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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 28.01.2010, 17:07   #1
Kimura
 
Dabei seit: 09/2008
Beiträge: 8

Standard Mein Name ist David

Mein Name ist David.
Ich kam Anfang der 70er Jahre als Letztes von drei Kindern zur Welt. Meine Eltern sind der ehem. Berufssoldat und Journalist Peter Schroeder ( Oberst in Reserve, + mit 50 ) und die ehem. Buchhändlerin und Hausfrau Christine. Meine Schwestern Michaela ( 10 Jahre älter ) und Kerstin ( 11 Jahre älter ) erfreute meine Geburt wenig. Sie bedachten das „überflüssige, kleine Ding“ mit einer Eifersucht, die mir zum Teil bis heute nachhängt. Ich war, das bezeugen Fotos und Aussagen aller Verwandten, ein echtes Bilderbuchbaby – und bis zum Alter von zwei Jahren ein kerngesundes Kind. Dann erhielt ich die Pockenschutzimpfung. Diese löste zwei Tage später prompt einen heftigen, epileptischen Krampfanfall aus. Es passierte Samstag nachmittags ( meine Geschwister waren bei Freundinnen und mein Vater noch auf der Arbeit ) und meine Mutter, die überhaupt nicht wusste, was los war, rief den Rettungswagen. Dann rannte sie in ihrer Panik mit mir - den wild zuckenden kleinen Kerl in den Armen – laut um Hilfe schreiend auf die Straße. Ein Nachbar eilte hinzu und hielt seinen Damen zwischen meine Zähne, damit ich mir nicht die Zunge abbiss. Er hielt mir später diese Situation noch oft vor, als ich ein junger Erwachsener war - stets in leicht vorwurfsvollem Ton. Schließlich hätte ich ihm damals als Zweijähriger bis auf den Knochen blutig gebissen, weswegen er dort eine Narbe habe. Mein Vater, der damals von der Arbeit kam und gerade in die Straße einbog, hörte das Geschrei meiner Mutter ebenfalls und lief vor lauter Angst so schnell er nur konnte. Kurz danach traf der Rettungswagen ein.
Ich gehörte zu den letzten Kindern, die in Deutschland diese Impfung erhielten. Nachdem sich nämlich Vorfälle wie dieser häuften, wurde die Pockenschutzimpfung gesetzlich abgeschafft.
Auf den Tag genau zwei Monate später erlitt ich einen zweiten, sehr heftigen Anfall, der mich dieses Mal im Schlaf überraschte. Daraufhin wurde ich medikamentös eingestellt, um eine mögliche Epilepsieerkrankung im Keim zu ersticken. Also verabreichte man mir vom zweiten bis zum elften Lebensjahr starke Erwachsenenpsychopharmaka und Antiepileptika. Damals – Anfang der 70er Jahre - gab es eben noch nichts Spezielles für Kinder. Diese Medikamentenkombination war so stark, dass ich meine komplette Kindheit ( bis zum elften Lebensjahr ) wie im Rausch verbrachte. Ich war sprichwörtlich „auf Droge“. Auch wenn mir das die wenigsten Menschen glauben, so war es rückblickend für mich, als hätte ich diesen Zeitpunkt betreffend einen totalen Gedächtnisverlust, eine regelrechte Amnesie. Nur ganz selten blitzt eine kurze Erinnerung auf, ganz flüchtig und so, dass ich keinen Bezug zu ihr hergestellt bekomme. Daher muss ich mich im nachfolgenden auf das verlassen, was mir von Familienangehörigen, Lehrern, Nachbarn und sonstigen „Zeitzeugen“ erzählt wurde, bzw. mir selbst von Fotos und Super 8 – Aufnahmen bekannt ist: Unter dem Einfluss der Medikamente verweigerte ich die Nahrungsaufnahme, aß nur unter Zwang. Ich verlor immens an Gewicht, so dass sich die Haut beinahe nur noch über die Knochen spannte und ich – und das ist jetzt nicht abfällig gemeint – fast aussah, wie eines dieser hungernden Kinder aus der Dritten Welt. Zudem benahm ich mich zwei Jahre lang wie ein kleines, gefangenes Tier. Ich bewegte mich wie ein Äffchen. Kletterte an Schränken hoch oder versteckte mich stundenlang total verängstigt, unter dem Küchentisch, wo ich mit weit aufgerissenen Augen vor mich hinstarrte ( Angstzustände durch Medikamente ) und wie am Spieß zu schreien begann, wenn sich jemand näherte. Ich war das Gespräch des ganzen Dorfes, das „Wilde Kind“, das offensichtlich geistig behindert sein musste. Natürlich hatte ich keine Freunde. Als die Medikamente wenigstens so umgestellt wurden, dass die Angstattacken und Horrorvisionen aufhörten und ich in Kindergarten und Schule geschickt werden konnte, begann mein Martyrium erst wirklich.

Kinder können grausam sein. Natürlich merkten die anderen Kinder sofort, dass etwas mit mir nicht stimmte. Und da ich - stark gehemmt durch die Medikamente – fast nie sprach, noch mich wehrte, war ich schnell das perfekte Opfer. Ich wette, ich habe vom Kindergarten bis zum Ende der Grundschule mehr Prügel kassiert, als mancher Berufsboxer. Ständig wurde ich geärgert, geschlagen, beklaut, angespuckt, getreten und beworfen. Es gibt Fotos von mir, da ist mein weißhäutiger, unterernährter Kinderkörper nur so von Blutergüssen, Schrammen, Abschürfungen, etc. übersät. Ich war der Punchingball für alle aggressiven Kinder ( die ich offenbar wie ein Magnet anzog ), besonders für solche, die zuhause von den Eltern geschlagen / misshandelt wurden.
Im Nachhinein bin ich froh, dass ich mich selbst nicht mehr an diese Zeit zu erinnern vermag. Wer weiß, wie ich heute so „drauf“ wäre, stünde dies mir noch voll im Bewusstsein. Zweimal hatten mich die Kinder so brutal getreten, dass mein ganzer Unterleib blutig war. Die Eltern der betroffenen Kinder äußerten damals gegenüber meinen Eltern, es „wäre meine eigene Schuld, denn ich hätte das provoziert“. Dabei hätte ich nicht mal „Scheiße!“ sagen können, wenn mein ganzer Mund damit voll gewesen wäre.
Im Schulunterricht war ich zwar körperlich anwesend, aber nickt aktiv. Das Mitarbeiten fiel mehr sehr schwer, Sinnzusammenhänge erkennen erforderte viel Zeit. Schnell war ich in der Schule als „Freak“, „Alien“ oder „Psycho“ bekannt: superdünn, blass, fast weißhäutig, weißblondes Haar und ein immer irgendwie abwesender, leerer Blick aus blauen Augen ( wie Amy Winehouse auf Droge ), machten mich - wie bereits erwähnt - schnell zum beliebten Spott – und Prügelobjekt.
Das änderte sich schlagartig, mit dem Auftauchen eines neuen Jungen in der Klasse: Thomas Rath. Er kam aus einem sehr problembeladenen Elternhaus und war Scheidungskind – heute, angesichts der Häufigkeit, sicher nichts Ungewöhnliches mehr, doch zu dieser Zeit ( Anfang der 80er Jahre ) noch eine verpönte Sensation. Aufgrund seines Durchsetzungsvermögens, seiner ansprechenden äußeren Erscheinung, und seiner Sportlichkeit wurde er schnell von den anderen akzeptiert und erfreute sich großer Beliebtheit. Schon nach kurzer Zeit wurde er zum Klassensprecher gewählt. Aus irgendeinem Grund möchte er mich, ob es aus Mitleid war oder Faszination, weiß ich nicht. Jedenfalls war er der Erste, der mit dem „Freak“ Kontakt aufnahm und mich prompt unter seinen Schutz stellte. Wer mir zu nahe kam, wurde zurückgestoßen oder erhielt – wenn es sich gar nicht vermeiden ließ - Schläge. Er begriff sehr schnell, dass ich in meiner eigenen Welt lebte. Irgendwie schaffte er es, Zugang zu dieser Welt zu bekommen, so dass er der erste Mensch war ( damals war ich zehn ), mit dem ich wirklich kommunizierte. Selbst mit meinen Eltern redete ich nur selten, und nie von mir aus, nur auf Ansprache. Thomas war auch der Erste, der mich berühren durfte ( an Händen, am Arm ). Wenn mich meine Mutter umarmen oder drücken wollte, fing ich an zu schreien wie ein Tier. Keiner der Erwachsenen konnte mir später erklären woran das lag, aber trotz aller offensichtlicher Unterschiedlichkeit lagen wir zwei Jungen auf einer Wellenlänge: Thomas, der Klassenbeste, der Sportheld der Schule und ich, der „Freak“, der „Alien“. Auf seine Ansprachen reagierte ich, führte sogar richtige kleine Unterhaltungen. Zum ersten Mal sah man mich auch lächeln. Er entdeckte auch, dass ich ein Talent besaß, Dinge zu imtieren, dass ich teilweise täuschend echte Tierlaute nachahmen konnte, oder auch die Stimmen oder Sprechweisen anderer Kinder. Auch entdeckte er, dass ich gut malen konnte und dass ich mit den Bildern ausdrückte, was ich fühlte und wollte. Ebenso, dass mich Musik unheimlich entspannte.
Doch dann zog er – ohne plötzliche Vorankündigung – fort, weil seine Mutter woanders zu arbeiten begann. Ich habe nie mehr etwas von ihm gehört.

Nachdem er weg war, zog ich mich wieder genauso in mich zurück, wie zuvor.
Erst als ein Jahr später die Medikamente völlig abgesetzt wurden, veränderte sich bei mir drastisch etwas.

Es war, als hätte man einen Schalter umgelegt. Die Medikamente, die mich zuvor so extrem gehemmt hatten, die all die Jahre meine Persönlichkeit „eingesperrt“, „weggeschlossen“ hatten, fielen weg und das große Erwachen begann. Die Erwachsenen von damals ( Lehrer, Nachbarn, Familie ) sagen übereinstimmend, als erstes habe sich mein Blick verändert. Plötzlich hatte ich etwas Interessiertes, Wachsames und Neugieriges in den Augen. Ich war in der Tat plötzlich an allem interessiert, als müsste ich jetzt alles nachholen, alles entdecken. Ich wurde selbstsicherer, mein Stottern verschwand und ich ging plötzlich auf Kinder zu, versuchte Kontakt aufzunehmen. Auch fing ich an normal zu essen, so dass ich irgendwann – zwar noch immer schlank war – aber normales Gewicht hatte. Zum ersten Mal ließ ich mich auch von meiner Mutter in den Arm nehmen. Ich begann mich im Unterricht einzubringen und schaffte es innerhalb von zwei Jahren tatsächlich meinen Notendurchschnitt um drei bis vier Noten anzuheben. ( Ich würde es heute, nach der ganzen Vorgeschichte, selbst nicht glauben, würden es meine damaligen Zeugnisse nicht belegen ). Und zur größten Überraschung aller begann ich mich auch endlich zu wehren. Entweder schlug ich zurück, oder ich informierte einen zuständigen Erwachsenen. Eines Tages trat ein größerer Junge auf mich zu, der mich in der Vergangenheit unzählige Male verprügelt hatte und boxte mir ins Gesicht. Natürlich ging ich zu Boden, doch anstatt liegen zu bleiben, wie es alle bislang gewohnt waren, rappelte ich mich wieder auf, stürzte mich auf ihn, riss ihn zu Boden, setzte mich auf seinen Brustkorb und ließ ein Trommelfeuer von Schlägen auf ihn niederprasseln. Immer und immer wieder schlug ich zu mit meinen dünnen, knochigen Fäusten. Irgendwann kam ein Lehrer und riss mich von ihm runter. Sein Gesicht war völlig blutig und er heulte. Noch am selben Tag erhielten meine Eltern einen aufgebrachten Anruf von den Eltern des betreffenden Jungen, von wegen „dass ich ihrem armen Jungen die Nase gebrochen hätte“. Mein Vater, der das Telefonat entgegengenommen hatte entgegnete daraufhin, völlig aufrichtig und aus der Tiefe seines Herzens: „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mich das freut!“ Dann legte er auf und lächelte mich mit Tränen in den Augen an.

Doch so rasend schnell, wie ich einige Sachen drauf hatte, war ich doch in anderen Dingen eher ein Spätzünder. Es war eben unmöglich, auf demselben Stand zu sein, wie ein unter normalen Umständen aufgewachsener Gleichaltriger. Soviel ich auch aufholte und in einigen Dingen sogar anderen bereits voraus war - in manchen Sachen war ich meiner Entwicklung weit hinterher, was ich ganz klar meiner komplizierten Kindheit verdankte. So auch in zwischenmenschlichen Angelegenheiten. Ich verstand es einfach nicht, Jungs meines Alters richtig anzusprechen, doch dazu später mehr.
Dafür interessierte mich plötzlich Sport . Am liebsten schwamm und lief ich. Bei den Schulsportfesten machte ich dreimal den ersten Platz im Hundert-Meter-Lauf und besiegte darunter ehemalige „Gegner“, also Gleichaltrige, die mich in der Vergangenheit drangsaliert hatten. Die anderen Kinder waren völlig überrascht, wie sehr und schnell ich mich veränderte. Aber es schien ihnen zu gefallen, denn auf einmal wurde ich zu Geburtstagen eingeladen, zum Spielen abgeholt, oder von ihnen zuhause besucht. Meiner Mutter setzte ich mich betreffs neuen Haarschnitts ( kürzer, frecher ) und neuer Klamotten durch, ich forderte rückblickend Individualität. Ich zog nicht mehr einfach die Sachen an, die sie mir gab, ich hatte plötzlich einen eigenen Geschmack und kämpfte auch darum. Ich hatte einen wahnsinnigen Durst auf Leben. Ich wollte alles nachholen, was ich verpasst hatte. Doch wie sich zeigen sollte ging dieses Vorhaben nur allzu schnell nach hinten los, so dass aus dem vermeintlichen „Märchen“ mit „Happy – End“ dann doch etwas ganz anderes wurde. Und was gut startete, brachte mich dann tatsächlich vom Regen in die Traufe…

Anders, als die anderen Jungen in meiner Schule interessierte ich mich nicht für Fußball oder Autos, oder dem „Aufreißen“ von Mädchen, sondern für Lesen ( mit dreizehn hatte ich begonnen, erste Geschichten zu schreiben, in denen ich mich mit dem auseinandersetzte , was mich beschäftigte ), Musik, Zeichnen und Geschichte. Außerdem liebte ich den Schulunterricht - weil ich es liebte zu lernen. Ich habe nicht einen Tag blau gemacht. Für heutige Schüler vielleicht unverständlich, aber als Folge meiner Vorgeschichte sicher nachvollziehbar.
Doch auf der Jagd nach Wissen ging etwas verloren, das mir damals nicht bewusst war: eine völlig normale Jugend. Ich hatte schon keine normale Kindheit gehabt, wofür ich nichts konnte, und jetzt sorgte ich selbst dafür, dass ich auch keine normale Jugend erlebte. Ich lernte und lernte und verpasste dabei alles andere. Ich ging nicht aus, feierte nie irgendwo mit, pflegte kaum Kontakt zu den anderen Jungs. Allerdings stellte ich alsbald fest, dass mir der Umgang mit Mädchen lag. Das ging übrigens schon früh los, so mit zwölf, dreizehn, als für die meisten Jungen meines Alters Mädchen noch „dumme Gänse“ oder „Objekte zum Ärgern“ waren. Mit vierzehn war ich bereits der besondere Liebling der Mädchen. Ich war gerne mit ihnen zusammen, ging mit ihnen einkaufen und unterhielt mich so gerne mit ihnen, weil sie viel weiter und intelligenter waren, als die allermeisten der anderen Jungs in meiner Klasse. Am besten verstand ich mich mit einem bestimmten Mädchen, Claudia Barilaro. Wir waren quasi unzertrennlich, redeten über alles. Ich glaube in gewisser Weise habe ich sie wirklich geliebt. Es war damals komisch. Entsprechend der 80er Jahre - Mentalität entwickelte ich mich vom „Freak“ zum „Rebellen“, der sich wie ein „Freak“ zurecht machte. Gerne schockte ich damals die Erwachsenenwelt mit ausgefallenen Frisuren ( z.B. Irokese oder Glatze ) oder bunter Haarpracht ( den blonden Wuschelkopf gefärbt in blau, türkis oder grün ( einmal auch neonrot ). Man könnte daher sagen, dass ich recht punkig unterwegs war. Auch was die Klamotten anging, ließ ich mir nichts vorschreiben. Und wenn meine Eltern kein Geld rausrückten, wen interessierte es? Ich verdiente mir mein eigenes Taschengel ( im Kino als Platzanweiser und Eisverkäufer, als Einkäufer für alte Menschen, Zeitungen austragen, in Lebensmittelgeschäften Regale auffüllen, usw. ). Am liebsten trug ich enge Hose, Jeans oder Leder, auch Lederjacken und Jeansjacken liebte ich sehr. Je nach Wetter trug ich entweder T-Shirt darunter oder gar nichts. Ich gehörte zu den ersten Jungen, die links einen Ohrring hatten und den Mofa – Führerschein. Obwohl ich jetzt kein auffällig gutaussehender oder schöner Junge war ( normal attraktiv, Durchschnittsaussehen halt ) kam ich aufgrund all dessen bei den Mädchen gut an. Besonders aufgrund meiner kreativen und künstlerischen Ader, die sich bereits zu diesem Zeitpunkt abzeichnete. So kamen meine ersten selbstverfassten Geschichten und Zeichnungen damals schon gut an. Allerdings bemerkte ich bei mir eine Veränderung, die mich zunächst verunsicherte. Obwohl ich Mädchen wirklich mochte und mich manche von ihnen sexuell auch wirklich erregten, spürte ich, dass irgendwas fehlte. Ich habe damals mit ein, zwei Mädchen geschlafen und es war auch wirklich schön, aber ich vermisste was. Irgendwann beim Schulschwimmen wurde es mir dann klar: Ich stand auf Jungs. Ein nacktes Mädchen zu betrachten, erregte mich zwar, aber einen schlanken, sportlichen Jungenkörper empfand ich als geballte Erotik. Das Witzige ist, dass ich selber mit dieser Erkenntnis eigentlich gar kein Problem hatte. Ich fand das nicht schlimm, war ich eben schwul – oder besser bi – denn ich hatte auch weiterhin ab und an was mit Mädchen/Frauen. Angst machte mir aber die Reaktion der anderen. In der Schule durfte es niemand wissen, meine Mutter hätte der Schlag getroffen und meine restliche Familie hätte ebenfalls kein Verständnis dafür gehabt. Also war ich gezwungen, diese Neigung zu verstecken, so gut wie möglich. Auch heute noch bin ich aufgrund meines Berufes gezwungen, meine homosexuellen Neigung geheim zu halten. Wer vertraut heutzutage seine Kinder noch einem schwulen Pädagogen an, wo gerade in diesem Bereich so viel von sexuellem Missbrauch an Schutzbefohlenen in den Medien berichtet wird? Ich kann diese Angst natürlich verstehen, aber für Leute wie mich – die wohlgemerkt an Kindern definitiv kein Interesse ( auch wenn manche Verbohrten immer noch dieser Auffassung sind: nicht alle die schwul sind, sind automatisch auch Päderasten!) haben – ist dies schon ein unglaublicher Affront.
Meine Familie weiß es bis heute nicht, doch meinen Freunden ( die Einzigen, die es wissen ) ist es schlichtweg egal. Trotzdem gab es mal eine Zeit, in der ich es - geradezu exzessiv - ausleben konnte. Und ausgelöst wurde das Ganze ausgerechnet durch den plötzlichen Tod meines Vaters.
Ich war gerade sechszehn, er kam von der Arbeit und unterhielt sich noch mit mir beim Essen. Dann wurde ihm auf einmal übel, er stand auf, legte sich auf sein Bett und starb. Er war erst 50 Jahre alt, als ihn der Herzinfarkt aus dem Leben riss. Für meine Mutter brach eine Welt zusammen. Alle in der Familie trauerten und weinten, nur ich nicht. Alle dachten, ich würde meine Trauer in mich hineinfressen, aber das stimmte nicht. Die Wahrheit ist: Es ging mir überhaupt nicht nahe. Das mag sich jetzt eiskalt und unmenschlich anhören, doch um es zu verstehen, muss man bedenken, dass mir die Erinnerung an ihn fehlte. All die Jahre meiner Kindheit. Und nachdem ich endlich „erwachte“, war er nur selten zuhause ( eigentlich nur sonntags ), weil er zu diesem Zeitpunkt soviel arbeiten musste. Nun, und ich war an den Wochenden meistens unterwegs. Er war also ganz genau genommen ein Fremder für mich. Wie sollte ich da große Gefühle für ihn empfinden? Allerdings hatte ich damals ein verdammt schlechtes Gewissen, eben weil ich nicht so empfand, wie es doch in so einer Situation der Fall hätte sein müssen.
Viel mehr nahm mich hingegen wenige Wochen Später der Tod meines Hundes mit. Als der alte Bobtail eines morgens tot in der Küche lag, war im am Schluchzen und am Heulen. Alle dachten, ich würde über den Hund meine Gefühle und die Trauer über den Tod meines Vaters herauslassen, aber das entsprach nicht der Wahrheit. Ich betrauerte wirklich nur den Köter. Um das zu verstehen, muss man wissen, dass dieser Hund meine ganze Kindheit über mich gewacht hat, mir zuhause nie von der Seite wich. Er hat neben meinem Bett geschlafen, er folgte mir, wenn ich den Raum verließ. Und er gehört zu den ganz wenigen Erinnerungsfetzen, die ich überhaupt an meine Kindheit habe.
Das Grab meines Vaters hat nie irgendwas in mir ausgelöst, ich habe keinen Bezug dazu. Ich glaube, ich habe es seit zwanzig Jahren nicht mehr besucht. Dafür fällt es mir noch heute schwer, in meinem Elternhaus die Küche zu betreten, wo ich meinen Hund damals tot fand.

Nach dem Tod meines Vaters versank meine Mutter für zwei Jahre in Trauer und Selbstmitleid. Ausgerechnet in der schwierigsten Zeit meiner Pubertät, wo ich sie wirklich gebraucht hätte. Doch sie interessierte sich für Nichts und Niemanden mehr und ich war ihr plötzlich scheißegal. Sie gab mir sogar eine Mitschuld am Tod meines Vaters: Ich hätte mit meiner langjährigen Erkrankung als Kind sogar dazu beigetragen. Außerdem wünschte sie sich, dass ich dort an seiner Stelle läge. Heute streitet sie das ab, aber ich schwöre es war so. Sie warf mir vor, ich sei nicht der Sohn, den sie sich immer gewünscht hätte. Immer wäre ich nur schwächlich und krank gewesen ( als hätte ich mir das selbst ausgesucht ). Ich wäre ein verdammtes Sensibelchen, dass sich bloß für Musik, Politik, Kunst und Literatur interessiere und nichts von der Männlichkeit meines Vaters ( zur Erinnerung: Berufssoldat beim Bund: Oberst in Reserve ) besäße. Es war ihr egal, welche rückblickend enormen Leistungen ich erbracht hatte: zum Beispiel innerhalb von nur drei Jahren meinen Notendurchnitt um ganze vier Noten zu heben, dass ich inzwischen vom einst teilnahmslosen Schüler zum Klassenbesten aufgestiegen war ( außer in Mathe, das lag mir nie ) und Geschichten schrieb, die in Zeitungen und Illustrierten abgedruckt wurden und sogar erste Preise gewannen. Ich war nicht kriminell und nahm auch keine Drogen und Alkohol zu mir ( bis heute nicht – denn ich hatte mir geschworen niemals mehr „high“ zu sein. Das war ich als Kind nun wirklich lange genug, ) Abgesehen von meinem Outfit führte ich also doch ein relativ normales Leben – aus eigener Kraft geschafft. Das sprach doch eigentlich für eine starke, kämpferische Persönlichkeit, oder? Meine Mutter sah dies aber nicht so. Sie hat bis heute nie anerkannt, was ich – trotz denkbar schlechtester Voraussetzungen – geleistet habe. Ich habe heute eine weitaus bessere Schulbildung als meine Eltern, aber das zählt nicht. Mein Abitur mit Note 1,2 beeindruckte sie gar nicht, wurde vielmehr als Sohn meines Vaters einfach von mir erwartet. Dann habe ich auch noch diesen Beruf gewählt, der mir Spaß macht, der mich erfüllt und mir etwas gibt. Aber sie verachtet Arbeit im Sozialen Bereich. Das sei Arbeit für Leute, die zu faul für echte Arbeit seien. Keine Arbeit für einen Mann, der etwas auf sich hielt. Sie hat auch bis heute nicht eine Geschichte von mir gelesen, hält meine schriftstellerische Leidenschaft noch immer für „lächerlich“ und „Quatsch“ – obwohl ich dieses Jahr mein fünftes Buch veröffentliche. Als Jugendlicher habe ich sehr darunter gelitten von der eigenen Mutter nie Anerkennung zu bekommen. Heute ist es mir nicht mehr wichtig, weil ich darauf nicht angewiesen bin. Ich habe inzwischen mir selbst und anderen oft genug bewiesen, wer ich bin und was ich kann, deswegen verletzt es mich nicht mehr. Aber enttäuscht bin ich immer noch.

Zum endgültigen Bruch mit ihr kam es – trotz dieser überaus verletzenden Worte - erst zwei Monate später, wegen Claudia Barilaro. Wie ich bereits erzählte, war sie damals meine beste Freundin. Sie war ein Jahr älter als ich und die Einzige, bei der ich das Gefühl hatte, dass sie mich so sah und annahm, wie ich wirklich war. Mit allen Fehlern und Vorzügen. Ich möchte sogar soweit gehen und behaupten, wir waren seelenverwandt. Wir brauchten uns nur anzuschauen und jeder wusste, was der andere dachte. Besonders mochte ich ihre Fröhlichkeit und Intelligenz ( Ich mag überhaupt intelligente Menschen. Weil sie mich herausfordern, weil ich zumindest versuchen kann, mich mit ihnen zu messen oder zumindest etwas von ihnen zu lernen ). Dann wurde Claudia sehr krank, bzw. sie war es schon länger. Aber sie hatte es mir so lange wie möglich verschwiegen. Ich hatte natürlich längst mitbekommen, dass sie etwas bedrückte, doch ich dachte, das wäre der Tod ihrer jungen Mutter zwei Jahre zuvor, der sie hin – und wieder beschäftigte. In Wahrheit aber hatten die Ärzte bei ihr Leukämie diagnostiziert, dieselbe Krankheit an der bereits ihre Mutter verstorben war. Ich erfuhr es erst, als es sich nicht mehr verheimlichen ließ. Ich war dabei, als sie ins Krankenhaus kam. Ich besuchte sie jeden Tag. Ich wartete immer bis sie einschlief und ging erst dann. Es mag sich kitschig und abgedroschen anhören, aber ich schwöre, es ist wahr: ich war bei ihr, als sie starb und als es dann soweit war, hielt ich ihre Hand. Nur ihr Vater und ich waren in diesem Moment im Krankenzimmer. Ich kann es nicht beschreiben, was ich fühlte, als er – verständlicherweise – die Fassung verlor und sich weinend über seine Tochter warf. Ich klingelte nach den Schwestern, damit sie ihm helfen, dann ging ich. Ich war wie betäubt. Nachdem ich das Krankenhaus verlassen hatte, fing ich an zu laufen, immer schneller und schneller. Immer weiter, ohne Ziel. Es kam mir wie Stunden vor. Solange, bis nichts mehr ging. Ich weiß, das klingt bescheuert, aber mir war danach. Als ich aufhörte zu laufen, stellte ich fest, dass ich am Rheinufer stand. Sie mochte Wasser und schwamm genauso gerne wie ich. Vielleicht war ich deswegen unbewusst hierhergelaufen. Irgendwie war ich ihr hier nahe. Es war schon dämmrig und fast Abend und ich stand am Rhein und schrie. Schrie es aus mir heraus. Wenn mich damals jemand beobachtet hätte, sicher wäre er zur nächsten Telefonzelle gerannt um die Psychiatrie anzurufen ( Handys waren damals noch kein Thema ). Als ich dann endlich nach Hause kam, schrie mich meine Mutter an, wie ich es wagen könnte, so spät nach Hause zu kommen. Ich versuchte ihr zu erklären, was passiert war, das Claudia gestorben war. Aber sie erwiderte nur, ich solle mich nicht so anstellen. Es wäre zwar traurig, aber schließlich wäre so ein krankes Ding sowieso nichts für mich gewesen. Außerdem wäre sie ja nicht mal Deutsche gewesen. Von diesem Tag an habe ich mit meiner Mutter volle fünf Jahre nicht mehr gesprochen. Am darauffolgenden Tag war ich fort, nur einen Zettel auf dem Wohnzimmertisch hinterlassend: „Fahr zur Hölle!“

Zu diesem Zeitpunkt ohne Geld fuhr ich ohne Fahrausweis mit der S-Bahn nach Köln, wo mich sicherlich niemand vermutete und ich drei Monate auf der Straße lebte ( unter anderen obdachlosen Jugendlichen, die „auf Platte“ lebten), bevor mich die Polizei aufgriff und in das dortige Auffangheim ( damals nannte man das noch so ) brachte. Dort blieb ich über Nacht und setzte mich morgens nach dem Frühstück wieder ab. Wieder verschwand ich in den Straßen Kölns. Ich schloss mich erneut den Jugendlichen an, die ich bereits kennengelernt hatte und lernte bei ihnen schnell, worauf es beim Leben auf der Straße ankam. Und vor allem eine Lektion: Niemand ist wirklich dein Freund. Ich erschnorrte mir damals Geld, manchmal stand ich Schmiere bei Diebstählen oder Einbrüchen, stellte aber schnell fest, dass mir sowas nicht lag. In diese Schiene wollte ich nicht weiter abrutschen. Ebenso wenig in die des Drogenkonsums. Stattdessen ging ich manchmal mit älteren Frauen (25 – 40 Jahre) mit, die mich bei sich übernachten ließen, und mir was zu essen ausgaben, wenn ich dafür den Abend mit Ihnen verbrachte. Schnell genoss ich unter diesen Frauen den Ruf nicht ungebildet zu sein, Humor zu besitzen und zu wissen, wie man sich benimmt. Darunter war eine Ärztin dabei, eine Polizistin und eine Lehrerin. Viele meinen, nur Männer würden sich junge Begleiter und Bettpartner auf der Straße suchen, doch das stimmt nicht. Eine ganze Reihe Frauen macht das auch, aus welchen Gründen auch immer ( häufig Einsamkeit oder fehlende Bestätigung durch die eigenen Männer ). Wie ich schon sagte, gehörte ich nicht zu den auffällig Schönen, aber ich war jung ( 16), schlank (76/77kg bei einer Größe von 1.83m), hatte zu diesem Zeitpunkt blonde Wuschelhaare und besaß einen frechwitzigen Sarkasmus, der offenbar gut ankam. Wirklich unattraktiv waren die Frauen eigentlich nie. Zumindest ging ich nie mit absolut alten oder unattraktiven mit. Wenn ich mit einer Frau mitging, dann weil sie irgendetwas ausstrahlte. War sie mir unsympathisch, lief nichts.
Besonders die Polizistin gefiel mir, die mich mal abends auf der Straße aufgegriffen hatte ). Sie war echt nett und versuchte mir wirklich zu helfen. Aber nachdem es dann zwei, dreimal zu Sex zwischen uns gekommen war, beendete sie das Ganze, aus Angst sich damit Beruf und Leben zu ruinieren. Ich war nicht sauer, schließlich muss jeder sehen, wo er bleibt.
Leider ergab sich nicht immer eine solche Übernachtungsmöglichkeit. Oft war ich gezwungen zu schlafen, wo es gerade möglich war: im Park, in Hauseingängen, in den warmen Luftschächten der Tiefgaragen., bei anderen Jugendlichen in Sozi-Buden, oder bei meiner Tante, wo ich hin und wieder auftauchte, mich duschte, ein bisschen Geld abstaubte und wieder abtauchte. Im Sommer kletterte ich dann nachts öfter über den Zaun des Freibades, wo ich dann schwimmen und mich säubern ging und meine Klamotten reinigte.

Ich war damals so dünn wie vergleichsweise heute Bill Kauliz von Tokio Hotel und ähnlich wie er ( nur nicht so geschminkt und aufgemacht ) wirkte ich sehr androgyn oder „elfenhaft“, was zumindest die Ärztin sehr sexy fand. Allerdings kam ich damit natürlich auch bei Schwulen sehr gut an. Ich wurde oft von ihnen angesprochen und eingeladen. Manchmal ging ich mit, manchmal nicht. Jedoch nie alleine. Immer nur, wenn ich in Begleitung eines zweiten Jugendlichen war, so dass wir allzu aufdringliche „Gastgeber“ hätten überwältigen können. Je nachdem, wie unser Gastgeber drauf war, beklauten wir ihn oder nicht. Davon wurden neue Klamotten gekauft. Manchmal holte ich sie mir aber auch aus den Kleidercontainern der Caritas.
Eines Tages, ich war noch sechszehn, lernte ich ein schwules Pärchen kennen, das mich einlud, ein paar Tage in der gemeinsamen Wohnung zu verbringen und auszuspannen. Es war natürlich klar, worauf das hinauslief, aber in diesem Fall störte es mich nicht ( Ich gab einem „Kollegen“ die Adresse für den Fall, dass ich bis zum nächsten Morgen nicht zurück war oder Entwarnung gab ). Dieses Mal gefielen mir meine „Gastgeber“. Für mich waren es die schönsten Männer, die ich bis dahin gesehen hatte und ich konnte kaum glauben, dass sie sich ausgerechnet für so einen schmächtigen Blondschopf interessierten. Das Ende vom Lied war, dass ich über drei Monate bei ihnen lebte: Mario (22, Italiener, Automechaniker) und Maurizio ( 25, Brasilianer, Verkäufer in einem Plattenladen). Sie verkörperten echte Lebensfreude, lebten frei und ungebunden und waren insgesamt wirklich sehr gut zu mir. Sie haben mich wieder auf die Beine gebracht, halfen mir wieder Jobs zu bekommen. Irgendwann erstattete eine besorgte Nachbarin Anzeige, weil sie um mein moralisches Wohl besorgt war. Es gab Anzeigen wegen Verführung Minderjähriger, sex. Missbrauch und unerlaubte Entziehung ( der Eltern ). Ich wurde als Opfer dargestellt und musste einen Therapeuten besuchen, obwohl – und dabei bleibe ich noch heute – kein Opfer war. Niemand hatte mich zu irgendwas gezwungen, was ich nicht wollte. Alles, was zwischen den Beiden und mir ablief war auch von mir gewünscht - zudem fühlte ich mich bei Ihnen wirklich wohl. Das wird vielleicht kein Leser verstehen, aber ich war so glücklich, wie schon lange nicht mehr. Sie behandelten mich nicht wie einen Stricher/Callboy, sondern regelrecht familiär. Sie waren so kitschig es auch klingen mag, meine Insel im Sturm.
Nachdem wir „aufgeflogen“ waren, kam ich vorübergehend in ein Heim, wo ich insgesamt vier Wochen verblieb. Dort hatte ich eine kurze Beziehung mit einer zwanzigjährigen Jahrespraktikantin, was aber letztlich herauskam. Sie hatte noch viel Glück, musste bloß die Praktikumsstelle wechseln ( wegen mangelnder Distanz zu Schutzbefohlenen ). Man steckte mich in ein Zimmer mit einem ständig zugekifften, gleichaltrigen Vietnamesen. Als ich merkte, dass er einen so ganz eigenen Begriff von „Eigentum“- besonders dem anderer - hatte, und die Heimleitung nicht einschritt, entschloss ich mich, ihn loszuwerden. Also klaute ich den Durchgangsschlüssel eines Betreuers, als dieser unachtsam war, schloss die Büroschublade mit der Geldcassette auf, nahm diese heraus und versteckte beides zwischen den Sachen meines unliebsamen Zimmergenossen. Nur eine Viertelstunde später war Zimmerkontrolle und der Kiffer flog raus.
Die Therapeutin, welche mich zu dieser Zeit im Auftrag des Jugendamtes betreute, warf schnell das Handttuch. „Nicht therapierbar!“ hieß es. Ich sei „manipulativ“ und „gesprächstherapeutischen Strategien“ nicht zugänglich.
Inzwischen erklärte sich meine über achtzigjährige Großmutter bereit, mich bei sich wohnen zu lassen. Ich wohnte bis zu ihrem Tod bei ihr, dann ( inzwischen war ich endlich volljährig ) bezog ich eine eigene Wohnung. Nachdem ich bei meiner Oma eingezogen war, begann ich eine Ausbildung zum Buchhändler. Leider gab es im Anschluss damals keine Stellen und ich machte eine weitere Ausbildung. Zumal ich inzwischen gemerkt hatte, dass der Beruf des Buchhändlers mich nicht wirklich ausfüllte. Also entschloss ich mich Erzieher für den Schwerpunkt Heim – und Jugendarbeit zu werden. Da ich trotz der vergangenen, turbulenten Zeiten tatsächlich nie vorbestraft war, war mir dies tatsächlich möglich. Ich hatte im Laufe meiner eigenen Heimerfahrungen so viele miese Pädagogen und Erzieher kennengelernt, dass ich mir sagte, es sicher besser zu können. Nach meiner erfolgreichen Ausbildung und zwei weiteren Jahren in einem Duisburger Auffangheim wurde meine Stelle wegrationalisiert. Es folgten - jeweils leider immer befristete - Tätigkeiten auf Abenteuerspielplätzen, Intensivbetreuungen ( 1 zu 1 – Maßnahmen für diverse Jugendämter ), fünf Jahre Kinderhort ( der dann leider geschlossen wurde ) und begann dann in diversen Kindergärten ( oftmals Schwangerschaftsvertretungen ), wo ich heute noch arbeite. Ich denke, gerade mein eigenes Leben hat mich dazu prädestiniert, mich engagiert für Kinder und Jugendliche einzusetzen.
Vor ein paar Jahren hatte ich noch einmal eine schwere Phase in der ich unter Einsamkeit litt ( mir wurde extrem bewusst, dass viele in meinem Alter Familie hatten und ich immer noch alleine war, nicht einmal in einer festen Beziehung ), mit den Beziehungen klappte es nicht und ich hatte nur noch meinen Beruf, kein Privatleben mehr. Zudem konnte ich damals nicht gut mit Geld umgehen und verschuldete mich ( Grund: Kaufrausch als Ersatzbefriedigung ). Durch diese ganze Anhäufung von Negativem wurde ich depressiv und zum Frustesser, nahm letztlich knappe fünfzig Kilo zu.

Heute bin ich 37 Jahre alt, unverheiratet und habe selber keine Kinder. Dafür wechselnde Beziehungen beiderlei Geschlechts. Mal läuft es besser, mal weniger. Heute kann ich damit umgehen. Mein Übergewicht bin ich wieder losgeworden. Ich wiege heute ( bei einer Größe von 1.85m ) wieder 82 Kilo. Ich gehe viel schwimmen, fahre viel Rad. In meinem Beruf bin ich ziemlich gut, soweit ich das selbst beurteilen kann. Zumindest stellt er mich zufrieden. Meine Haare sind vorzeitig ergraut ( was bei Freunden, Kolleginnen und Bekannten aber durchweg gut ankommt ), feminin oder androgyn wirke ich heute längst nicht mehr. Ich trinke bis heute immer noch keinen Alkohol, habe aber dennoch einen leichten Leberschaden durch die jahrelange Medikamenteneinnahme als Kind. Seit vier Jahren bin nebenberuflicher Autor und schreibe unter diversen Pseudonymen Fantasy und Horror, ebenso wie Kinder – und Jugendbücher. Ich habe Gesangsunterricht (Bariton ) genommen und singe nebenbei in Musicals oder mit Freunden in einer Coverband ( Swing, Rock, Pop). Ich zeichne professionell Portraits, Karikaturen und Illustrationen. Mit meiner Mutter verkehre ich übrigens heute wieder. Sie ist inzwischen eine alte Frau von 73 und krank. Ihre boshafte, verletzende Bissigkeit früherer Zeiten gehört heute der Vergangenheit an. Allerdings liegt das wohl weniger an ihrer „Altersmilde“, sondern vielmehr an meiner eigenen Schlagfertigkeit und meinem Durchsetzungsvermögen, welches derartiges gar nicht mehr zulässt. Das letzte Mal, vor vielen Jahren, als sie mir wieder die Macho- Männlichkeit meines Vater vorhielt, erwiderte ich nur noch: „Was willst du eigentlich? Ich bin zehnmal mehr Mann als er. Ich gehorche keinen unsinnigen Befehlen und ich stehe vor niemandem stramm. Ich bin frei!“ Seitdem hat sie nie wieder von diesem Thema angefangen. Meine Schwestern halten heute sehr viel Abstand zu ihr, ihre Freunde und Bekannten von Früher haben sich auch zurückgezogen oder sterben langsam weg, deswegen ist sie jetzt froh, dass sie mich noch hat. Ob ich ihr verziehen habe? Nach all der Zeit ja. Ob ich es jemals vergessen kann? Nicht in tausend Jahren.
Im Großen und Ganzen kann ich ehrlich behaupten, heute glücklich zu sein. Sicher kommen auch jetzt noch immer wieder mal kleinere oder größere Rück – und Schicksalsschläge auf mich zu, aber Herrgott, bei wem nicht? Inzwischen habe ich gelernt damit umzugehen. So wie wir es wohl alle lernen müssen. Inzwischen weiß ich, dass wir nicht daran gemessen werden, wie tief wir gefallen sind, sondern daran, wie gut wir uns wieder aufrappeln. Neben dem ganzen Mist, den ich erlebte, hatte ich aber auch viel Glück. Viele der damaligen Kinder, die zusammen mit mir vor fast vier Jahrzehnten die Pockenschutzimpfung bekamen, sind heute nicht so weit wie ich. Nicht wenige sind seitdem schwer geistig behindert oder in anderer Weise erheblich gehandicapt. Ich gehörte zu denen, die Glück im Unglück hatten. Und dafür bin ich dankbar.
Mario sagte einmal „das Leben sei wie eine Schiffskatastrophe. Einige gehen mit unter, andere nicht. Das mag unfair sein, aber so ist es. Nicht alle schaffen es.“

Ich schwimme immer noch.
Mein Name ist David.


Anmerkung:
Die in dieser Geschichte vorkommenden Orte und Personennamen wurden im Hinblick auf das Persönlichkeitsrecht heute noch lebender Personen abgeändert. Die Authenzität der Erzählung als solche bleibt davon unberührt.
Kimura ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.02.2010, 11:08   #2
männlich movfaltin
 
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Beiträge: 130

Zitat:
Zitat von Kimura Beitrag anzeigen
Mein Name ist David.
Um ehrlich zu sein: Ich habe es bloß überflogen - wegen der Länge.
Klingt nach einer interessanten Lebensgeschichte eines überdurchschnittlich intelligenten Menschen, die ich für recht autobiographisch halte. Allerdings ist die Form für meinen Geschmack etwas zu sehr zusammenfassend, zu distant. Ich konnte in die Exzerpte, die ich mit großem Interesse las, leider viel zu wenig eintauchen. Vielleicht wäre ein Ausbruch aus der retrospektiven Kohärenz sinnvoll, also eine Fokussierung auf ein paar Geschehnisse, mit mehr Liebe zum Detail statt zum smoothen Gesamtbild - und gerne auch mit mehr Platz für Nichtigkeiten (also mehr Länge). Der Text, so fand ich, fluchtete zu schnell dem Ende zu.
Das Ende - die letzten beiden Sätze, und natürlich auch der erste - gefällt mir außerordentlich gut.

Cheers
movfaltin ist offline   Mit Zitat antworten
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