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Alt 30.08.2017, 22:06   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Namenlos

Es war einmal ein Mädchen, das liebte Eisenbahnzüge, blankgefahrene Gleise, die Rauchwolken der Lok und das Warnsignal eines ratternden Gütertransports.

Ihre Stadt hatte einen Bahnhof. Er war klein, wie es einem kleinen Ort geziemt, der gerade mal dem Status eines Dorfs entwachsen war und den die meisten Züge durchfuhren. Wenn das Mädchen Freizeit hatte, kam es oft hierher, sah dem letzten Wagen nach und träumte von der großen, fernen Welt. Ab und zu hielt ein Zug an, eine Lok mit nur zwei Waggons, und dann stiegen nicht mehr als zwei Personen aus, die ihre Verwandten besuchten wollten. Oder die sich gezwungen sahen, sie zu besuchen. Nach der Beerdigung fuhren diese Leute mit dem nächsten Zug zurück.

Das Mädchen hieß Marie. In ihrer Stadt anzukommen hatte etwas von einem Ritual, und wenn ein Zug anhielt und ein Fahrgast ausstieg, erwartete Marie von ihm nichts Besonderes. Fast immer war er ein alter Mann. Er wurde abgeholt oder winkte einem Kutscher. Später sah sie ihn entweder in der Kirche wieder oder auf dem Friedhof oder bei einem der vielen Stadtfeste, ehe er wieder verschwand.

Doch eines Tages stieg ein junger Mann aus. Er war gut gekleidet und offensichtlich darin geübt, sich auf fremdem Terrain zu bewegen. Kaum ausgestiegen, winkte er einem Kutscher, der herbeilenkte, vom Bock stieg und den Koffer des Reisenden aufnahm.

Maries Blick wechselte zwischen dem Fremden und dem Zug, der sich in Bewegung setzte, hin und her.

„Mädchen, was geistert durch deinen hübschen Kopf?“

Marie sah den Fremden vor sich und dachte über eine Antwort nach. Er drängte sie nicht, sondern wartete. Aber ihr fiel nichts Gescheites ein.

„Die große weite Welt vielleicht?“

Marie nickte.

„Da komme ich gerade her, aus dieser großen weiten Welt. An ihren Grenzen sind mein Bruder und drei meiner Freunde gefallen. Um die Zeit, von der weiten Welt zu träumen, ist es im Augenblick schlecht bestellt.“

„Aber was du trägst ...“

„Ich hatte die Uniform satt. Ich wollte mich wieder als Mensch fühlen. Wenigstens für diese zehn Tage.“

„Aber du bist nicht von hier. Ich habe dich hier noch nie gesehen.“

„Das stimmt. Vielleicht kennst du die Hafner-Gretel. Sie ist meine Großtante und liegt im Sterben.“

„Ich kenne die Gretel gut. Wenn du willst, begleite ich dich.“

Und so kam es, dass Marie und der Fremde, der ein Groß-Cousin der Hafner-Gretel war, in der Kutsche zusammen in die Stadt fuhren.

Als die Hafner-Gretel verstorben und ihr Leichnam beigesetzt war, trösteten sich Marie und der Fremde gegenseitig in ihrem Schmerz. Dann reiste er ab, zurück in seine Welt. Sechs Wochen später hatte Marie den Verdacht, dass irgendetwas mit ihr anders war als sonst, und sie ging zum Arzt.

„Kann man das wegmachen?“

„Nicht bei mir.“

Marie brach in Tränen aus.

„Warum nicht? Das Geld bringe ich irgendwie zusammen. Bitte ...“

„Es ist kein „das“. Mit mir ist da nichts zu machen.“

Marie gab ihrem Mädchen keinen Namen, sondern sagte ihr, sie müsse ihn selber finden. Sie müsse aufbrechen und die Welt durchwandern. Der Name ergäbe sich von selbst.

Es war einmal ein Mädchen, das packte seinen Rucksack mit den Träumen seiner Mutter und machte sich auf den Weg ...
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.09.2017, 08:07   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
Dabei seit: 07/2015
Alter: 60
Beiträge: 6.706


Liebe Ilka-Maria,

das ist eine Geschichte, die eine Begebenheit erzählt, wie sie damals sicher tausend Frauen passiert ist, im Grunde also nichts Besonderes, aber du machst sie durch deine Erzählweise dazu. Man kann lange darüber nachdenken.
Und auch darüber, ob die Tochter dann ihren Weg findet oder die Träume der Mutter verwirklichen will.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
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