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Alt 03.08.2005, 12:02   #1
marie
 
Dabei seit: 08/2005
Beiträge: 4


Standard Der Toast ist angebrannt

Der Toast war auf seiner Seite angebrannt.
Wie jeden Tag.
Er nahm ein Messer und kratzte die schwarzen Stellen vom Brot.
“Der Toast ist angebrannt”, sagte er, wie jeden Tag.
Sie war gerade dabei, der Katze die Milch in eine Schüssel zu leeren, richtete sich bei seinen vorwurfsvollen, leise gesprochenen Worten aber auf und sagte:
“Ich weiß. Es tut mir Leid. Ich habe gerade die Wäsche im Garten aufgehängt.”
Jeden Tag dieselbe Ausrede.
Er wusste nicht, warum sie die Wäsche nicht ein wenig später aufhing - immerhin war sie den ganzen Tag zu Hause, er war es, der von früh bis spät arbeiten musste - und sich stattdessen darum kümmerte ihm ein anständiges Frühstück auf den Tisch zu stellen.
Der Kaffee war fertig.
Sie nahm seine Frühstückstasse, füllte ihn ein und gab zwei Stück Würfelzucker hinein. Mit einem Löffel rührte sie um und stellte die Tasse vor ihn auf den Tisch.
Ohne ein Wort zu sagen, stand er auf, nahm aus der Zuckerschale, die auf der Anrichte stand, ein weiteres Stück Zucker und ließ es in die Tasse fallen.
“Du sollst doch nicht so viel Zucker in den Kaffee tun”, sagte sie.
Er wusste, was der Arzt gesagt hatte - er war schon seit jeher eine gewaltige Naschkatze und sah auch entsprechend aus.
“Anders schmeckt er mir aber nicht”, murmelte er und trank in kleinen Schlucken.
Jeden Tag das gleiche Gespräch.
“Du hast mir in der Nacht wieder die Decke weggezogen”, sagte er leise. Sie schaute auf, sah das amüsierte Funkeln in seinen Augen und legte ihre Hand auf seine.
“Ich liebe dich”, sagte er. “Das weißt du doch, nicht wahr?”
Und sie nickte.

Auf dem Weg zur Arbeit, dachte er über ihre nun schon bald dreißigjährige Ehe nach.
Sie war noch immer so schön wie an dem Tag, als er sie kennen gelernt hatte. Und noch genauso zerstreut. Sie vergaß jedes Jahr seinen Geburtstag, konnte sich nicht merken, dass er Hühnerfleisch nicht ausstehen konnte - weshalb sie beinahe jede Woche einmal auf irgendeine Weise Hühnchen zubereitete.
Wenn er telefonierte, redete sie immer drein und ihre Nägel waren immer viel zu lang, sodass sie ihn beim Liebesspiel oft blutig kratzte.
Er sagte ihr immer sofort, wenn ihn etwas störte, und sie versprach sich zu ändern, sich zu merken, was er sagte und auf ihn einzugehen.
Aber in den ganzen dreißig Jahren war der Toast an einer Seite angebrannt geblieben.

An diesem Tag erhielt er von seinem Chef die Nachricht, dass er beruflich für zwei Wochen nach Amerika reisen musste, um dort eine Präsentation über ihr neues Produkt abzuhalten.
Er war noch nie länger als ein Wochenende von seiner Frau getrennt gewesen, aber er wusste, dass er diesen Auftrag nicht ablehnen durfte. In der Firma, in der er schon seit beinahe drei Jahrzehnten arbeitete, wurden laufend Arbeitskräfte abgebaut, er gehörte mit seinen dreiundfünfzig Jahren schon zum alten Eisen und fürchtete täglich seinen Job zu verlieren.
Auf Grund dessen erklärte er sich nicht nur ‘bereit’, sondern noch dazu ‘hoch erfreut’, diese Reise anzutreten und versprach, die Firma entsprechend zu vertreten.
Wenige Wochen darauf brachte ihn seine Frau zum Flughafen und die beiden trennten sich unter Tränen.

Wie immer, wenn man jemanden liebt und vermisst, vergingen diese zwei Wochen so langsam, als wären es zwei Jahre. Er rief seine Frau täglich mehrere Male an, und sie versicherten sich gegenseitig, dass sie sich liebten und brauchten. Er konnte es kaum abwarten, endlich nach Hause zu kommen.
Nach zwei Wochen holte sie ihn mit dem Auto vom Flughafen ab. Es war kurz nach Mitternacht, er hatte einen Jetlag und schlief die ganze Heimfahrt über. Aber, kaum waren sie zu Hause angekommen, war er putzmunter, und sie liebten sich die ganze Nacht hindurch.
Als er in den frühen Morgenstunden - die Vögel zwitscherten bereits fröhlich - endlich die Augen schloss, dachte er daran, dass bei diesem Liebesspiel irgend etwas anders als sonst gewesen war, und kurz, bevor er in tiefen Schlaf gefallen war, fiel es ihm ein: Sein Rücken brannte nicht. Sie hatte sich die Nägel geschnitten und ihm somit nicht die Haut aufgekratzt.

Am Morgen - eigentlich war es schon fast Mitternacht - erwachte er mit dem glücklichen Wissen, zu Hause zu sein. Seine Hand wanderte auf ihre Bettseite, aber die war leer und schon erkaltet; natürlich war sie schon längst aufgestanden. Bevor er sich selber erhob, bemerkte er - ein wenig verwirrt - die zweite breite Bettdecke, die sie fein säuberlich auf ihrer Bettseite ausgebreitet hatte.
Sie hatte ihm in der Nacht nicht die Bettdecke weggezogen.
Unten in der Küche hörte er sie fröhlich ein Lied vor sich hersummen, und als er den gemütlichen Raum betrat, beobachtete er, wie sie der Katze Milch in die Schüssel leerte.
Sie war so schön, so anmutig und doch leicht zerzaust. Oh, wie sehr er sie liebte!
“Guten Morgen!” rief sie fröhlich, kam mit weit ausgebreiteten Armen auf ihn zu und ließ sich lange von ihm küssen. “Komm, iss etwas, ich habe dir Frühstück gemacht!”
Er setzte sich an den Küchentisch und nahm eine Scheibe Toast aus dem Brotkorb. Er betrachtete ihn überrascht und sagte: “Der ist ja gar nicht angebrannt.”
“Ja, mein Schatz”, sagte sie stolz und lächelte.
Er lächelte zurück, etwas angespannt und registrierte verwundert die leichte Enttäuschung, die er in seinem Inneren verspürte.
Um sich nichts anmerken zu lassen, stand er schnell auf, um sich von der Anrichte ein Stück Würfelzucker zu holen, aber bevor er die Zuckerschale öffnen konnte, sagte sie freundlich: “Ich habe dir schon ein drittes Stück Zucker in den Kaffee getan.”
Er zwang sich zu einem Lächeln und machte wieder kehrt, um sein - so lange erhofftes, endlich perfektes - Frühstück zu genießen.
Aber irgendwie schmeckte es ihm überhaupt nicht.
Als seine Schwester am späten Nachmittag anrief, um sich von seiner Reise berichten zu lassen, zwinkerte ihm seine Frau fröhlich zu und ging dann, ohne ein Wort zu sagen, in den Garten, um die Blumen zu gießen.
Erstaunt bemerkte er, dass er sich nicht auf das Telefongespräch konzentrieren konnte, weil ihm seine Frau fehlte, die sonst regelmäßig mitredete.

An diesem Abend - nach einem weiteren Liebesspiel ohne zerkratzten Rücken - lag er noch lange wach, warf sich ruhelos von einer Seite auf die andere.
Schließlich fragte sie vorsichtig: “Schatz? Geht es dir gut?”
Es entstand eine lange Pause, während der er bekümmert überlegte, was er ihr sagen sollte. Schließlich presste er die Worte hervor: “Liebst du mich noch?”
Und sie antwortete erstaunt: “Natürlich! Wieso fragst du?”
Er murmelte leise, so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte: “Weil alles irgendwie anders ist.”
Aber als sie fragte: “Was meinst du damit?” konnte er ihr keine erklärende Antwort geben.

Am nächsten Morgen erwachte er mit dem Gedanken, dass er verrückt sein musste. Drei Jahrzehnte hatte er fast alles, was sie getan hatte, kritisiert und nun, als sie sich endlich dazu durchgerungen hatte, sich zu ändern, passte ihm das auch nicht. Er konnte sich selber nicht mehr ausstehen.
Er ging hinunter in die Küche und nahm am Küchentisch Platz, während sie der Katze die Milch in die Schüssel leerte. Wehmütig dachte er: “Wenigstens das ist gleich geblieben!”
Sie drehte sich zu ihm um und sagte: “Guten Morgen, Schatz!” Und bevor sie sich wieder der Anrichte zuwandte, sagte sie: “Ach ja, Schatz, ich war vorhin die Wäsche aufhängen, ein bisschen zu lange, wahrscheinlich ...”
Hoffnung keimte in ihm auf, und er griff in den Brotkorb, um eine Scheibe Toast herauszunehmen. Zufriedenheit und Glück durchströmten ihn, als er sich sagen hören konnte: “Der Toast ist angebrannt”, und sie lächelten sich verliebt zu.
Wie jeden Tag.
marie ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.08.2005, 15:25   #2
Löwenzahn
 
Dabei seit: 07/2005
Beiträge: 15


Eine wundervolle kleine Geschichte.

Es ist die Unvollkommenheit, die uns vollkommen macht.

Löwenzahn
Löwenzahn ist offline   Mit Zitat antworten
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