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Alt 01.07.2023, 16:18   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Sag mir Tag: Bist du noch? Und wenn ja, wie viele?

"Alt werden ist scheiße! Auf allen Pflegeprodukten in meinem Badezimmer steht 'Repair' drauf. "

So die Schauspielerin Iris Berben in einem Interview, obwohl sie mit über siebzig Jahren noch spitze aussieht. Ich fühle mich ertappt: Auch auf meinen Cremes, Lotions, Haarspülungen und sonstigem Zivilisationskram locken Versprechungen wie 'Repair', '60 plus', 'Pflegegarantie oder 'Neue Rezeptur', auf die ich tagtäglich hereinfalle, obwohl ich längst weiß, dass sie unerfüllbar sind und nur dazu dienen, namhaften Konzernen aktionärsfreundliche Viertel- oder Ganzjahresabschlüsse zu bescheren.

Dabei wäre es für mein Wohlbefinden völlig egal, ob ich mich unter der Dusche mit Lotion einschäumte oder einfach zur Kernseife griffe, wie einst meine Großmutter, die zeit ihres Lebens eine zarte, gesunde Haut wie ein neugeborenes Ferkel hatte. Denn ich fühle mich kein bisschen alt und bin mir sicher, dass dies nicht auf eine Kausalität mit all den Tuben, Tiegeln und Plastikflaschen zurückzuführen ist, die immer mehr geworden sind, weil ich ständig neue hinzugekauft habe, bevor die alten aufgebraucht waren. Zugegeben: Es wäre übertrieben, zu behaupten, ich hätte noch die Spannkraft wie mit achtzehn, aber – sagen wir – ziemlich glaubhaft wie mit fünfunddreißig. Meine Neugier auf die Welt hat nicht nachgelassen, und noch läuft mein Motor wie geschmiert. Wenn ich in der City auf den Stufen, die von der S-Bahn-Station zur Fußgängerpassage hochführen, wie eine Gazelle junge Frauen überhole, die sich fluchend wegen der defekten Rolltreppen nach oben schleppen, wächst mein Selbstwert über mich hinaus, ohne dass ich mir wegen mangelnder Demut ein schlechtes Gewissen mache.

Ich hätte also allen Grund, dauerhaft gut gelaunt zu sein, ballerte mir nicht jeden Morgen das Datum meiner Lokalzeitung die Wahrheit in die Pupillen: "Nimm mich zur Kenntnis, ich bin der erste Tag deines restlichen Lebens!" Dann frage ich mich, wie grausam der Mensch gewesen sein musste, der die Kalenderrechnung erfand, und jedes Mal hoffe ich, man habe ihn dafür auf dem Scheiterhaufen bei lebendigem Leib gebraten. Mir hätten der Lauf von Sonne und Mond und der Wechsel der Jahreszeiten zur Orientierung völlig genügt. Aber nein, ich muss jeden Morgen die Zeitung aufmachen, um als verantwortungsvolles Mitglied der Gesellschaft informiert zu sein; und zum Dank für die Wahrnehmung meiner Bürgerpflicht springt mich dieses vermaledeite, hundsgemeine Datum an, das mir sardonisch ins Gesicht lacht, wann immer ich es sähe, sei mein erster Tag vor dem Abstieg ins Gottweißwas. So ganau konnte mir nie jemand verklickern, wohin.

Sag mir Tag: Bist du noch? Und wenn ja, wie viele?

Allgemein heißt es: Wenn man älter wird, vergehe die Zeit immer schneller. Ich habe diese Behauptung überprüft und festgestellt, dass sie eine klassische Bullshit-Aussage ist. Die Zeit verläuft in immer gleichem Tempo, egal wie alt man ist, solange man sich nicht in die Galaxien schießen lässt und erst nach ein paar Millionen Jahren zur Erde zurückkehrt. Mit nur dem Bruchteil einer Apollo-Missionssekunde oder selbst einer vollen Sekunde Gewinn werde ich Moses keine Konkurrenz machen können. Und auf das Abenteuer, auf einer Erde in ferner Zukunft zu landen, die entweder komplett unter Wasser steht oder unter tropischen Temperaturen wiederholt fleischfressende Riesenechsen beherbergt, will ich lieber verzichten. Tatsache ist: Die Zeit ist nicht schneller, sondern ich bin langsamer geworden. Alles, was ich machen will, mache ich zwar noch, aber es dauert länger. Es ist wie mit dem blödsinnigen Fußball-Reporter-Spruch, der klassischerweise kommt, wenn der Rasen vor Regennässe trieft: "Der Ball wird immer schneller."

Das muss man sich mal vorstellen: Nur, weil die Grashalme in einem nassen Zustand sind, können sie dem Ball, von einem Angreifer losgekickt, nochmal einen Zusatzschwung geben, damit dieses Sportgerät schneller wird. Kickende Gräser! Da muss einem Rasenwart das Herz aufgehen, denn ein Millionenvertrag ist ihm sicher, wenn er versteht, die Hälmchen richtig zu konditionieren.

Nein! Es gibt keine Gräser mit Teamgeist in Angriff und Mittelfeld, und schon gar keine, die Partei für eine Mannschaft ergreifen. Die Wahrheit ist, dass der Ball auf nassem Rasen weniger stark abgebremst wird, weil er weniger Reibungsfläche hat. Er wird nicht schneller, sondern bleibt länger schnell. Eine optische Täuschung, von einem Reporter in der Steinzeit als Metapher rausgegeben und mittlerweile so oft zitiert, dass Millionen von Zuschauern sie als ein physikalisches Naturgesetz für bare Münze nehmen. Kurz: Bullshit. Wie so viele Bullshit-Weisheiten, die heruntergebetet werden.

Die nächste Bullshit-Aussage geht so: Kinder machten sich weniger Gedanken um Sterben und Tod als ältere Menschen. Stimmt nicht. Klassische Fallbeispiele: toter Vogel, tote Maus. Jedes Kind wird im frühen Alter mindestens einmal mit dem Anblick eines Tierkadavers konfrontiert. Das muss weder Vogel noch Maus sein, aber meistens ist es das. Manchmal sind es auch andere, in Freiheit lebende Stadt-Land-Tier, wie zum Beispiel Ratte, Eichhörnchen oder Wildkaninchen. Gelegentlich ein Fuchs. Aber egal, um welches Tier es sich handelt, das Kind stellt die Frage, weshalb der Vogel nicht mehr fliegt, die Maus nicht mehr possierlich ihre Umgebung erkundet und das Eichhörnchen auf dem Asphalt kleben bleibt. Erklärt man dem Kind den Unterschied zwischen Leben und Tod, kommt zwangsläufig die Frage: "Muss ich auch einmal sterben?"

Dummgepuderte Eltern sagen dann, um ihr Kind vor seelischem Schaden zu bewahren: "Ja, aber nicht heute." Kluge Eltern erklären dem Kind …

… ja was? Auch mein Sohn hatte mir diese Frage gestellt, und ich weiß ums Verrecken nicht mehr, wie ich damals aus dieser Nummer rauskam. Aber wie ich mich kenne, gehe ich davon aus, dass ich ihn mit Ehrlichkeit nicht verschonte.

Seitdem läuft er um sein Leben. Nicht seit seinen jungen Jahren, da machte er die Schotten dicht, und wenn er sie öffnete, nahm er am Leben der Jugend teil, wo immer einer seiner Freunde die Wutz rausließ. Aber eines Tages begann er zu laufen. Seit zwanzig Jahren ist er Triathlet, und mittlerweile ist ihm der Ironman nicht genug: Er macht den Triple-Triathlon. Immer noch eins draufpacken!

Irgendwann werden wir verlieren. Ich werde verlieren, auch wenn ich nur langsam altere und immer noch fit bin. Mein Sohn wird verlieren, mag er auch bei noch so vielen Extrem-Wettkämpfen ins Ziel kommen. Wir werden verlieren, weil der Tod nicht an Zeitverlauf und Leistung gebunden ist. Irgendwann ist er einfach da und holt uns ab.

Und dann wird auf meinem Grabstein stehen: "Gestorben am ersrten Tag vom Rest meines Lebens … und am letzten."

01.07.2023
__________________

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