Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 27.12.2019, 18:38   #1
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.089


Standard Der Silvesterkarpfen

Mascha war mit ihrem Beutezug zufrieden. Gutgelaunt stellte sie den Plastikbottich, den sie mit einer losen Plane bedeckt hatte, auf den Boden der Beifahrerseite, setzte sich hinter das Steuer und stellte das Radio an.

Der Sender spielte „99 Luftballons“, ein Song, den sie gerne hörte, obwohl ihr Nenas vernehmbares Luftholen vor jedem neuen Vers auf die Nerven ging. Die Luftballons schienen Mascha jedoch das richtige Stimmungsbild für die bevorstehende Silverstergaudi zu malen, und so pfiff sie die Melodie fröhlich mit und ließ mit jedem Meter Asphalt den Stress des Vormittags hinter sich.

Die Fahrt in die Stadt war nerviger gewesen, als Mascha sich vorgestellt hatte, und das sollte etwas heißen, denn an Phantasie hatte es ihr nie gefehlt. Nachdem sie sich in der Autoschlange der Invasoren aus dem Umland nach vorn gekämpft und die Auffahrtspirale des Parkhauses erobert hatte, musste sie bis zum obersten Deck fahren und die gesamte Runde drehen, bis sich ihr endlich der letzte freie Platz spöttisch präsentierte, als hätte er gewusst, dass er zu eng war für ihren fetten SUV, der eigentlich Vaclavs SUV war. Nach drei Anläufen rückwärts war es ihr endlich gelungen, die „Trotzburg“, wie sie den SUV nannte, einzuparken und ihr schlechtes Gewissen darüber zu ignorieren, dass der Fahrer des danebenstehenden Porsches kaum in der Lage sein würde, seine Autotür mehr als zehn Zentimeter breit zu öffnen. „Soll er doch durch das Schiebedach reinsteigen,“ sagte sich Mascha schulterzuckend und war losgegangen, um ihre Mission zu erfüllen.

Vaclav hatte darauf bestanden, weil sein Boss ihn nicht von der Kette gelassen hatte, sonst wäre er, Vaclav, selbst in die Stadt gefahren. Denn hier befand sich das einzige Fischgeschäft im Umkreis von fünfzig Kilometern, das lebende Exemplare an Aalen, Karpfen und Krabben verkaufte. Und Vaclav hielt nun mal an der Familientradition fest, den Silvesterabend mit der Zubereitung eines Karpfens zu beginnen, der so frisch sein musste, dass von seinem letzten Flossenschlag bis zur gesalbten Bettung in den Bräter keine fünfzehn Minuten vergehen durften. „Wie soll das gehen?“, hatte Mascha gefragt, „in fünfzehn Minuten töten, ausnehmen, schuppen und würzen?“ Vaclav hatte mild gelächelt: „Lass mich nur machen, ich bin damit aufgewachsen.“

Er hatte Mascha genaue Anweisungen gegeben, wie der Karpfen ihrer Wahl auszusehen hatte. „Lass dir keinen alten Opa andrehen, aber zu jung darf er auch nicht sein. Schau dir die Kiemen genau an.“ Und dann folgte ein Vortrag, wie man das Alter eines Fisches bestimmt und wann er der Mühe wert ist, gefangen, gefoltert, hingerichtet, küchengeadelt und geröstet zu werden.

„Keine Angst,“ setzte Vaclav hinzu, „den Kopf schlage ich ich ihm selbst ab. Und das Schuppen erledige ich auch. Du brauchst danach nur die Küche zu putzen.“

Mascha war nach Vaclavs beschwichtigenden Worten einigermaßen beruhigt. Sie waren erst seit acht Monten verheiratet, und sie hatte noch viel über ihn zu lernen.

Als sie vor einer Ampel halten musste, fiel ihr Blick auf den Bottich auf dem Boden neben ihr. Der Karpfen, auf der Suche nach Freiheit, bäumte sich heftig gegen die Plane auf, so dass sich auf ihrer Oberfläche Erhebungen wellten. „Ich kann dich gut verstehen,“ murmelte Mascha. „Mir wäre der Bottich auch zu eng, und am liebsten gäbe ich dich dem Teich zurück, in dem du gezüchtest wurdest. Aber niemand kehrt jemals in seinen Teich zurück.“

Die Ampel schlug auf Grün um, Mascha legte seufzend vor Mitleid mit dem Karpfen den Gang ein und fuhr weiter. Sie erreichte die Landstraße und war auf dem Weg nach Hause, keine zehn Minuten mehr zu fahren.

Hier draußen war es dunkel, und weil ihr niemand entgegenkam, den sie hätte blenden können, schaltete sie das Fernlicht ein. Die Musik im Radio hatte aufgehört, denn die Stunde war voll und die Zeit gekommen, neue Nachrichten durchzusagen.

Plötzlich fuhr etwas seitlich von Mascha hoch und landete, Nass versprühend, in ihrem Schoß, etwas, das wild mit den Flossen schlug, nach Luft schnappte und nach fauligem Meer stank. Sie erschrak, verriss das Lenkrad, schlingerte die Straße entlang und donnerte mit der Wucht des tonnenschweren SUVs gegen den Betonpfeiler einer S-Bahn-Brücke.

Der Rettungsdienst brachte Mascha schwer, aber nicht lebensbedrohlich verletzt, in das nächstgelegene Krankenhaus. Die Ursache des Unfalls blieb ungeklärt.

Der Plastikbottich wurde von Landschaftsreinigern irgendwann aufgelesen und entsorgt. Der Karpfen starb den Erstickungstod und diente mindestens einhundert biologisch-wissenschaftlich verbürgten Spezies weit über Silvester hinaus der Aufzucht ihrer Nachkommenschaft.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Der Silvesterkarpfen




Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.