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Alt 23.09.2017, 18:21   #1
weiblich Ilka-Maria
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Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.076


Standard Die Qual der Wahl

Die Entscheidung muss fallen: Entweder ich trenne mich jetzt von einem Großteil meiner Bücher, oder mein Erbe hat eines Tages ein Entsorgungsproblem, das er sehr wahrscheinlich radikal lösen wird. Also mache ich mich an die Arbeit und sortiere aus, solange ich noch bestimmen kann, was aus all diesen Schmuckstücken werden soll.

Von Hemingway bis Houellebecq wandert ein Buch nach dem anderen in Weidenkörbe und Sisaltaschen, stark genug, die gewichtigen Worte der Autoren zu tragen. Lenz, Dürrenmatt, Böll und Fallada sind dabei, auch „Weltliteratur“ von John Knittel, Steinbeck und Margaret Mitchell.

Mein Herz beginnt zu bluten. Ich hoffe, dass es durchhält. Tatsache ist: Ich werde all diese Geschichten in der Restzeit meines Leben nicht noch einmal lesen können. Das muss ich meinem Herzen Stück für Stück beibringen – ein nutzloses Unterfangen, denn es hat weder Verstand noch Vernunft. Und mit jedem Tropfen Blut werden die Stapel neben den Körben und Taschen, die längst randvoll sind, immer höher.

Mir fällt ein humorvolles Gedicht von Eugen Roth über einen Menschen ein, der sich in der gleichen Situation wie ich befindet, aber es vermag mich nicht heiter zu stimmen.

Ein Büchlein kommt mir in die Hand, das aus dem mageren Literaturbestand meiner Eltern stammt. Sie hatten mich immer zum Lesen angehalten, selbst aber kaum ein Buch in die Hand genommen. In einer Arbeiterfamilie war das in den fünfziger Jahren normal, denn bei Maloche mit Überstunden reichte die Energie nicht mehr für Schöngeistiges.

Das Büchlein gehört zur Reihe „Hafis-Lesebücherei. Es ist in Leinen gebunden und trägt in Frakturschrift den Titel „Der Schimmelreiter und andere Novellen“. Herausgegeben wurde es vom Finkentscher Verlag, Leipzig.

Theodor Storm. Den Schimmelreiter musste ich in der Schule lesen. Ich blättere die Seiten. Durchgehend Frakturschrift. Wunderschön. Ganz hinten finde ich das Inhaltsverzeichnis. Sechs Novellen, darunter natürlich „Immensee“.

Ich drehe das Büchlein um und schlage den vorderen Buchdeckel wieder auf. Dort stehen Name, Ort und Datum einer mir fremden Person. Ich lese: „Hildegard ...., Nordseebar Langeoog, 26. VIII. 1928.“

Den Nachnamen kann ich nicht entziffern. Den Rest schon. Aber Moment mal ...

„Nordseebar“?

Ich schaue genauer hin und erkenne, dass das „r“ ein verunglücktes kleines „d“ ist, das man damals am oberen Ende mit einem nach rechts gezogenen Schnörkel schrieb. Zu kurz geraten sah es wie ein modernes „r“ aus.

Da war also nichts mit Ballermann auf Langeoog im Jahr 1928.

Ich schaue im Internet nach, ob das Büchlein – immerhin eine Antiquität – einen Wert hat. Schlappe Euro 2,50. Kaum zu glauben, aber offensichtlich existieren davon mehr Exemplare als vermutet, und zwar wesentlich besser erhaltene als meines, das dabei ist, sich aufzulösen.

Jetzt drehe ich das Büchlein hin und her und sinne über sein weiteres Schicksal nach: Lesen und entsorgen? Nicht lesen und entsorgen? Neu binden lassen und wieder ins Regal stellen?

Als ob ich nicht schon genug zu grübeln habe, wie ich morgen wählen will.

23.09.2017
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.09.2017, 18:31   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
Dabei seit: 07/2015
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Beiträge: 6.703


Hallo Ilka-Maria,

wenn ich hier mal davon ausgehe, dass das LI mit dem Autor identisch ist, kann ich dein Herzbluten bei dieser Entscheidung gut verstehen. Vor einigen Jahren war ich wegen eines Umzugs damals in eine kleinere Wohnung gezwungen, einen, wenn nicht den größten Teil meiner damals wohl ca. 200 Bücher zu entsorgen. Ich brachte sie fast alle zum Altpapier - und das hat so richtig, richtig wehgetan.
Ich tröstete mich damit, dass ich sowieso fast alle auswendig konnte...Aber einige, an denen mein Herz besonders hing, habe ich behalten, so auch die "Weltliteratur" von Margaret Mitchell. Ich glaube, sie hat auch nur dieses eine Buch geschrieben.
Eines meiner Lieblingsbuecher habe ich inzwischen wieder neu gekauft. Ich würde das Büchlein, um das es dir geht, neu binden lassen.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 25.09.2017, 12:09   #3
männlich Sonnenwind
 
Benutzerbild von Sonnenwind
 
Dabei seit: 06/2012
Alter: 62
Beiträge: 1.514


Der letzte Satz läßt deutlich werden, dass es im realen Leben eines Menschen in Sachen Aufmerksamkeitsbindung oft nahezu unmöglich ist, die "wirklich wichtigen" von den "nur persönlichen" Angelegenheiten zu trennen...

Der letzt Satz hat es in sich!

LG
Sonnenwind
Sonnenwind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.09.2017, 14:38   #4
männlich fsami
 
Benutzerbild von fsami
 
Dabei seit: 03/2013
Beiträge: 274


Du Kannst dir doch einen Buchdigitalisierer kaufen. Dann kannst du den Papierkram entsorgen und hast deine Bücher trotzdem noch bei dir.
fsami ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.09.2017, 19:07   #5
Thing
R.I.P.
 
Benutzerbild von Thing
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998


Mir geht es wie Silbermöwe.
Kein Krankenhaus, keine Tafel, keine Bibliothek, kein Altenheim wollte meine Bücher, etwa 300 an der Zahl (unmöglich in der neuen Wohnung unterzubringen).
Auch mir hat das Herz geblutet.
Man bedenke: Literatur landet im Müll.
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
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