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Alt 02.02.2007, 19:58   #1
Elke K
 
Dabei seit: 03/2006
Beiträge: 31


Standard Totenstille

Totenstille

Der hagere Mann, dick eingepackt in Skihose und farblich passende Jacke, einen grauen, zerfledderten Schal wie einen Turban um den Kopf gewickelt, stapfte angestrengt durch den frisch gefallenen Schnee. Die platten Reifen seines Fahrrads blockierten zwischen herabgefallenen Ästen und verdorrten Eichenblättern. Dicht an dicht stehende kahle Bäume zu umfahren war schwierig. Ingo schwitzte und fror zugleich. Am Lenker schaukelten bis zum Bersten gefüllte Plastiktaschen, auf dem Gepäckträger türmte sich sein restliches Eigentum in einem verbogenen Drahtkorb: Ein zusammengerollter Nylonschlafsack, Wasch- und Rasierzeug, ein Handtuch, ein Paar Gummistiefel und eine kleine, wasserdichte Schachtel mit persönlichen Erinnerungsstücken. Alles war sorgsam mit einem zerfransten Hanfseil verzurrt.

Klamme Feuchtigkeit ließ den Vermummten erschauern. Es war noch einmal Winter geworden, jedenfalls ein kleines bisschen. Nebelfeuchter Rosenmontag. Manchmal hatte die Sonne tagsüber schon genug Kraft und Intensität, um den Mann zu wärmen, zumal, wenn er zielstrebig durch den Stadtwald stapfte. Des Nachts schneite es leicht oder der Himmel klarte auf, um klirrenden Frost auf Straßen, Häuser und Bäume zu verteilen. Mal knisterten die nackten Äste, dann wieder raschelte es im gläsernen Laub und fahles Mondlicht zauberte glitzernde Funken, wie auf Adventskalendern, in den Schnee.

Ingo pfiff eine Melodie aus Kindertagen: „Winter ade, scheiden tut weh …!“
Er freute sich. Heute Morgen, im Obdachlosen-Kontaktladen, hatte er ein wunderbares Geschenk bekommen: Ein Fahrrad!
Wenn auch mit lädierten Speichen und etwas rostig, aber in seiner Situation ein unschätzbares Besitztum. Nun musste er sein Hab und Gut nicht mehr aus Angst vor Dieben den ganzen Tag mühselig mit sich herumschleppen und abends zu seinem Schlafplatz tragen. Er konnte morgens bequem seine Habseligkeiten packen, auf dem Rad verstauen und losschieben. Wie einfach das Leben nun wurde. Welch ein Lichtblick in dieser kalten Jahreszeit.

Im Kontaktladen hatten sie Ingo schon erwartet. Sein angestammter Platz war mit einem Blumenstrauß geschmückt, liebevoll eingedeckt, sogar eine dicke, rote Kerze brannte blakend, nur durch die sich pausenlos öffnende Tür gestört. Alle kamen sie zum Gratulieren! Es war immer etwas Besonderes, wenn einer von ihnen Geburtstag hatte. Dieses alte, vielleicht einzige noch bürgerliche Ritual, Weihnachten einmal ausgenommen, war ihnen wichtig.
An der Wand des überhitzten Aufenthaltsraumes hing ein langer Terminkalender. Jeder, der mochte, trug hier sein Geburtsdatum ein. Zum Ende des Winters wurden vermehrt Namen gestrichen, ein kleines blaues Kreuz dahintergesetzt. Das Leben auf der Straße forderte seinen Zoll.
Nun denn, Ingo war wieder einmal davongekommen und durfte feiern. Seinen Sechsundvierzigsten.
Er stopfte sich mit dick beschmierten Nusscremebrötchen voll, trank Unmengen heißen Kaffee mit sehr viel Zucker, „Energie für den Tag“, lachte und scherzte mit den anderen Obdachlosen.
Gegen Mittag machte er sich dann auf den Weg zu seiner Unterkunft im Wald. Das gespendete Fahrrad wurde sorgfältig beladen, eine Tüte verschiedenster Lebensmittel und eine Zweiliterflasche billigen Rotwein von den Kumpels gab es noch obendrauf.
Eisiger Wind fauchte durch die Bäume. Ein paar letzte, zusammengerollte Eichenblätter knisterten tapfer an den Ästen. Hier war der Wald dicht und unwegsam. Ingo musste das Rad am Sattel anheben, borkige Wurzeln hinderten ihn am Weiterkommen. Dann stand er endlich vor seiner Unterkunft.
Im Herbst hatte er mit einem Klappspaten aus dem Sperrmüll eine tiefe Erdmulde gegraben. Sie war mit Blättern, alten Mülltüten und zerschreddertem Astmulch ausgepolstert. Eine braune, beschichtete Wachstuch-Plane, fixiert durch tief ins Erdreich gestochene Äste, schütze den Bau vor Regen und Wind und ein Wall aus Grassoden, vermischt mit angerottetem Laub bot Schutz vor schmelzendem Schnee. Dort verbrachte der Wohnungslose unbeschadet lange kalte Winternächte und manch nebelschweren Tag.

Zuerst lud er das Fahrrad ab. Mit klammen, trotz der dicken Motorradhandschuhe fast gefühllosen Fingern brachte er die Tüten und den Korb in seine Höhle. Dann pinkelte er hinter den Bau und seufzte zufrieden. Nun musste er nur noch für Wärme sorgen, zumindest solange, bis er tief und alkoholbetäubt einschlafen konnte. Ein kleines, gusseisernes Grillfässchen, auch ein Sperrmüllfund, etwas Holzkohle aus den Resten wilder Grillgelage am nahe gelegenen See gesammelt, trockene Ästchen und etwas Papier zum Anlegen des Feuers - mehr brauchte er nicht. Bald züngelten Flämmchen, gleichzeitig begann die Kohle zu knacken und durch stetiges Pusten orange aufzuglühen. Funken stoben. Er kroch rückwärts in seinen Bau, das Fässchen vorsichtig zwischen den Händen balancierend, zog sorgsam die Plane bis auf einen kleinen Spalt zum Sauerstoffaustausch zu und richtete sein Lager. Knisternd breitete sich wohlige Wärme aus. Ingo entrollte seinen Schlafsack, faltete die Jacke zum Kopfkissen zusammen und packte seine Schätze aus: Dosen-Schinken in Aspik, Vollkornbrot, H-Milch, Nuss-Nugat-Creme, Schokoladentafeln in verschiedenen Geschmacksrichtungen, braune eingedrückte Bananen, ein paar sehr weiche Kiwis – aber durchaus noch genusstauglich – zwei Schnittkäsepackungen und ein Tetrapack Kakao. Gut eingeteilt bedeutete das, wieder eine Woche ohne Hungern überleben, wenn er das tägliche kostenfreie Essen in der Suppenküche nutzte.
Ingo zog sich bis auf die Unterwäsche aus, schlüpfte in den klammen Schlafsack und breitete Anorak und Skihose darüber. Die Höhle wurde warm. Glühende Holzkohlestückchen ließen Kondenswasser an der Plane glitzern. Er schraubte die Weinflasche auf und trank in tiefen durstigen Zügen. Noch ein paar Bissen Nussschokolade, ein paar Schlucke billigen Fusels hinterher, dann rollte er sich auf die Seite, zog den Reißverschluss bis unter die Nasenspitze und schloss die Augen. Wirre Träume begleiteten ihn in der ersten halben Stunde, später versank er in tiefe, alkoholohnmächtige Bewusstlosigkeit. Heute würde er das Mittagessen verschlafen ...

Lautes Grölen und Rufen weckten ihn. Ein wildes Durcheinander von Stimmen schallte durch den Wald.
„Da ist der Rattenbau! Wir haben ihn! Hier lang Jungs, dort ist auch das Fahrrad!“
Irgend jemand kreischte schrill dazwischen.
„Das ist ein Maulwurfshügel von einem Zweibeinigen! Hääh, häh! Los, Silas, hier lang!“
Die Plane wurde zur Seite gerissen. Unrasierte oder langbärtige, dick vermummte Köpfe, dazwischen ein gelblich fahles Frauengesicht mit grell geschminktem Mund, beugten sich über den wirr blickenden Ingo.
„Was wollt ihr denn hier? Seid ihr blöd? Schreit nicht so rum, die Bullen entdecken mich sonst. Mann, bescheuertes Pack! Ich komm’ gleich raus! Seid endlich still!“
Er rappelte sich auf, schlüpfte im Sitzen in Hose, Pullover und Jacke und krabbelte hinaus.

Draußen standen seine vier engsten Saufkumpanen und Eva, eine zierliche, junge Obdachlose, die er erst vor Kurzem kennen gelernt hatte. Man bot ihm Tabak an. Sie rauchten, unterhielten sich nun leise, eine Flasche Wodka kreiste. Es würde nicht bei dieser einen bleiben. Man beschloss, zu einer entfernten Liegewiese zu gehen. Die war jetzt, im eisigen Vorfrühling, verwaist. Nur wenige Menschen ließen nachmittags Hunde über die Lichtung tollen. Dort war man unter sich und es gab Sitzgelegenheiten. Lange zechten sie dort und scherzten lallend über vorübergehende Spaziergänger.
Spät nachmittags schlief Ingo zusammengesunken auf der Bank ein. Weiter und weiter entfernten sich Gelächter und Gemurmel seiner Kumpanen.
Traumloses Vergessen ...

Ein Hund kläffte wild und rannte ungestüm dem fliegenden Ball seines Herrchens hinterher. Er überschlug sich beim Fangen, schnappte zu und fegte dann Böckchen springend über die Wiese.
Ingo schüttelte sich. Steif gefroren, mit pelziger Zunge und dröhnend pochendem Puls im Kopf, reckte und streckte er sich frierend. Blutrote, orange, und gelb angestrahlte Wolken leuchteten unter tief türkisfarbenem Himmel. Eine winzige Mondsichel stand schon im Osten weißsilbrig am Firmament.
„Ich bin aber auch zu blöd. Wieder mal zu viel gesoffen. Und die lassen mich einfach liegen. Tot hätte ich sein können. Scheiße“, murmelte Ingo vor sich hin.
Er rappelte sich auf. Frierend stakste er querfeldein zu seinem Unterschlupf. Unterwegs verlor er mehrmals die Orientierung, musste ein Stück Weges zurückgehen und sich einmal vor einem Streife fahrenden Polizeiwagen verstecken. Endlich erreichte er das schützende Dickicht. Er freute sich auf die Restwärme des Holzkohlegrills und Kakao. Mann, hatte er Durst.
Ingo stolperte an einer Eiche vorbei und bahnte sich den Weg durch das Eibengestrüpp. Nur noch ein paar Schritte.
Sein Bau war zerstört …
Tüten lagen zerfetzt herum, der Erdwall war auseinander getreten, die Höhle teilweise eingestürzt. Äste ragten kreuz und quer schief in den dunkler werdenden Himmel. Leere Schnapsflaschen, Scherben einer am Baum zerschellten Weinflasche, Papier und ein riesiger Haufen menschlicher Exkremente. Dazwischen glommen kleine Holzkohlestückchen wie statisch gewordene Irrlichter. Das Fahrrad war samt Korb verschwunden, nur das Seil kringelte sich wie eine erfrorene Schlange im Laub. Sogar die Plane hatten sie mitgenommen.
Ingo hockte sich ins Gras und weinte.

Lange saß er so und dachte schluchzend über die letzten Jahre nach. Flucht aus der ehemaligen DDR, der neue Anfang. Auto, Wohnung, Urlaube. Dann Arbeitslosigkeit, Schulden, Mietrückstände, Räumungsklage. Im Männerwohnheim später der immer stärker werdende Druck zum Trinken. Schließlich flog er auch da raus. Das Leben hier im Wald hatte ihm wieder einigermaßen Sicherheit gegeben. Eine Aufgabe. Er musste sich kümmern und versorgen. Die tägliche Einsamkeit und das Nachdenken taten ihm gut. Er begann sich selbst kennen zu lernen. In seiner Höhle träumte er oft von einer kleinen Hütte in Schweden, wo er als Forstwart Hüter und Wächter über Wälder und Seen werden wollte. Im folgenden Sommer würde es gelingen. Ingo trank nur noch zu besonderen Anlässen, oder wenn die Nächte zu kalt zum Einschlafen waren.

Jetzt war er wieder obdachlos.
Alles, was er mühsam zusammengetragen hatte, war mutwillig zerstört oder gestohlen. Ingo wischte sich schniefend den Schnodder am Jackenärmel ab. Schluckte, hustete heiser und schüttelte murmelnd den Kopf.
Schlurfend, das zerschlissene Tau hinter sich herziehend, machte er sich auf den Weg zurück zur Liegewiese. Die Mondsichel stand jetzt direkt über ihm, Sternbilder funkelten am schwarzblauen Himmel. Frost kicherte lauernd auf Laub bedecktem Waldboden, Grashalme hatten sich weiß verkleidet - Rosenmontagskostüm.
Direkt an der Lichtung stand ein alter, entrindeter Baum, schräg einbetoniert, mit trittbreit abgesägten Ästen, Kletterbaum für kleine Cowboys und Indianer. Ingo blickte empor.
Es würde gehen. Ja, das würde gehen …
Er kletterte hinauf.
Oben auf dem vorletzten Ast kauerte er sich hin, erst schwankend, dann das Gleichgewicht haltend. Lange blickte er in die Runde. Weit konnte er schauen. Auf der einen Seite die lärmende Stadt mit ihren hellen Neonlichtern und den gemütlichen Stuben, den vollen Läden und übersättigten, hochmütigen Menschen. Irgendwo dort waren auch seine Kumpels, die jetzt kichernd über Wärme spendenden Abluftschächten saßen. Auf der anderen Seite, im Halbrund, der stille tiefschwarze Wald, friedvoll ruhend, dem Frühling entgegenschlafend.
Ingo knotete das Seil am obersten Aststumpf fest, schlang es um den Baum und knüpfte es zur Sicherheit noch einmal an den Stumpf. Er flocht eine dicke, sich selbstzuziehende Schlaufe, legte sie um den Hals.
Dann sprang er ...

Ingo starb still.


(c) Elke Kemna
Elke K ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.02.2007, 21:28   #2
Elke K
 
Dabei seit: 03/2006
Beiträge: 31


Jetzt danke ich Dir, Volker, für Deinen verständigen Kommentar.

Heile Welt, schöne Geschichten, saubere gradlinige Menschen - darüber wird genug geschrieben.
Den Blick für das alltäglich Elend und den Tod zu schärfen, das ist mein Anliegen: die Beschreibung des Lebens in den dunklen Ecken unserer übersatten taub-stummen Gesellschaft, dort wo es stinkt, röchelt und dreckig ist.
Elke K ist offline   Mit Zitat antworten
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