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Alt 08.09.2011, 00:45   #1
weiblich Philo so Fisch
 
Dabei seit: 09/2011
Alter: 31
Beiträge: 9


Standard eine Geschichte - ein Leben

Die Scheibe der Bushaltestelle war von ihrem Atem beschlagen, man konnte kaum noch die Straße dahinter erkennen. Die grauen Haare fielen ihr ins Gesicht und tanzten im Wind leicht hin und her. Der Fluss wälzte sich schwarz und träge, mit tiefen, glucksenden Lauten unter der hölzernen Brücke. Eine einzige Laterne, mit verstaubten und zerschlagenen Scheiben, stand da. Der Schein des unruhig vor den Windstößen sich duckenden Lichts fiel dann und wann auf eine treibende Welle und zerfloss auf ihrem Rücken. Die ersten Schneeflocken des Jahres schwebten zart und leicht durch die kalte Nachtluft und wurden Teil des Wassers sobald sie auf der unruhigen Oberfläche landeten. Olivias Gesicht rutschte entlang der Scheibe ein Stück tiefer, was ihre Brille noch schiefer auf ihrer Nase rückte. Das orange Licht der Straßenlaterne ließ das Gesicht der alten Dame noch blasser wirken als es war. Wie ein schlafendes Gespenst sah sie aus. Ein Laster bretterte über die Brücke und ließ die sie zusammenzucken. Mit verwirrtem Blick richtete sie sich auf und rückte ihre Brille gerade. Ein Frösteln durchzuckte sie bis in die Fingerspitzen. Sie zog ihren etwas in die Tage gekommenen Mantel enger um sich und rieb sich die eiskalten Hände. Jede Nacht bedeutete für sie ein Nichts, ein Grab, ein Ausgelöscht werden. Das Vermögen, sich jeden Tag sterben zu legen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, hatte sie in all den Jahren ihrer Obdachlosigkeit noch nicht erlernt.

Die Nacht war noch jung aber es war zu kalt um draußen zu schlafen, also beschloss Olivia zum Bahnhof zu gehen. Vielleicht hatte heute der junge Orhan Schicht, der ließ sie manchmal in der Bahnhofshalle schlafen, ohne sie fortzuscheuchen. In so einer eisigen Nacht wie heute hätte er bestimmt Mitleid mit einer armen alten Frau. Sie hatte Glück, der junge Sicherheitsbeamte ließ sie zufrieden als sie es sich auf einer der Wartebänke gemütlich gemacht hatte. Seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er mit dieser Situation nicht besonders glücklich war, aber er ließ sie gewähren. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, würde aufgedeckt werden, dass er sie öfter hier übernachten ließ, verlöre er bestimmt seinen Posten. Zwar wusste Olivia nichts außer den Namen des Mannes, aber das hier ist ihre Geschichte und in ihrer Geschichte hatte Orhan eine Frau und zwei kleine Kinder zu Hause, für die er sorgen musste. Als er vor zehn Jahren nach Österreich kam, hatte er kaum Geld und keine Bekannten oder Verwandten hier. Mittlerweile lebt er mit seiner Familie in einer schönen Mittelklassewohnung und arbeitet hart für sein Geld und um seinen Kindern so viel zu bieten, wie ihm möglich ist.

Wenn sich Olivia Lebensgeschichten für Menschen ausdenkt, die sie kaum kennt, hat sie immer das Gefühl versagt zu haben. In ihrer Phantasie schaffen es alle Menschen sich aus schwierigen Lebenssituationen zu befreien, doch sie selbst steckt seit Jahren im Teufelskreis der Armut fest. Wenn sich die Tage der Woche bleiern einer nach dem anderen über ihr Leben legen, hat sie das Gefühl in einem Zeitloch zu stecken, aus dem sie nicht entkommen kann. Alles fliegt an ihr vorbei, doch sie ist nur stumme Beobachterin. Die Antworten schienen ihr zum Greifen verständlich zu sein und sich doch nie restlos in Worte und Gedanken auflösen zu lassen. Zwischen den rettenden Ereignissen und ihrem Ich, das nach Verständnis begehrte, blieb immer eine Scheidelinie, die wie ein Horizont vor ihrem Verlangen zurückwich, je näher sie ihr kam. Ja, je genauer sie ihre Empfindungen mit den Gedanken umfasse, je bekannter sie ihr wurden, desto fremder und unverständlicher schienen sie ihr gleichzeitig zu werden, so dass es nicht einmal mehr schien, als ob die Linie vor ihr zurückwiche, sondern als ob sie selbst sich von ihr entfernen würde, und doch die Einbildung, sich ihr zu nähern, nicht abschütteln konnte. Die hohen Wände der Bahnhofshalle schienen ihr zu drohen sich auf sie zu stürzen, wie mit blutigen Händen nach ihr zu greifen.

Draußen auf den Gleisten rauschte ein Nachtzug zwischen den Bahnsteigen hindurch. Die Nähe zu den Zügen beruhigte sie. Ihr Vater war seinerzeit Schaffner gewesen. Oft hat sie ihn zum Bahnhof gebracht und ihn in die Fremde verabschiedet. Bis er wiederkam lief sie jeden Tag nach der Schule zum Bahnhof um auf ihn zu warten. Oft saß sie stundenlang neben den Gleisen und sah die Züge ein- und ausfahren. Sie beobachtete die Menschen die in die Züge stiegen um in fremden, exotischen Gegenden Abenteuer zu erleben. Das kleine Mädchen spielte so manches Mal mit dem Gedanken sich einfach in einen der Züge zu setzen, weit weit wegzufahren und irgendwo in einem fernen Land ein neues, aufregendes Leben zu beginnen. Das einzige, das sie davon abhielt war die Angst vor dem Ungewissen und die Liebe zu ihrem Vater, den sie schließlich schrecklich vermissen würde. Heute hat sie niemanden mehr den sie hier vermissen würde. Und umgekehrt vermisse sie auch niemand. Sie hatte keine Kinder, die Eltern liegen lange Zeit schon unter der Erde. Ihre Freunde hatten alle, vor Jahren schon, den Kontakt abgebrochen. Es gab nur noch Olivia. Doch sie wollte raus aus der Anonymität, versuchte verzweifelt mit wildfremden Menschen Gespräche ins Rollen zu bringen, nur um jemanden ihre Geschichte erzählen zu können. Sie will nicht in Vergessenheit geraten. Nach ihrem Tod muss es doch wenigstens eine Seele geben, die sich an sie erinnert. Vielleicht findet sie ja eines Tages jemanden, dem es genauso ergeht wie ihr, mit dem sie Gedanken und Gefühle teilen kann. Einen Weggefährten.

Bevor sich ihre Augen endgültig zum Schlafe schließen konnten, zog das kleine Fenster hoch über den Ticketschaltern ihren Blick an sich. Dort sahen die Wolken vom Himmel herab und reglos der Mond. Das war, als ob sie plötzlich in die frische, ruhige Nachtluft hinausgetreten wäre. Eine Weile wurden alle Gedanken ganz still.

Dann war etwas zum ersten Mal, wie ein Stein, in die unbestimmte Einsamkeit ihrer Träumereien gefallen. Es war ihr nur so durch die Grenzen des Bewusstseins geschossen – blitzschnell und undeutlich weit - am Rande – nur wie im Fluge gesehen – kaum ein Gedanke zu nennen. Sie erinnerte sich an ein paar Zeilen aus einem Gedicht, das sie in der Schule einmal gehört hat:

Aus Wunsch ist Hoffnung geboren
Sie drängt uns zu verstehen
Ohne sie wären alle im Strudel der Zeit verloren,
sie zwingt weiter zu gehen

Hoffnung die Sehnsüchte zu stillen
Von Traurigkeit und Leere frei
Sehnsucht hat man gegen seinen Willen
Doch wer keine Hoffnung hat, geht am Leben selbst vorbei

In ihrem Kopfe stiegen die Gedanken wild und ungeordnet in die Höhe wie Blasen in siedendem Wasser. Das „unverstanden fühlen“ und das „die Welt nicht verstehen“ ist eine Flucht, auf der das Zuzweiensein nur eine doppelte Einsamkeit bedeutet.

Gegen fünf Uhr früh wurde Olivia von Orhan geweckt, er bat sie höflich das Gebäude jetzt zu verlassen. Als sie hinaus ins Freie trat war der ganze Schnee von gestern Nacht verschwunden. Es musste in den letzten Minuten ein reicher Regen gefallen sein, - die Luft war feucht und schwer, um die Laternen zitterte ein bunter Nebel und die Bürgersteige glänzten stellenweise auf.
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