm antworten. Ich will ihm jetzt sagen können, was ich schon so oft gesagt habe. Er lächelt verlegen, fast schelmisch. Ihm ist bewusst wie lange ich das von ihm hören wollte. Er kennt unser Spiel. Es macht ihm genauso viel Spaß wie mir.

Gott muss ich dämlich aussehen, wie ich da wie gelähmt mit offenem Mund dastehe.
Sein Lächeln verschwindet aus meinem Sichtfeld, als ich mich abwende und gehe.

Ich drehe das Wasser ab; spüre wie die Tropfen sich von meinem Körper lösen, spüre wie er vor der Tür auf mich wartet.
Ich spüre es, aber ich fühle nichts.
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Lesezeichen für Duschgedanken

Stichworte
liebe, taubheit, unsicherheit

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