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Alt 09.03.2024, 14:38   #1
weiblich Lee Berta
 
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Standard Der innere Guru

Mein Mann starb, als unsere Söhne noch sehr klein waren. Shilohe war sieben und Yamihel war neun. Wir trauerten vierzig Tage, dann sollte ich unter den Babas des Hohen Convents einen neuen Vater für sie finden. Dies war eine hohe Ehre, die mir nur gebührte, weil auch mein Mann kurz dem Hohen Convent angehört hatte. Nun hatte Bruder Mihuel seinen Platz eingenommen, das hatte unser Guru Baba Ali so bestimmt.
Weil ich spürte, dass ich noch nicht bereit für eine neue Beziehung, geschweige denn gar eine Ehe war, rief ich am Morgen des einundvierzigsten Tages meine Söhne zu mir und sprach: „Die Ältesten wollen, dass ich euch einen neuen Vater suche. Ich habe aber keine Lust. Wen hättet ihr denn gern als Vater?“
„Baba Ali“, riefen sie wie aus einem Munde.
„Baba Ali hat schon sieben Frauen“, sagte ich. „Könnt ihr ein Geheimnis bewahren?“
Shilo nickte zögerlich und Yami rief: „Klar!“
Ich griff ihre Hände und zog sie näher zu mir, bevor ich flüsterte: „Ich möchte keinen neuen Mann. In diesen vierzig Tagen ist mir klar geworden, dass vierzig Jahre nicht ausreichen würden, um euren Vater zu vergessen. Darum will ich eine Geisterhochzeit feiern und mir einen neuen Buddha suchen. Dazu folge ich ab heute meinem inneren Guru und nicht mehr den Babas. Wir laufen weg und ihr müsst mir helfen!“
Die Brüder wechselten einen kurzen und überraschten Blick, dann schauten sie zu mir mit weit geöffneten Augen. Es war ihnen anzusehen, dass mein Geständnis sie überforderte. Sie kannten nur das Leben in der Glaubensgemeinschaft der Lichtgeschwister.
„Einen neuen Buddha?“, flüsterte Shilo.
Ich nickte. „Ja. Es gibt nicht nur einen Buddha, sondern sehr viele Buddhas und von jedem kann man etwas anderes lernen. Außerdem möchte ich, dass ihr zur Schule geht, meine Mathe-Kenntnisse reichen nicht bis zum Abitur. Nun schaut nicht so, alles wird gut. Unser Pfad biegt hier in eine andere Richtung ab. Wir haben alles gelernt, was Baba Ali und die Lichtgeschwister zu lehren haben: Armut, Demut, Liebe und Vergebung. Nun muss ich mein Bewusstsein auf die nächste Stufe erheben und Papas Geist folgen. Ich habe von ihm geträumt und er sagte: 'Erkenne den Lehrer in dir! Folge dem inneren Guru!'“
Wieder wechselten die Kinder einen Blick, diesmal einen längeren.
„Geht das denn?“, fragte Shilo unsicher.
Ich nickte. „Ja. Aber nur, wenn Baba Ali und die Ältesten es nicht herausfinden. Denn sonst werden sie mir euch weg nehmen, um mich zu erpressen. Nun geht spielen und verratet niemandem, was ich euch gesagt habe. Denn wenn ihr mich verratet, habt ihr selbst euer Schicksal entschieden.“

Die Brüder nickten, nahmen sich an der Hand und verließen den kleinen Bungalow, den Baba Ali uns zugewiesen hatte. Er war nur spärlich möbliert, denn jeder irdische Besitz ist ein Felsen auf dem Weg zur Erleuchtung. Da Baba Ali schon erleuchtet war, durften er und die anderen Babas hingegen Besitzgebirge auftürmen mit dem Geld, das die Lichtgeschwister in der Außenwelt verdienten.
So hatte auch ich einen Job in einem Supermarkt angenommen.
Meine Vorgesetzte hieß Thea und war auf den Tag genauso alt wie ich. Ihr hatte ich mich anvertraut und mit ihrer Hilfe hatte ich ein kleines Apartment in einem der Neubaublöcke am Stadtrand ergattert. In diese Gegend gingen die Lichtgeschwister nie, um zu missionieren, da die dort lebenden Menschen als unrein galten.
In Wahrheit hatten sie einfach nur zu wenig Geld, so dass es sich nicht lohnte, sie in die Glaubensgemeinschaft der Lichtgeschwister zu locken. Mich störte die „Unreinheit“ der Nachbarn also nicht und darum unterschrieb ich am Vormittag des einundvierzigsten Tages der Trauer den Mietvertrag mit meinem bürgerlichen Namen: „Susanne Maria Josefine Schmidt.“
Meine Schrift wirkte krakelig, seit über zehn Jahren hatte ich meinen Geburtsnamen nicht mehr benutzt, außer ein Mal bei der Unterzeichnung des Arbeitsvertrages im Supermarkt. Aber der Vermieter lächelte nur, reichte mir meine Kopie des Vertrages und wünschte mir viel Glück in meinem neuen Heim. Ich lächelte zurück und legte den Vertrag auf die oberste Sprosse der Leiter, die von den Handwerkern zurückgelassen worden war. Mehr Möbel gab es nicht.
Rechtzeitig zum Feierabend wartete ich, wie jeden Tag, vor dem Supermarkt auf Bruder Anadim, der mit dem Kleinbus die berufstätigen Geschwister aus der Außenwelt einsammelte und zurück in die Siedlung brachte. Die Siedlung war ein ehemaliger Milchviehbetrieb, der von der Glaubensgemeinschaft erworben und komplett umgebaut worden war. Ein hoher Drahtzaun umgab das Gelände, der gerade von den Lichtgeschwistern durch einen Zaun aus Stahl ersetzt wurde. Dabei wurde penibel darauf geachtet, dass kein Drahtzaun niedergerissen wurde, wo noch kein Stahlzaun stand.

Am Abend des einundvierzigsten Tages der Trauer holten die Frauen der Ältesten mich aus meinem Bungalow und führten mich in den Tempel. Der Innerste Raum durfte nur von den Mitgliedern des Hohen Convents betreten werden. Dies waren vier der Ältesten, die schon zu Lebzeiten erleuchtet worden waren, also den Status eines wandelnden Buddhas inne hatten. Sie wurden ehrfurchtsvoll Baba genannt, was „Vater“ bedeutet, denn natürlich waren es ausschließlich Männer.
Schon freuten sie sich darauf, dass sie und Baba Ali jetzt zu fünft über mich herfallen durften, bevor ich einen erwählen sollte. Ihre Blicke musterten mich begierig, dass ich schon Angst hatte, sie würden mit den Augen Löcher in mein Leinengewand brennen.
Leider musste ich sie enttäuschen: „Ich habe mich für die Geisterhochzeit entschieden“, sagte ich.
In Ihren Gesichtern erkannte ich Enttäuschung und sogar Fassungslosigkeit.
„Aber dann bist du unrein und wirst als niederer Geist wiedergeboren“, erklärte Baba Ali. „Du wirst eine Ausgestoßene sein in unserer Mitte. Niemand wird mehr mit dir reden. Überlege dir das gut.“
„Es gibt nichts zu überlegen“, sagte ich. „Mein Mann ist mir im Traum erschienen und dies ist sein Wille. Ich mache genau das, was er mir sagt. Wie immer.“
„Aber er ist tot!“, knurrte Baba Manouhel.
Ich zuckte die Schultern. „Das hindert ihn überhaupt nicht daran, mit mir zu reden. Er ist ein Buddha! Und ein oller Sabbelkopp, wisst ihr ja.“
Die Männer des Hohen Convents warfen sich unschlüssige Blicke zu. „Ich werde das Ritual heute Nacht vollziehen“, verkündete ich, „an einem Ort, den mein Mann mir im Traum gezeigt hat. Und meine Söhne werden meine Zeugen sein.“
„Dann werden sie auch unrein!“, rief Baba Oshkarush entsetzt.
Ich winkte ab und schüttelte den Kopf. „Wer Zeuge einer unreinen Handlung wird und sich die Augen zuhält und dreimal den Namen eines Heiligen Mannes ausspricht, wird nicht unrein“, erklärte ich. „Baba Alis Eingebung zweihundertvierzehn 'Über die Unreinheit'. Nun hätte ich gern den Schlüssel zum Tor, denn ich muss um Mitternacht barfuß durch einen Fluss waten und hier ist nun mal keiner.“
Frech streckte ich meine Hand aus und Baba Ali löste seinen Schlüssel vom Bund.
„Danke.“

Mit diesen Worten drehte ich mich zur Pforte und verließ den Tempel, vorbei an den Tratschweibern der Ältesten, die die ganze Zeit gelauscht hatten.
Zuhause angekommen packte ich etwas Obst, Räucherwerk und Ritualgegenstände zusammen. Shilo beobachtete mich dabei. Yami war nirgends zu sehen, obwohl die Nacht schon angebrochen war.
„Wo ist dein Bruder?“, fragte ich.
„Bei Schwester Gandri“, flüsterte er.
„Bei Gandri?“, fragte ich, als hätte ich nicht richtig gehört. Ich mochte sie nicht, weil sie die Angewohnheit hatte, so lange herumzupopeln, bis man ihr erzählte, was sie wissen wollte. Darum standen wir uns nicht sehr nahe und ich schickte meine Kinder nie zu ihrem Bungalow.
Eine Weile betrachteten Shilo und ich uns wortlos, aber da hörten wir draußen Stimmen, die sich näherten und mein Herz schlug bis zum Hals. Ich ließ die Ritualgegenstände fallen, nahm Shilo an der Hand, zog ihn in das kleine Bad, hob ihn an und setzte ihn aus dem Fenster nach draußen. Dann kletterte ich hinterher und wir rannten los, durch die ganze Siedlung bis zum Tor, das stets verschlossen war. Ich hatte Baba Alis Schlüssel, aber keine Zeit, es zu öffnen, weil sich dort schon einige Lichtgeschwister versammelt hatten, um uns abzufangen. Yami war nirgends zu sehen.
Zum Glück hatte ich mit so etwas schon gerechnet und hatte zwanzig Meter vom Tor entfernt ein Loch in den Zaun geschnitten, an einer Stelle, wo junge Birken standen und die daher nicht gut einzusehen war.
Wir zwängten uns durch das Loch und rannten weiter. Rannten und rannten, bis der Kleine nicht mehr konnte und ich ihn eine Weile auf meinen Schultern trug. Nachdem er sich etwas erholt hatte, rannten wir wieder, bis wir die Stadt erreicht hatten und endlich, weit nach Mitternacht, die Siedlung der Unreinen mit meiner neuen, völlig leeren Wohnung.
„Es gibt kein Bett“, beklagte sich der Kleine.
„Bald wird es eins geben“, tröstete ich. „Ich darf jetzt mein Geld behalten und kann dir alles kaufen, was du willst.“
„Und was wird aus Yami?“
Eine Weile überlegte ich, was ich sagen sollte. Wie ich es ihm sagen sollte.
Shilo begann, still zu weinen und flüsterte: „Er hat sein Schicksal gewählt.“

Geändert von Lee Berta (09.03.2024 um 17:48 Uhr)
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Alt 12.03.2024, 13:44   #2
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Standard Hallo Lee

... und wieder einmal beweist sich, dass es in despotischen Hierarchien hilfreich sein kann, die Schriften zu kennen. Nett und flüssig zu lesen. Habe auch keine erhobenen Zeigefinger erkannt, gefällt mir.

wsT
dT
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Alt 12.03.2024, 15:42   #3
weiblich Lee Berta
 
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Standard Hallo dunkler Traum

Es freut mich, dass Dir der Text gefällt.
Auch in Demokratien kann es sinnvoll sein, die Gesetze zu kennen. Wissen ist Macht. Vielleicht ist das der Zeigefinger der Geschichte?
Danke für deinen Kommentar und liebe Grüße,

Lee
Lee Berta ist offline   Mit Zitat antworten
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