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Alt 19.06.2020, 15:11   #1
männlich Tommi
 
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Standard Paracelsus würde Ravioli empfehlen

Als alleinstehender Mann mittleren Alters bin ich aufrichtig bemüht, mich nicht gehenzulassen. Weder äußerlich - ich wasche mich mehrmals die Woche und ziehe jeden dritten Morgen frische Unterwäsche an, noch innerlich – ich lese nicht nur Bild, sondern auch Stern und Kicker.
Warum kommen mir gerade jetzt diese Zeilen eines alten Chansons von Charles Aznavour in den Sinn?

Du bist so komisch anzuseh‘n.
Denkst du vielleicht, dass find ich schön?
Ich kann dich einfach nicht mehr seh’n.
Mit deiner schlampigen Figur
gehst du mir gegen die Natur.


Ja, nicht nur Frauen sollten sich nicht gehen lassen, auch Männer. In dieser Frage bin ich voll emanzipiert. Und damit ich nicht aus den Nähten platze, versuche ich beim Essen Maß zu halten und mich abwechslungsreich zu ernähren.
Gerade jetzt zum Beispiel, bin ich dabei, mir zum Mittagessen eine Dose Ravioli aufzuwärmen. Ravioli werden im Allgemeinen von den Ernährungspäpsten verteufelt. Völlig zu Unrecht, wie ich finde.
Eure Nahrung soll Eure Medizin sein, und Eure Medizin soll Eure Nahrung sein, sagte bereits Paracelsus, der alte Schweizer Quecksilber-Junkie.
Und das ist auch mein Motto. Allerdings stehe ich, im Gegensatz zu ihm, dem Quecksilber etwas kritischer gegenüber.

Ravioli jedoch, gehören eindeutig zu einer zeitgemäßen, prophylaktischen und therapeutischen Ernährung. Liefern sie uns doch sowohl tierisches Eiweiß, als auch pflanzliches. Dazu Lycopin und Carotinoid aus den Tomaten. Zur Abwehr von Herzinfarkt und Krebs.
Also, was will Mann mehr?

Während ich einen sauberen Topf suche, verschwindet das Bild von Aznavours schlampiger Frau und ein anderes, viel älteres erscheint vor meinem geistigen Auge.
Gedanklich gehe ich zurück in eine Zeit, in der ich mich gerade von meinen Eltern abgenabelt hatte und in eine eigene Wohnung umgezogen war. Es war keine Wohnung im engeren Sinne, sondern lediglich ein einzelner Raum, in dem ich aber alles was ich brauchte, unterbringen konnte.

Ich feierte an jenem denkwürdigen Tag, zusammen mit ein paar Freunden, in unserer Stammkneipe meinen neunzehnten Geburtstag. Als der Wirt begann, die Stühle auf die Tische zu stellen, verabschiedeten sich meine Kumpels und zogen wankenden Schrittes gen Heimat. Nur Klaus, mein bester Freund, verspürte noch keine Lust, diesen Samstagabend zu beenden.

„Hast du noch was Trinkbares in deiner Garage?“,fragte er.
Tatsächlich war meine neue Wohnung ursprünglich eine Garage. Sie war hinter dem Haus meines Vermieters über einen schmalen Weg durch dessen Vorgarten zu erreichen. Mein Vermieter hatte sie mit handwerklichem Geschick mit einem Fenster versehen und das Garagentor durch eine alte Holztür ersetzt, mit Strom und Wasser versorgt und dreißig D-Mark Miete verlangt.
„Bier und Apfelkorn hab ich noch“, antwortete ich.
Also ab in die Garage.

Als dann Bier und Apfelkorn zur Neige gingen, verspürten Klaus und ich einen nagenden Hunger. In meinem Vorratskeller, der aus einem unlackierten Regalbrett bestand, das neben dem emaillierten Waschbecken an der Wand hing, fand ich eine Dose Ravioli. Die wollten wir uns brüderlich teilen.
Während ich der Dose mangels geeigneten Öffners mit meinem Taschenmesser zu Leibe rückte, machte sich Klaus auf meinem Sofa lang.
Ich weiß noch, dass mich ein heftiger Schmerz an meiner Hand plötzlich, jedoch nur für vielleicht eine Minute, beinahe wieder nüchtern werden ließ. Mit einem Geschirrtuch um die stark blutende Wunde gewickelt, leerte ich den Inhalt der Dose in einen Topf. Den stellte ich auf meine elektrische Kochplatte.
Das Letzte, an das ich mich von diesem erhabenen Gefühl der Nahrungszubereitung erinnern konnte, war das kleine rote Licht, das aufleuchtete, als ich mit dem Drehknopf den Strom einschaltete.

Was danach geschah, erläuterte mir etwas später der Mann von der Feuerwehr.
„Ich stelle mir das so vor“, begann er seine Diagnose.
„Du hattest den Topf mit den Ravioli aufgesetzt und bist dann in deinem Sessel eingeschlafen. Dein Kumpel schlief bereits auf dem Sofa und hat ebenfalls nichts mitbekommen. Jedenfalls haben wir euch friedlich schlummernd so vorgefunden. Dann, als alle Flüssigkeit im Topf verdampft war, fing sein restlicher Inhalt tierisch an zu qualmen. Da das Fenster geöffnet war, drang der Rauch nach außen, woraufhin dein Vermieter und die Nachbarn an ein Feuer dachten und die Feuerwehr angerufen haben. Wir bekamen fast zeitgleich vier Anrufe“.
„Aha“, sagte ich. „Wo ist Klaus überhaupt?“
„Der hat zu viel Qualm eingeatmet und schnuppert an der Sauerstoffflasche im Krankenwagen“, antwortete der Feuerwehrmann.

Damals schwor ich mir, niemals wieder Ravioli zu essen. Diesem Schwur blieb ich auch viele Jahre über treu.
Doch mit zunehmendem Alter wird man schließlich weiser.
Paracelsus sei Dank.
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