Stimmungsbrillen

[AnnaWagner]

Jeden Morgen bevor ich aufstehe, setze ich mir eine Brille auf. Ich besitze viele Brillen. In allen möglichen Farben und Formen. Manche hab ich lieber als andere, doch will ich keine benachteiligen und setze alle ab und zu mal auf. Einige mal mehr, andere mal weniger.

Letzten Dienstag hatte ich zu Beispiel meine schwarze, eckige Brille auf. Das Gestellt ist etwas zu eng am Kopf und bereitete mir so ziemliche Kopfschmerzen. Als ich aus dem Fenster blickte, regnete es in Strömen. Auf dem Weg zur Arbeit begegneten mir nur griesgrämige Menschen und lustlos schlug ich die Stunden des eintönigen Tages tot. „Was ist das nur für eine Welt in der wir leben?“, dachte ich bei mir. Über Nacht machte ich den Fehler und ließ die Brille ausversehen auf. Und was hatte ich davon? Albträume.

Am nächsten Tag sah die Welt dann aber zum Glück schon ganz anders aus. Ich hatte meine knallgelbe Brille auf und als ich aus der Tür ins Freie trat, begrüßte mich der Sonnenschein. Auf dem Weg zur Arbeit pfiff ich ein lustiges Liedchen vor mich hin und brachte zum Arbeitsbeginn erstmal allen Kollegen einen Kaffee, über den sich alle wahnsinnig freuten.

Übers Wochenende setzte ich meine rosarote Brille auf. Es war ein sehr schönes Wochenende. Überall sah ich Herzchen und rote Rosen. Das einzige Problem an dieser Brille ist nur, dass sie etwas dreckig ist und man so überhaupt nichts klar sieht. So bin ich zum Beispiel am Samstag die ganze Zeit einer falschen Person hinterhergelaufen und am Sonntag durfte ich Bekanntschaft mit einem Laternenpfosten schließen.

Passend zum Wochenbeginn kramte ich wieder einmal meine feuerrote Brille, die mit Nieten besetzt war, hervor. Niemand konnte mir an diesem Tag etwas recht machen. Der Computer war zu langsam, meine Arbeitskollegin telefonierte zu laut und mein Chef dachte sich, dass er mich vor gesammelter Mannschaft zur Schnecke machen musste. Ich qualmte förmlich, als ich das Büro verließ. Zuhause musste ich mich erstmal unter der Dusche etwas abkühlen. Das ging dann auch ganz gut, denn zum Duschen muss man ja die Brille abnehmen.

Gestern hatte ich meine selten benutzte Röntgenbrille auf. Damit hab ich immer total den Durchblick. Rita, die total geknickt am Tisch saß. Beziehungsdrama. Jens, der sie immer wieder heimlich anstarrte. Total in Rita verknallt. Sandra, die seufzend gen Bürodecke blickte. Sehnte sich nach ihrer Jogginghose und einer Folge „Berlin, Tag und Nacht“.

Heute setzte ich dann zum ersten Mal in meinem Leben meine neuen Kontaktlinsen ein. Gewöhnungsbedürftig. Aber durchaus nicht schlecht. Ich sah die Dinge endlich mal so, wie sie waren und nicht wie sie mir sonst immer durch irgendeine Stimmungsbrille schienen.

[DieSilbermöwe]

Eine hübsche Idee für eine Geschichte und schön flüssig geschrieben!
Gefällt mir sehr gut.

[AnnaWagner]

Freut mich zu hören

LG Anna