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Alt 04.04.2018, 11:08   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Angeklagt

Zusammengesunken saß der Angeklagte neben seinem Verteidiger. Durch den Gerichtssaal flogen Worte, die er nicht wahrnahm. Er wusste auch so, wovon sie handelten, denn er hatte die Bilder, die sie für die Verhandlung heraufbeschworen, ständig vor Augen, im Wachen und im Träumen.

Er war ein ganz normaler Mann gewesen, der täglich seine Arbeit verrichtete. Bis zu jenem Vormittag, an dem er zu dem Monster wurde, als das er sich fühlte.

Es war kurz vor elf Uhr, und er lag gut in der Zeit. Das war selten der Fall, denn meistens stapelte man ihm so viele Pakete in den Wagen, dass er auf die Mittagspause verzichtete, um abends nicht allzu spät bei seiner Familie sein zu können.

Er war immer zu spät, egal, ob er um sieben, acht oder neun Uhr zu Hause war. Seine Frau nörgelte und stellte ihm missmutig das aufgewärmte Essen auf den Küchentisch. Über die Kinder, die vor dem Fernsehgerät hingen und sich nicht für ihn interessierten, sprach sie längst nicht mehr. Er kam sich vor wie ein Fremder unter dem eigenen Dach.

Doch heute lag seiner Mittagspause nichts im Wege. Noch eine Stunde, und er konnte eine Zeitlang ausspannen und trotzdem pünktlich Feierabend machen. Vielleicht hatte dann noch der Blumenladen an der Ecke auf. Wie lange war es her, ...

Er wuchtete das schwere Paket die Stufen hinauf bis in den zweiten Stock, stellte es ab und klingelte an der Tür. Eine Frau öffnete ihm. Sie war offensichtlich spät aufgestanden oder hatte den Vormittag verbummelt, denn sie trug einen Morgenmantel und hielt eine glimmende Zigarette in der Hand. Ob er das Paket reinbringen könne, fragte sie. Er nahm es und trug es in den Flur. Als sie den Empfang unterzeichnete, verrutschte eine Seite ihres Morgenmantels und legte einen großen Teil ihrer linken Brust frei.

Ihm war, als habe in diesem Augenblick jemand den Hebel in seinem Kopf umgelegt. Er schlug die Eingangstür zu und gab der Frau einen Stoß, dass sie zu Boden fiel. Als sie seinen schweren Körper auf sich spürte und sich wehrte, schlug er sie, bis sie nachließ und in Tränen ausbrach. Dann vergewaltigte er sie.

„… schlug sie, bis sie nachließ und in Tränen ausbrach. Dann zwang er sie zum Geschlechtsakt …“ hörte er wie von fern die Worte des Anklägers, ehe die Bilder aus der Zeit zwischen zehn Uhr fünfzig und elf Uhr wieder die Oberhand gewannen.

Seine Frau war nicht zur Verhandlung erschienen, wofür er dankbar war. Auf die Vernehmung des Opfers hatte das Gericht verzichtet, wofür er ebenfalls dankbar war.

Der Richter belegte ihn mit einer milden Strafe, die auf Bewährung ausgesetzt wurde, weil er nicht vorbestraft war.

Sein Arbeitgeber kündigte ihm fristlos, seine Frau ließ sich scheiden, und seine Kinder sagten sich von ihm los. Manchmal wird er von Journalisten für ein Interview gesucht, die ihm ein paar Euro zustecken, damit er ihnen Stoff über die Härten im Alltag eines Auslieferungsfahrers liefert. Sie haben es nicht schwer, ihn auf einem der Plätze zu finden, auf denen die Obdachlosen in lockeren Freundschaften lungern.

04.04.2018
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Alt 04.04.2018, 17:22   #2
männlich Heinz
 
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Hallo Ilka-Maria,
eine kurze Geschichte,auf der ich wie auf einer Eisbahn langgeschliddert bin.
Kommt da so etwas wie Verständnis, gar Mitleid mit dem Angeklagten auf?
Ich versetze mich in die Jahre zurück, in der ich als Schöffe mit einem zweiten Schöffen und einem Richter oder einer Richterin nach der Anklageverlesung, der Vernehmung des Täters und der Zeugen, den Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidiger im Richterraum saß und nun ein Urteil zu finden war.
(Wenn der Richter/die Richterin auf die Befragung des Opfers verzichtet hat, heißt das für mich, dass der Angeklagte im vollen Umfang geständig war).
Die Fakten sind klar: Der Täter kommt nicht unter einem Jahr Freiheitsstrafe davon (Mindeststrafe) - er hat eine Frau unter Anwendung von Gewalt vergewaltigt. Das Gericht (Richter und Schöffen) wird als strafmildernd ansehen, dass der Angeklagte bis zu seiner Tat nie straffällig gewesen ist, dass er voll geständig war (und damit dem Opfer eine peinliche Befragung ersparte) und (vielleicht) eine günstige Prognose eines Gutachters hinsichtlich einer Wiederholungsgefahr vorlag.
Das Procedere ist: Zuerst geben die beiden Schöffen ihre Meinung kund, bevor der Richter/die Richterin ihre Meinung über das Strafmaß abgibt.
In dem von Dir geschilderten Fall muss einer der Schöffen oder beide beim Strafmaß unter zwei Jahren gelegen haben. Jetzt wird es kompliziert: Wenn einer für weniger als zwei Jahre Freiheitsstrafe stimmt, der zweite Schöffe für, sagen wir drei Jahre votiert, kommt es auf den Richter an. Stimmt der auch für weniger als zwei Jahre, kann die unter zweijährige Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden.
Jetzt kommt der Angeklagte - wie in Deinem Fall - mit einem Jahr davon und seine Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt.
Das meine ich mit der glatten Eisbahn: Viele werden nun sagen, "das" sei viel zu wenig.
Kann es sein, dass die Schöffen und der Richter vom Lebenslauf, den Umständen, der Geständigkeit des Täters "milde" gestimmt wurden?
Wer "nur" die Fakten sieht: Gewalttätiger, körperlich überlegener Mann, Vergewaltigung ist ohne Kenntnis der näheren Umstände schnell mit dem Urteil bei der Hand: Schwanz ab - mindestens fünf Jahre - hohe Geldstrafe zugunsten des Opfers.
Ach wie schön, wenn das alles so einfach wäre!
Du legst mit Deiner Story geschickte Fallen aus.
Ich bitte Dich der Genauigkeit halber, aus "Richter" besser "Gericht" zu schreiben. Die drei Personen, die das Urteil festlegen, sind gleichberechtigt (und so können die beiden Schöffen auch einen Richter "überstimmen").
Gruß,
Heinz
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Alt 04.04.2018, 17:57   #3
weiblich Ilka-Maria
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Völlig klar, Heinz. Ich war zwanzig Jahre lang in der Juristerei zu Hause und weiß deshalb, dass das letzte Wort beim Richter liegt, nicht beim "Gericht". Deshalb habe ich in meiner Geschichte sowohl die psychologische Wertung wie auch das Urteil vage gehalten.

Ich weiß auch, dass ein Verteidiger Prozesse gewinnen kann, in denen zunächst alles dagegen spricht, wie es mein Boss zu seiner positivem Überraschung erfahren hat. Oder dass mir ein Anwalt, der ein erstinstanzuliches Urtei überprüft hat, sagt: "Dieses Urteil hätte so nie ergehen dürfen."

Richter sind wie Fußball-Referees: Du weißt nie, mit wem du es zu tun hast.

Ich weiß inzwischen, was ich von unserem sogenannten Rechtsstaat zu erwarten habe. Vertrauen trägt einen anderen Namen.
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Alt 04.04.2018, 18:35   #4
männlich Heinz
 
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bei aller Skepsis, für die es zahlreiche Gründe gibt, die ich mit Dir teile, musst Du mir dennoch gestatten, dass ich Dir widerspreche.
Formal hast Du natürlich recht: Der Richter (ich spreche hier von der Zusammensetzung: 1 Richter, 2 Schöffen beim Amtsgericht) hat das "letzte Wort". Entschuldige, aber das hört sich so an, als hätte er nicht nur das "letzte" Wort, sondern sozusagen das entscheidende Wort.
Bei der Urteilsfindung hat das 1. Wort einer der Schöffen, das 2. Wort der zweite Schöffe (wir hielten uns immer daran, dass zuerst die Schöffin, dann der Schöffe "dran" war, das 3. Wort der/die Richter/in.
Und: Das Wort des Schöffens hatte das gleiche Gewicht wie das des anderen und das des Richters/der Richterin. Ich erinnere mich eines Falles, in dem beide Schöffen der Ansicht waren, dass der Angeklagte für mindestens fünf Jahre hinter Gitter gehörte. Die Richterin amchte lediglich darauf aufmerksam, dass das Amtsgericht kein Urteil in dieser Höhe verhängen kann und der Fall an die nächste Distanz abgegeben werden müsse. Fast wörtlich: "Wenn wir ihm vier Jahre geben, dann hat er die. Bei Abgabe an die nächste Instanz fängt der ganze Prozess - Vernehmung der Opfer usw. - von vorne an." Weder die Schöffin noch ich ließen uns davon überzeugen und der Fall wurde abgegeben. Da der Täter auch in der nächsten Instanz voll geständig war, wurde den Opfern die ganze Tortur erspart und der Täter bekam 6 Jahre aufgebrummt.
Auch jahrelange Tätigkeit in der Justiz gestattet keine Einblicke in den Ablauf der Urteilsfindung und ich darf natürlich nicht das Aktenzeichen des Falles bekannt geben.
Gruß,
Heinz
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Alt 04.04.2018, 18:52   #5
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Heinz, hör mir auf mit deinem Einzelfall-Beispiel und deinem Schöffen-Gesonne, in dem du einmal am Rädchen mitdrehen durftest.

Ich habe zig Fälle erlebt, in denen Recht gesprochen wurde, das mit Recht nichts zu tun hatte.

Da war der Fall eines eindeutigen Klauens von Daten, die ein Manager zum nächsten Arbeitgeber mittrug und zum Einsatz brachte. Doppelanklage gegen den Manager und den neuen Arbeitgeber. Beide gingen mit Freispruch aus der Sache raus, obwohl es sich um nachweisbaren Datenklau handelte.

Ein Bekannter von mir wurde einer Tätlichkeit bezichtigt, die er nie begangen hatte. Hintergrund: Die Nachbarn hielten zusammen und traten als Zeugen auf. Er selbst hatte keinen Gegenzeugen. Das reichte zu einer Verurteilung.

Ich selbst hatte einen Prozess in Sachen Mietrecht geführt, in dem es um den Nachweis einer ordentlichen Betriebskostenabrechnung ging. Mein Fehler war, übersehen zu haben, dass der Vermieter der Wohnung eine staatlich geführte Institution war, aus deren Einnahmen die Ruhestandsgehälter von Beamten gezahlt wurden. Ich wurde abgeschmettert, obwohl ich dem Verständnis eines Anwalts nach im Recht gewesen war. Die Richterin war jedoch der verlängerte Arm des Staates gewesen.

Du magst nach deinen Erfahrungen mit der DDR vieles in der Bundesrepublik relativiert, wenn nicht gar durch die rosarote Brille sehen, aber wenn du glaubst, dass hier unverbrüchliches Recht gesprochen wird, bist du auf morschem Holz unterwegs. Vor allem ist es mit der sogenannten "Unabhängigkeit der Justiz" nicht weit her.
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Alt 04.04.2018, 19:29   #6
männlich Heinz
 
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hast Du meinen ersten Satz überlesen?
"bei aller Skepsis, für die es zahlreiche Gründe gibt, die ich mit Dir teile...".
Halt mich doch bitte nicht für blauäugig. Meine Erfahrungen mit der DDR-Justiz haben z.B. keinen Dozenten der Rechtswissenschaften interessiert und haben mit meiner Einstellung zur bundesdeutschen Justiz - und ich glaube Dir Deine geschilderten Fälle aufs Wort - nichts zu tun.
Lohnt es sich, über die Tatsache zu streiten, dass man vor Gericht genauso in Gottes Hand ist wie auf hoher See?
Heinz
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Alt 04.04.2018, 19:35   #7
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Zitat:
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Lohnt es sich, über die Tatsache zu streiten, dass man vor Gericht genauso in Gottes Hand ist wie auf hoher See?
Nee, lohnt sich nicht, weil das Urteil über meinen Protagonisten in meiner Geschichte völlig nebensächlich ist. ich hätte ihn auch für Jahre einbunkern lassen können.

Wesentlich diskussionwürdiger wären die Umstände seines Alltags und weshalb sich sein Ausbruch ausgerechnet so und nicht anders ereignet hat.
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Alt 04.04.2018, 20:04   #8
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Hallo Ilka-Maria,
ja - und genau das fand ich spannend! Die Höhe des Strafmaßes ist tatsächlich nebensächlich. Was ich mit dem Glatteis meinte, ist die Schwierigkeit, ein "gerechtes" Urteil zu finden. Und - ohne falsches Mitleid - man tut sich schwer, einerseits dem Opfer gerecht zu werden, andererseits die Umstände, die zur Tat führten, angemessen zu berücksichtigen.
Gruß,
Heinz
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