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Alt 10.02.2007, 15:16   #1
Traumwächterin
 
Dabei seit: 08/2006
Beiträge: 112


Standard Die Traumwächterin

Die Geister der Nacht füllten den Raum, kalter Sternenatem ruhte auf dem Boden, floss über das Bett, in dem Mia schlief und schmiegte sich an sie an. Ihre Lungen hoben und senkten sich ruhig zum Rhythmus der dunklen Melodie, die von der beschatteten Welt um sie herum geschaffen worden war.
Plötzlich wachte Mia mitten in der Nacht auf; sie wusste nicht warum. Kein Alptraum oder dergleichen hatte sie auffahren lassen; wenn sie genau überlegte, erinnerte sie sich gar nicht überhaupt geträumt zu haben. Da war auch kein Wecker, kein Geräusch, kein Tageslicht, das sie hätte wecken können. Warum also war sie erwacht?
Verschlafen rieb sie sich die Augen und wollte sich schon wieder in den Schlaf betten - als sie erneut aufschreckte. Was war das? Da war ein Schatten, der ihr gegenüber auf einem Stuhl saß. Ein Schatten, der ihr unbekannt und befremdlich war.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte, doch die schwach umrissene Silhouette nahm ihr die Entscheidung ab; Sie stand auf. Plötzlich weiteten sich Mias Augen, ein halber Aufschrei entfloh ihrer Kehle, alle Verschlafenheit war vergessen.
Unbeeindruckt davon kam der der Fremde näher, seine Schritte ruhig, gemessen, seine Bewegungen fließend wie Seide und genauso sanft. Es schien als würde er einfach durch die Dunkelheit hindurch gleiten wie ein Fisch durchs Wasser.
Irgendetwas sagte Mia, dass ein genauso weiser wie gütiger Blick auf sie gerichtet war und, dass sie die Angst und den Schrecken, die den Schrei von vorhin geprägt hatten, vergessen konnte. Doch sie konnte nicht. Da verschaffte sich irgendein Fremder Zutritt zu ihrem Zimmer und näherte sich ihrem Bett: Was sollte sie denken?
Der Schatten stand nun direkt vor ihr. Mia konnte eindeutig menschliche Konturen erkennen, die nur seltsam fließend und weich waren. Ein verirrter Mondstrahl, der sich ins Zimmer geschlichen hatte, beschien ihr Gesicht; ja, es war eine sie.
Weise Linien prägten ihre Züge und doch wirkten sie jung wie die eines Kindes; so wunderbar zart und anmutig. Ihre Haut war silbern wie der Mond, ihr Haar blau-türkis und wie mit Sternen bestickt. Seltsame Symbole, die von schwarz zu weiß changierten, rankten über ihre Stirn und ihre Wangen.
Insgesamt erschien sie sehr absonderlich - und doch auf unbeschreibliche Art und Weise wunderschön.
Geräuschlos kniete die Fremde neben Mias Bett. „Träume sind ein hohes Gut, ohne sie wäre die Wirklichkeit nicht wirklich und wäre das Leben so grau wie der Stahl, der hier durch die Städte und Köpfe rankt. Ohne sie könnte man nicht ruhen, nicht rasten und nicht einmal einen Moment in Frieden und Glück entfliehen. Es gäbe nichts, das noch Zuflucht bieten würde, in der Hoffnung wüchse. Und ohne Träume könnte es schließlich auch keine bessere Welt geben; denn wie würde sie entstehen, erträumte sie nicht erst einmal jemand? ...“, sprach sie mit einer Stimme, die eigentlich nur das süße verlockende Echo aus der Ferne war, das in die Realität brandete.
Mia wollte gerne in diesem Klang versinken, nicht auf die einzelnen Wörter und deren Bedeutung hören, doch wenngleich sie ihren Sinn so oder so nicht erfassen konnte, verstand sie etwas: Was diese Fremde sagte trug ungeheure Wichtigkeit. Also versuchte sie zumindest zu verstehen.
„Erinnerst du dich an deinen Traum, mein Kind?“, fragte sie schließlich freundlich und neigte ihren Kopf ein Stück.
Mia sah sie verwundert an. Mein Kind? Hallte es in ihrem Kopf wieder; hatte diese seltsame Erscheinung sie wirklich gerade Mein Kind genannt? Mia war 26, lebte seit fünf Jahren alleine und hatte als Raumschiffingenieuren ihr eigenes Einkommen. Sie war selbstständig, eine erwachsene Frau des 24. Jahrhunderts.
Sie wäre jedem Menschen auf diesem Planeten böse, sie so zu nennen - aber dieser Fremden konnte sie es nicht übel nehmen. Sie spürte, dass es in Ordnung war, wenn sie sie so bezeichnete.
„Nein, ich hatte keinen Traum“, gab Mia gleichgültig zurück. Wirklich kümmerte es sie kaum. Bevor ihr Gegenüber noch eine seltsame Frage stellte, kam sie ihr zuvor: „Wer sind Sie eigentlich, wie heißen Sie und was wollen Sie hier?“
„Menschen - sie haben ein wunderbares Talent Dingen Namen zu geben. Ihr benennt sogar den Planeten, auf dem ihr lebt, ihr nennt ihn sogar euer Eigen.
Ich habe keinen Namen, weißt du? Aber wenn es einfacher für dich ist, nenn mich Traumwächterin, denn das ist es, was ich tue: Ich bewache Träume.“
Mia beäugte ihr Gegenüber kritisch; das war so ziemlich das Lächerlichste, was sie jemals gehört hatte. Trotzdem lachte sie nicht; sie wusste, es war nicht angebracht. Außerdem war da mehr. Ein ganz kleiner Teil von ihr nämlich glaubte der Traumwächterin und solange der nicht vom Gegenteil überzeugt war, würde sie erst einmal zuhören.
„Was meinen Sie damit?“, erkundigte sie sich mit leiser Stimme.
Die Traumwächterin lächelte, dann wirkte sie wieder ernst. „Ich könnte es dir erklären. Aber ich fürchte für so eine lange Geschichte hast du keine Zeit, mein Kind. Niemand von euch hat mehr Zeit. Zeit ist wertvoll, sagt ihr, und doch verbraucht ihr sie zu oft für Dinge, die euch nichts bedeuten.“
Mia wusste nicht, was sie davon halten sollte. Ihr war nur klar, dass dieser kleine Teil, der der Wächterin unbedingt glauben wollte, sehnte die Geschichte zu hören. „Erzähl sie einfach“, bat Mia. Sie wusste es war in Ordnung ihr Gegenüber zu duzen; sie tat es schließlich auch. „Kürz sie vielleicht nur ein wenig, ja?“
Die blauhaarige Frau schüttelte den Kopf, aber nickte schließlich. Sie erkannte, dass es ein Kompromiss war. Trotzdem war es besser als nichts.
„Vor langer, langer Zeit entstanden die Träume. Das heißt die Menschen begannen sie zu erschaffen. Sie begannen diese wunderbare Gabe zu nutzen. Gleichzeitig wurden wir die Traumwächter geboren. Nun, im Grunde sind wir nur Geister, die sich zwischen den Welten bewegen und sich unsichtbar von dem, was ihr real, nennt, aufhalten.
Wir besitzen die wunderbare Gabe, die ihr habt, nicht. Dennoch brauchen wir die Träume als Nahrung; sie halten uns am Leben.
Darum schlossen wir eine Art Abmachung mit den Menschen. Wir würden ihre Träume bewachen, das heißt sie beschützen, damit sie nicht verloren gehen. Man könnte sagen wir geben den Menschen die Fähigkeit sich an das Geträumte zu erinnern. Im Gegenzug dürfen wir uns davon ernähren; so gehen auch alte, Träume in Vergessenheit über. Sobald sie nicht mehr gebraucht und ungenutzt bleiben, tilgen wir sie.
So lebten wir zusammen in Symbiose für eine lange Zeit. So wie es zwischen mir und dir gewesen ist.
Aber der Mensch sucht nach Fortschritt. Auf der Suche danach habt ihr viel erreicht, das bestreite ich gar nicht. Aber jede eurer Erfindungen hat sowohl Gutes als auch Schlechtes mit sich gebracht. In verschiedenen Ausmaßen, aber dennoch hat alles eine Kehrseite. Selbst wenn ihr manchmal gerne nur die eine Seite seht.
Im Zuge des Fortschritts habt immer mehr den Maschinen überlassen.
Mehr und mehr habt ihr ihnen sogar die Vorstellungsgabe und das Träumen überlassen - genauso wie das Bewahren dieser. Die Traumwächter wurden immer mehr unnütz. Ihr habt es nicht gemerkt, aber sie begannen zu schwinden. Schließlich gab es Maschinen, die ihre Arbeit genauso gut verrichten konnten.“
„Warte mal“, unterbrach Mia. „Meinst du die Hologrammmaschinen?“
Sie kannte diese Roboter. Sie konnten selbst Geschichten erfinden. Es war eine grandiose Erfindung; man brauchte ihnen nur ein paar Wünsche angeben und schon erschufen sie eine 3D Illusion, in der man die Handlung fast wie am eigenen Leib spüren konnte.
War es das, was ihr Gegenüber mit „den Maschinen die Vorstellungsgabe überlassen“? Nun, Mia erkannte, dass durch sie vielleicht ein wenig eigene Fantasie verloren ging, aber trotzdem mochte sie sie. Die Illusionen waren so echt und viel einfacher als zum Beispiel selbst ein Buch zu lesen; es war bequemer. Mia fand das nicht verwerflich.
„Das ist das Ende vom Lied. Aber es hat schon viel früher angefangen. Mit Computer, Fernsehen, Theater ...“ Die Traumwächterin sah sie durchdringend an. „Sie machen das Leben einfacher, nicht wahr? Wie viel angenehmer ist es, wenn sie sich für einen alles vorstellen als die eigene Fantasie zu gebrauchen.
Menschen suchen immer den einfachen Weg. Selbst reden tut ihr nur noch wenig mit einander. Weißt du, jeder Mensch ist ein Geschichtenerzähler - von Natur aus. Früher habt ihr euch gegenseitig Dinge berichtet, über sie geredet und fantasiert. Heute läuft eure Kommunikation miteinander nur noch über Maschinen - wenn überhaupt.“
„Ich verstehe um ehrlich zu sein nicht, was daran so schlecht sein soll“, meinte Mia. Die Traumwächterin sah sie einen Moment lang fast mitleidig an.
„Ihr verliert etwas Wunderbares, eine Gabe, einen Teil von euch selbst. Irgendwann ist dieser ganze Planet und jedes einzelne Leben und jeder einzelne Gedanken grau.
Weißt du, das einzige was ich noch hoffe, dass einer von euch irgendwann die Träume vermissen wird. Das ist das einzige, was ich hoffe.“
Sie senkte den Kopf und eine stumpfe Traurigkeit ließ ihre sonst so glitzernden Augen fahl wirken. Waren sie sonst wie ein mysteriöser Ozean, in dessen Tiefen eine unendliche Glückseligkeit ruhte, waren sie nun wie zwei stählerne Pfützen im Sturmregen, in denen es keine Tiefen mehr gab.
Mia wollte irgendetwas sagen, um sie zu trösten, aber sie konnte nicht. Sie verstand ja nicht einmal, was sie so leiden ließ. Darum sagte sie einfach irgendetwas. „Warum kann ich dich sehen?“
Die Traumwächterin schreckte auf. „Was?“, fragte sie und die Verwirrung spülte die Traurigkeit hinfort. „Achso ...“, meinte sie kleinlaut und lächelte wieder sanft. „Menschen sehen alles, was sie für real halten. Ich habe meine letzte Kraft aufgewandt, um dich mich sehen zu lassen. Das heißt, ich habe dir den Gedanken implantiert, ich wäre real.“
„Aber das bist du doch auch“, widersprach Mia. Die Traumwächterin schüttelte nur sanft den Kopf und richtete sich zur ihrer vollen Größe auf. Wie sie da stand und zurückgefunden hatte zu ihrer ruhigen, träumerischen Weisheit wirkte sie majestätisch.
„Nun, komme ich zum letzten Teil deiner Frage. Warum ich hier bin. Ich dachte ich könnte dir helfen und dich retten. Aber ich merke schon, dass auch du verloren bist - es ist sinnlos. Ich wünsche dir alles Gute. Am Ende bist du sowieso diejenige, der du am meisten schadest. Traurig ist nur, dass du es wahrscheinlich niemals einsehen wirst.“
Mia zuckte mit den Schultern; sie glaubte nicht, dass ihr geholfen werden musste. „Was wird jetzt mit dir geschehen? Ich meine, du hast gesagt, ihr Traumwächter braucht die Träume zum leben oder so und wenn diese - wie nennst du es? - Symbiose zwischen uns nicht mehr ist dann ...“, sprach Mia mit einer Stimme, die sie kaum als ihre erkannte und schwieg. Sie wussten beide, was geschehen würde.
Die Traumwächterin nickte stumm und lächelte noch einmal. Sie verschwand in einer Bewegung so fließend wie Seide und genauso sanft.
Mia wusste sie würde sie nicht wieder sehen. Niemals wieder. Aber sie vermisste sie auch nicht, im Gegenteil; Mia vergas sie. Es gab schließlich Wichtigeres in ihrem Leben als alberne Träume und Traumwächter.
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