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Alt 17.01.2013, 16:15   #1
männlich Schmuddelkind
 
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Standard Zwischen den Jahren

Kapitel 1: Die Heimreise



Der graue Taunus zieht an mir vorbei, als sei er vom heftigen Wind getragen, der die kargen Bäume rings umher erzittern lässt. Wie im Rausch nehme ich kaum etwas von der mächtigen Erscheinung des Feldbergs vor mir wahr, obgleich ich aus so vielen “Heimreisen” um dieses Landschaftsbild weiß, das den Menschen beinahe so klein macht wie er wohl wirklich sein muss. “Heimreise” - ich frage mich, ob das der richtige Begriff ist. Ich habe nicht das Gefühl heimzukehren, wenn ich zu meinem Vater fahre, aber ich kann auch nicht sagen, dass ich mich auf dem Heimweg wähne, wenn ich ihn in Richtung Berlin wieder verlasse. Vielleicht ist es eine falsche Betrachtung, nach dem Ort der Heimat zu fragen. Was ist Heimat? Diese Frage ist der inneren Zerstreuung und seelischen Verlorenheit doch viel eher angemessen.

Bedächtig dunkelt es und den Farben ist kaum mehr Freiraum gelassen. Der späte Herbst hält alles in seinen kalten Fängen. Dabei wäre ich jetzt auf dem Weg zum klarsten Winter, in die Alpen, um ein paar frische Eindrücke zu sammeln, die Ruhe und Abgeschiedenheit der kleinen Hütte zu genießen, die mir auf dem Foto in der Anzeige wie ein Ort der inneren Einkehr und geistigen Erneuerung erschien und um zu schreiben. Drei Wochen lang einfach schreiben. Ich wollte zwischen den Jahren endlich meinen Roman fertig stellen. Doch dann kam der Anruf meines Vaters, genauer gesagt, der fünfte Anruf meines Vaters innerhalb einer Stunde, zu dem ich mich genötigt sah, nun doch an das Telefon zu gehen:

“Erreicht man dich auch mal, Sohnemann.” So eröffnet er übrigens oft das Gespräch. Ich verteidigte mich nur mit halber Kraft, da ich ahnte, dass meine Ausreden mit der Zeit nicht an Plausibilität gewinnen und es mir inzwischen egal ist, was mein Vater darüber denkt. Es geht bei den Ausreden nur darum, eine höfliche Atmosphäre zu schaffen, in der beide sich auf eine Geschichte einigen können, ohne das Gesicht zu verlieren. Was sie wissen, ist dabei egal, solange sie einander nur das äußern, was zu wissen für die Situation, nicht für die Personen erträglich ist und so erklärte ich etwas lustlos ganz in diesem Geiste, wie beschäftigt ich doch gewesen sei, während ich mich fragte, wieso ich mit Mitte zwanzig noch immer solche Furcht hatte, mit meinem Vater zu telefonieren.

Wie gewöhnlich ging er darauf nicht näher ein und ging zu seiner typischen Einleitung über, bei der er stets das “Ich” mit einem lauten, explosiven Ausdruck anstimmt und ein immer leiser werdendes “wollte mal fragen,…” nachschiebt, so dass die eigentliche Frage so leise vorgetragen wird, dass ich sehr genau hinhören muss, um sie zu verstehen: “…wie es bei dir an Weihnachten aussieht.” Und dann wieder eine Explosion: “Kommst du da und wenn ja, wann?”. “Ist es schon wieder so weit? Die alljährliche Weihnachtslogistik.”, dachte ich und war etwas nervös, ihm erklären zu müssen: “Oh, darüber wollte ich ja noch mit dir reden. Ich bin über die Weihnachtsferien in Österreich, mal ein paar Tage Urlaub machen. Das brauche ich jetzt wirklich.” “Du kommst also nicht.”, stellte er wie ein Hochzeitsplaner fest, der die Gästeliste nachgeht. “Nein, tut mir leid! Aber vielleicht können wir uns ja mal am Ende meines Urlaubs sehen; da habe ich noch ein, zwei Tage Zeit.”, beteuerte ich und relativierte sogleich: “Aber du weißt ja - es ist eine lange Fahrt bis Berlin. Mal sehen…”

Eine kurze Pause setzte ein, in der ich mich darauf vorbereitete, wie gewöhnlich über all die Oberflächlichkeiten zu reden, die das Verhältnis zu meinem Vater ausmachen - die Arbeit, Vaters Gewerkschaftstätigkeit, Politik allgemein und natürlich Fußball. Umso überraschender war es, dass mein Vater das Bedauern ausdrückte, das ich bei ihm vorausgesetzt hatte: “Das ist schade. Mir wäre es dieses Jahr besonders wichtig gewesen.” “Besonders wichtig?” fragte ich überrascht. Mein Vater ist nicht gerade ein Verhüllungskünstler: Er braucht Fakten und er gibt Fakten wieder. Dinge, die Andere dezent und vorsichtig formulieren, um den Gegenüber nicht zu überrumpeln, um ihn langsam und schonend auf ein emotionales Ereignis vorzubereiten, sagt er recht nüchtern und frei heraus: “Ich sterbe.”

Überrascht und auch ein wenig entsetzt (vermutlich, weil ich nie an die Möglichkeit geglaubt hatte, dass mein Vater stirbt), aber nicht in einem konkreten Sinne traurig, kämpfte ich gegen die Verwirrung, die dieser Augenblick in mir offenbarte, während mein Vater auf eine Reaktion wartete. Wie konnte er mir eine derart einschneidende Nachricht so sachlich mitteilen? Berührte ihn denn nicht einmal sein eigener Tod? Wie fühlte ich mich? Warum bin ich nicht traurig? Ich hatte immer geglaubt, wenn eine nahestehende Person stirbt, müsste ich weinen; wieso konnte ich in diesem entscheidenden Moment keine Träne entlassen? Vielleicht war dies aber auch gar nicht so merkwürdig, wenn man bedenkt, wie selten ich ihn sehe und vor allem, wie selten er in meinen Gedanken auftaucht. Wer war also mein Vater für mich? Was bedeutet es, zu sterben? Und was sollte ich sagen?

Nachdem eine Weile der Sprachlosigkeit verstrichen war, bediente ich mich der Sachlichkeit, die mein Vater anbot und fragte: “Und… warum?” “Lungenkrebs”. Er erzählte mir von dem bereits überwundenen Lungenkrebs, den er mir verheimlicht hatte und der Chemo-Therapie ebenso gefasst wie von der jüngsten Diagnose eines erneuten Ausbruchs. Doch diesmal, sagten die Ärzte, sei alles zu spät, der Krebs schon so aggressiv und ausgedehnt, dass nichts mehr helfe und man meinen Vater, wie er es formulierte, “zum Sterben nach Hause” schickte. Ich wunderte mich ein wenig darüber, dass er nicht mit mir über den ersten Krebs gesprochen hatte. Andererseits konnte ich seine Befürchtung verstehen, ich würde ihm nicht richtig zuhören, muss er mich doch fünf mal anrufen, bis ich ihn von seinem Sterben berichten lasse. Es tat mir auch leid, das alles zu hören, so als erführe ich von dem Tod irgendeines Mannes aus meiner Straße; doch das war alles. Das war die sensibelste Teilnahme, die mir möglich war und ich begann mich zu fragen, ob es an mir liege oder an meinem Vater oder an uns beiden.

Ich ahnte, dass diese Frage mich lange begleiten würde, wenn ich ihr nicht bald (nach den Schilderungen meines Vaters sehr bald) auf den Grund ginge und so erklärte ich meinem Vater: “Das tut mir sehr leid! Wenn das so ist, sage ich natürlich den Urlaub ab. Ich werde dann zu Weihnachten da sein.”. Danach erkundigte ich mich noch nach seinem Befinden und das Gespräch glitt sehr schnell ins Politische ab, was es mir leichter machte, mich bald zu verabschieden: “Also, wir sehen uns dann. Mach’s gut! Tschüss.” “Ja, bis dann. Tschüss.”

Und nun bin ich also auf dem Weg in die alte Heimat, um zu verstehen, wer wir sind, mein Vater und ich, um vielleicht zu verstehen, was das ist - die Heimat. Ich habe mich auf Vorweihnachtsverkehr eingestellt, aber die Autobahn ist beinahe leer, so als gäbe es niemanden, der in diese alte Heimat zurückkehren wollte. Ja, ich habe Angst. Am liebsten würde ich die nächste Ausfahrt nehmen und umkehren, auch wenn es nur noch zwei Stunden bis Kaiserslautern sind. Wie wird es aussehen, das Sterben? Wie wird es sich anfühlen, einen Menschen zu sehen, den man sein ganzes Leben lang kennt und zu wissen, dass er bald nicht mehr sein wird? Schließlich drehe ich das Radio auf, um meine Gedanken zu übertönen und genieße die tiefe Bassstimme, die mir ein hoffnungsvolles “Driving home for christmas” entgegen schmettert.
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Alt 17.01.2013, 18:02   #2
Thing
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Hallo, Schmuddelkind -

diese Schilderung ist in mehrhafer Hinsicht herzzereißend.
Welche Gräben bestehen können, stimmt mich sehr nachdenklich und deprimiert mich.


LG
Thing
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Alt 17.01.2013, 18:12   #3
männlich Rehti
 
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Ja, wirklich großartig erzählt, Emotionen erzeugend, ohne im beiläufigen Sinn gefühlig zu werden.

Hat mir sehr gefallen, wenn denn gefallen in diesem Fall das richtige Wort ist!
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Alt 17.01.2013, 18:18   #4
Thing
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Ja,
es wird überhaupt nicht auf die Tränendrüsen gedrückt und sog. Schuldzuweisungen tauchen auch nicht auf.
Den lakonischen Stil finde ich sehr passend.

Und unter der Oberfläche?
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Alt 17.01.2013, 18:33   #5
männlich Rehti
 
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Ich weiß jetzt nicht ganz genau, ob du die Frage an mich richtest, Thing, aber ich beantworte sie mal trotzdem halbwegs:

Eine solche Geschichte kann nur schreiben, wer Menschen kennt und festhalten kann, was sie in einigen Beziehungen ausmacht, dann aber auch in der Lage ist, konsequent (im Sinne vom 'Im Stil bleibend') zu erzählen. Ich kenne solche Menschen auch, bin bisweilen einer von ihnen. Ich kenne die Nähe und ich kenne die Trennung. Das allein reicht schon, um mich von dieser universellen Geschichte berühren zu lassen.
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Alt 17.01.2013, 18:59   #6
weiblich simbaladung
 
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grandios erzählt, Schmuddelkind!

Bis ins kleinste Detail! Wie sich Vater und Sohn kennen und doch nicht kennen,
reden und doch nicht reden, die Gedanken des Sohnes über Heimat usw.

Gut auch, dass du das Ende offen lässt, so kann, wer will, sich die Geschichte
auch mit einem nicht ganz so deprimierenden Schluss denken ... schließlich stehen sie sich dann Aug in Aug gegenüber ...

beeindruckte Grüße,
simbaladung
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Alt 17.01.2013, 19:48   #7
Thing
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Die Frage war eher allgemein oder an Schmuddelkind gerichtet.
Ich halte die Geschichte für autobiographisch.
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Alt 17.01.2013, 20:21   #8
männlich Schmuddelkind
 
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Herrje, mit so viel Aufmerksamkeit und Anerkennung hätte ich gar nicht gerechnet. Vielen Dank an alle!

Zitat:
es wird überhaupt nicht auf die Tränendrüsen gedrückt und sog. Schuldzuweisungen tauchen auch nicht auf.
Den lakonischen Stil finde ich sehr passend.
Das war der Stil, mit dem ich hoffte, die komplizierten Verwicklungen einer schwierigen Vater-Sohn-Beziehung deutlich zu machen. Freue mich also, dass er als passend empfunden wird.

Zitat:
Ja, wirklich großartig erzählt, Emotionen erzeugend, ohne im beiläufigen Sinn gefühlig zu werden.
Oh, vielen Dank! Ein außerordentlich zufrieden stimmendes Lob!

Zitat:
Bis ins kleinste Detail! Wie sich Vater und Sohn kennen und doch nicht kennen,
reden und doch nicht reden, die Gedanken des Sohnes über Heimat usw.
Die Liebe zum Detail war mir hier sehr wichtig, weil man manche Stimmungen nur so einfangen kann (während andere Stimmungen eher durch die Abstraktion zum Tragen kommen). Hast du schön gesagt! So ist es leider allzu oft.

Zitat:
Gut auch, dass du das Ende offen lässt, so kann, wer will, sich die Geschichte
auch mit einem nicht ganz so deprimierenden Schluss denken
Das Ende ist nur für dieses Kapitel offen. Ich plane, daraus einen Roman zu machen, aber es geht zur Zeit nicht leicht von der Hand, weil ich erstens immer noch sehr mit meinem anderen Eisen beschäftigt bin und zweitens nicht alles so leicht zu Ende zu denken ist. Insofern: na ja, es ist zumindest nicht völlig "unautobiographisch", wenn ihr die hässliche Wortneuschöpfung entschuldigt.

LG
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Alt 17.01.2013, 20:27   #9
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Thing Beitrag anzeigen
Ich halte die Geschichte für autobiographisch.
Ich auch. Die Erwähnung von Kaiserslautern spricht dafür. Auch die Lebendigkeit und Detailfreude, mit der die Gedanken des Erzählers ausgestattet sind. Das wirkt außerordentlich lebensecht.

LG
Ilka
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Alt 17.01.2013, 20:30   #10
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Lebensecht ist ein gutes Wort. Danke dafür, Ilka!

LG
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Alt 17.01.2013, 20:42   #11
weiblich MuschelIch
 
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Mein Vater
zu dem ich ein außerordentlich distanziertes Verhältnis habe,
erzählte mir in unserem letzten Telefonat etwas,
was einem vorsätzlichen "sich-zu-Tode-essen" gleichkam.

Ich habe es bis eben gerade lediglich registiert.

Nun konnte ich gerade weinen.

Dankeschön, Schmuddelkind.

MuschelIch
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Alt 18.01.2013, 14:59   #12
männlich Schmuddelkind
 
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Wow,

von einer solchen Offenbarung muss ich mich erst erholen.

Es ist für einen Autor eine ambivalente Situation, einen so großen Einfluss auf das Gefühlsleben fremder Menschen zu haben: einerseits ist es mir ein wenig unangenehm, weil ich ja meine Texte in erster Linie für mich schreibe und nicht damit rechne, dass diese Gedanken eine Bedeutung im Leben Anderer haben, andererseits ist es ein unvergleichliches Gefühl, dass man einen Unterschied macht; nicht wirklich zu erklären...

Jedenfalls wünsche ich dir und deinem Vater nur das Beste.

LG
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Alt 18.01.2013, 22:24   #13
männlich Schmuddelkind
 
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Standard Kapitel 2: Wie geht es dir?

Zu wenige Schritte sind es vom Parkplatz zur Tür des hellbraunen Hauses, worin sich die Wohnung meines Vaters befindet. Zu wenige Schritte, um mir eine angemessene Begrüßung zu überlegen. Zu wenige Schritte, um mir das Unvorstellbare vorzustellen. Vermutlich sind es zu wenige Schritte, um auf einen Schwächeanfall zu hoffen, der mich von der Pflicht entbinden könnte - der Pflicht wozu eigentlich: nach dem Rechten zu sehen? Das ist wohl keine treffende Umschreibung des Anlasses. Meinem Vater beizustehen? Braucht er denn Beistand? Bei unserem letzten Telefonat hatte ich nicht das Gefühl, dass er sich jemanden wünscht, ihm zur Seite zu stehen. Oder geht es einfach um die Pflicht eines Sohnes, seinen Vater zu besuchen, wenn er in der Nähe ist? Ich beschließe, es auf diese Weise zu sehen und auch wenn dies allein schon allzu oft eine Bürde für mich war - meine Schritte gehen nun etwas leichter vom Fleck.

Die Hausfassade ist rissig, so wie ich sie in Erinnerung habe. Das dumpfe Braun ist an vielen Stellen verrußt, wie ich im gedämpft- orange-farbenen Licht der Straßenlaterne noch immer sehen kann. Eine deprimierende Stimmung, die von diesem Gebäude ausgeht, absorbiert mich. Mir kommt in den Sinn, dass mein Vater schon seit über zehn Jahren davon redet, hier auszuziehen. Jetzt ist es zu spät. Er hat immer gehofft, ein paar tausend Euro im Lotto zu gewinnen und sich davon eine kleine Holzhütte im Wald zu bauen. Die Erinnerungen an meinen Vater sind eng verbunden mit den Erinnerungen an diesen Ort. Die Wochenenden, die ich als Kind mit ihm verbrachte, waren meist Wochenenden am Fernseher. Mein Vater, müde von der langen Arbeitswoche, sah sich selten veranlasst, das siebziger Jahre Sofa zu verlassen oder mit mir zu reden (Letzteres kam mir entgegen) und zum Essen schickte er mich meist mit zwanzig Mark zur Hähnchenbude nebenan. Ich glaube, das war nicht immer so, aber diese Erfahrungen sind sehr dominant in meinem Gedächtnis und begleiten mich, während ich zögerlich auf die Klingel tippe.

Hoch zum ersten Stock schleiche ich durch das enge Treppenhaus und Lonie, die Freundin meines Vaters erwartet mich bereits an der Tür. Auch wenn ich nie einen tieferen Bezug zu ihr finden konnte, empfängt sie mich stets angenehm herzlich. "Er ist im Wohnzimmer", weist sie mich an und beruhigt mich: "Heute geht es ihm gut.". Ihn dort müde auf dem Sofa liegen zu sehen, ist für mich an sich ein bekannter Anblick. Dennoch: etwas ist anders und das liegt nicht hauptsächlich an dem eingefallenen, fahlen Gesicht, dem merklichen Gewichtsverlust (solange ich ihn kenne war er ein sehr dicker Mann und jetzt wirkt er schon beinahe mager), an der Morphium-Infusion oder dem Beatmungsgerät, das wie ein äußeres Organ mit ihm über einen Schlauch verbunden ist, so dass ich nicht weiß, ob er Teil der Maschine ist oder die Maschine Teil von ihm. Nein, da ist etwas in seinem Gesichtsausdruck, das ich, so sehr ich mich auch bemühe, nicht deuten kann, weil ich es noch nie an ihm gesehen habe.

Dass er noch einiger Maßen bei Kräften ist, zeigt er mir sogleich, indem er sich zur Begrüßung fast selbstständig aufrichtet. Während ich noch in der Tür stehe, drängt sich Lonie an mir vorbei, um ihm zu helfen, wobei ich mich überflüssig fühle. Irgendetwas scheint sie dabei jedoch falsch zu machen; denn mein Vater fährt sie harsch an: "Ach, Lonie!" Mehr Worte braucht mein Vater nicht, um sich Respekt zu verschaffen. Schließlich sitzt er vor mir auf dem Sofa und reicht mir die Hand. Ob er dabei streng oder angestrengt dreinblickt, vermag ich nicht zu unterscheiden. Mit einem vermutlich bemühten Lächeln gebe ich ihm die Hand: "Hallo. Wie geht es dir?" Wie geht es dir?! Da sehe ich meinen Vater zum ersten Mal seit Monaten, zum ersten Mal in einem solchen Zustand und möglicher Weise zum letzten Mal überhaupt und ich bringe nichts Besseres hervor als eine bloße Floskel, die ironischer Weise alles Andere aussagt, als dass man sich für den Anderen interessiert. Doch andererseits: was sagt man jemandem, der im Sterben liegt? Man kann gewiss nicht fragen: "Wie fühlt es sich an zu sterben und was ist das für ein Gefühl, zu wissen, dass die eigene Existenz in wenigen Wochen, vielleicht schon heute vorbei ist?"

"Ach, so weit geht es ganz gut", antwortet er ebenso floskelhaft und mit ruhiger, kräftiger Stimme. Ich habe schon erwartet, dass es schwierig sein wird, mit ihm zu reden. Dass er offenkundig im Vollbesitz seiner Stimme ist, macht es leider nicht einfacher. "Ja?" frage ich, um Wiedergutmachung bemüht.
"Ja, manchmal habe ich Schmerzen, besonders morgens, aber im Großen und Ganzen... die Medikamente wirken ganz gut und zweimal die Woche kommt ein Arzt. Gestern war er da und hat mir zum Abschied nur ein Zeichen gegeben." Mein Vater zeigt mir die Daumen-hoch-Geste und fährt fort: "Ich hab ihm gesagt: So gesunde Krebspatienten hat man selten, oder?" Er fängt an zu lachen und gerät darüber etwas ins Husten. Ich lächle und kommentiere: "Das ist schön!"
"Und wie gehts dir, mein Sohn?", fragt er, das "dir" übermäßig betonend.
"Ja, geht so. Wie gesagt, ich wollte ja eigentlich Urlaub machen" - das war unbedacht von mir und äußerst unsensibel. Ich muss schnell das Thema wechseln: "aber auf der Arbeit läuft es auch gut. Eine meiner Schülerinen hatte gestern eine 2 in Mathe. Die hat sich vielleicht gefreut! Sie hat sofort bei mir eingeklatscht. Weißt du dafür mache ich das. Das Gefühl, heranwachsenden Menschen, Möglichkeiten zu eröffnen ist unvergleichlich."
"Ja, aber das kann doch auch nicht deine Zukunft sein, dich von Lehrauftrag zu Lehrauftrag zu hangeln und dazwischen ein bisschen Nachhilfe zu geben.", wirft er streng ein.
"Na ja", druckse ich herum, während ich mich um die Ecke auf das Sofa setze "es gibt noch ein paar Möglichkeiten für mich, aber ich muss mich darüber erst noch genau erkundigen. Mit der Schriftstellerei mache ich auch Fortschritte. Demnächst werden ein paar meiner Kurzgeschichten veröffentlicht."
"Verdienst du daran etwas?", fragt er, sein Desinteresse an dem Inhalt der Geschichten nicht verbergend.
"Nein."
"Schau" - wieder einmal eine dieser explosiven Satzanfänge, gefolgt von einem abklingenden: "dass du in ein langfristiges Arbeitsverhältnis hineinkommst! Das ist auch wichtig wegen der Rente. Da musst du zusehen, dass das was wird!"

"Wegen der Rente" - diesen Ausspruch muss ich mir seit meiner Kindheit von ihm anhören. Vermutlich ist es mir deshalb derart gleichgültig. Ich nicke schüchtern in der Hoffnung, eine so lange Gesprächspause entstünde, dass ich das Thema bedenkenlos wechseln kann. Tatsächlich herrscht mehrere Sekunden Schweigen. Im Schweigen ist jeder dankbar für ein Wort und wenn dies zu einem anderen Thema führt, ist es beiden recht.
"Was sagst du zum Betze?", will ich wissen.
"Ach, da muss mehr kommen! Mit dem Relegationsplatz würde ich mich nicht zufrieden geben. Und so wie die spielen, haben die es gegen eine Erstligamannschaft schwer, egal wer da kommt."
"Aber bis vor kurzem hatten sie ja noch kein Spiel verloren.
"Aber so viele Unentschieden waren dabei. Wenn man aufsteigen will, muss man auch den Willen haben, zu gewinnen, gerade wenn die Spiele so knapp sind."
"Vielleicht wird es zur Rückrunde besser. Die planen ja, die linke Seite zu verstärken."
"Das liegt nicht an einem Spieler... oder zwei. Da ist die ganze Mannschaft gefragt. Vor allem ist das eine Einstellungssache."

Das Gespräch kreist noch etwa eine halbe Stunde um Fußball, bis ich schließlich die Hände auf die Knie schlage: "So, ich muss dann so langsam mal weiter. Mama hat ja morgen Geburtstag und ich habe noch keine Geschenke eingepackt. Das will ich noch vor 0 Uhr erledigen, damit ich ihr dann pünktlich zum Geburtstag gratulieren kann."
"Was, ist morgen schon der zwanzigste?", fragt mein Vater sichtlich irritiert. "Dann sag ihr mal liebe Grüße... und an Leonhard auch!"
"Mache ich. Also bis dann!"
"Moment, bis wann eigentlich? Wäre mir immer ganz lieb, wenn ich vorher weiß, wann Besuch kommt, damit ich mich darauf einstellen kann."
"Eigentlich haben wir ja am zweiten Weihnachtstag ausgemacht, aber wenn du willst, kann ich auch vor Weihnachten noch einmal kommen."
"Nein nein, wenn du zu tun hast..."
"Ein paar Freunde will ich natürlich noch besuchen, aber ich denke schon, dass ich vor Weihnachten noch einen Abend Zeit für dich habe. Ich rufe dich dann einfach an, in Ordnung?"
"So machen wir es", willigt mein Vater ein, gibt mir die Hand und ich breche auf ins Saarland.
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.01.2013, 15:47   #14
weiblich MuschelIch
 
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Zitat:
Zitat von Schmuddelkind Beitrag anzeigen
Wow,



Es ist für einen Autor eine ambivalente Situation, einen so großen Einfluss auf das Gefühlsleben fremder Menschen zu haben: einerseits ist es mir ein wenig unangenehm, weil ich ja meine Texte in erster Linie für mich schreibe und nicht damit rechne, dass diese Gedanken eine Bedeutung im Leben Anderer haben, andererseits ist es ein unvergleichliches Gefühl, dass man einen Unterschied macht; nicht wirklich zu erklären...
Es hat mich selber erstaunt,
daß ich so direkt berührt worden bin.

Ich finde sowas eines der "Highlights" in Gedichteforen -
weil da ... so etwas wie "Begegnung" stattfindet.

Du hast da einige Gedanken angestupst ,
in einer Gegend, wo ich nicht gerne hingucke,
bzw. gewohnt bin, wegzugucken.

Die Fortsetzung Deiner "Erzählung" lese ich später.
Da muß ich innerlich ruhig sein dazu.

Liebe Grüße

MuschelIch
MuschelIch ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.01.2013, 15:56   #15
männlich Schmuddelkind
 
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Zitat:
Ich finde sowas eines der "Highlights" in Gedichteforen -
weil da ... so etwas wie "Begegnung" stattfindet.
Ja, das stimmt. Es ist eine Art Begegnung. Manchmal ist sie intensiver als die Begegnung mit so manchen Menschen, die man um sich hat. Daran kann ich mich auch nie gewöhnen.

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.01.2013, 20:56   #16
weiblich Daisy
 
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Hallo Schmuddelkind,

von diesen zwei Kapiteln bin ich ziemlich beeindruckt!
Du schreibst und erzählst so überzeugend, dass ich mich dem Geschehen nicht entziehen kann und das Gefühl habe, die geschilderten Ereignisse selbst zu erleben.

Unbedingt weitere Kapitel schreiben!

Lieben Gruß
Daisy
Daisy ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.01.2013, 21:10   #17
männlich Schmuddelkind
 
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Vielen Dank, liebe Daisy!

Zitat:
Du schreibst und erzählst so überzeugend, dass ich mich dem Geschehen nicht entziehen kann und das Gefühl habe, die geschilderten Ereignisse selbst zu erleben.
Das ist Motivation, die ich gut gebrauchen kann. Trotzdem fällt es mir schwer, weitere Kapitel zu schreiben. Ist kein Thema, bei dem man schreiben kann, ohne mit der Wimper zu zucken.

Aber ich bleibe dran. Allein schon für euch.

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.01.2013, 22:16   #18
Thing
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Ich glaube, daß auch die innere Verfassung eine Rolle spielt, ob man sofort weiterschreibt oder sich zuerst sammeln muß.
Denn sozusagen "auf Befehl" (und sei es der eigene) schreiben - das ist in meinen Augen unmöglich.

Laß Dir Zeit!

Lieben Gruß
von
Thing
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.01.2013, 02:01   #19
männlich Schmuddelkind
 
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Zitat:
Denn sozusagen "auf Befehl" (und sei es der eigene) schreiben - das ist in meinen Augen unmöglich.
So ist es. Andererseits muss man eben auch die Stimmungen verarbeiten, wenn sie da sind (festhalten, solange sie da sind).

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.07.2013, 01:11   #20
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Standard Kapitel 3: Hauptsach gudd gess!

Diese vertraute dunkle Holztür! Diese Tür, die mir bereits als kleiner Junge Eintritt in eine Welt bot, in der ich das hinter mir lassen konnte, was hinter mir lag. Diese Tür wartet nun endlich darauf, geöffnet zu werden. Und wie erwartet ist es meine Mutter, die, die Tür noch eben in der Hand, auf mich zugeht, sich auf die Zehenspitzen stellt, um mich zu umarmen und mit dem fröhlichsten Ausdruck von Dankbarkeit ausruft: "Hallo, Großer!" Wenn ein frischer Eindruck sie eben erreicht, dann ist es an ihren unzähligen, einander abwechselnden Gesichtszügen abzulesen und an den hektischen Versuchen, diesen und dann wieder jenen Handgriff einzuleiten, dass tausend Empfindungen sie mit einem Mal überströmen. Sie kommt kaum dazu, einen Gedanken zu Ende zu denken, geschweige denn auszuformulieren, ehe dieser sie wieder auf einen noch wichtigeren, weil aktuelleren Einfall bringt. Auf diese Weise drückt sie die innigste Fürsorge aus, ohne einem die Möglichkeit zu lassen, daran teilzuhaben oder sich dagegen zu wehren:
"War die Fahrt anstrengend? Bich bestimmt mied. Abba ess erscht mo was! Ich han da do im Dibbe lecker Schaales - is in de Kich. Abba ich bring da. Geh ercht mo ins Wohnzimmer; de Fadda un es Lisa sin do. Ah ia, warschte bei deinem Fadda?" Es ist schon bemerkenswert, wie ich in zwei aufeinander folgenden Sätzen die beiden "Vater"-Bezeichnungen völlig intuitiv und trennscharf auseinander halten kann, meist ohne einen Gedanken daran aufzubringen, dass es in anderen Familien in aller Regel um dieselbe Person geht. Aber nicht in meiner Familie. Noch etwas erschlagen von der ausufernden Begrüßung, sortiere ich mich kurz und erwidere lächelnd: "Hallo Mama. Jo, ich war in Lautre. Abba erscht zieh ich mei Jack aus un dann geh ich e Bach." "Jo, mach in aller Ruh!", ruft meine Mutter aus der Küche, die sie inzwischen eingenommen hat.

Manchmal, wenn ich in kurzer Zeit nacheinander meinen leiblichen und meinen Stiefvater sehe, erschlägt mich die Merkwürdigkeit des Umstands, dass ich zwei Väter, aber keine Vaterfigur habe. Doch was macht überhaupt eine Vaterfigur aus? Ist es etwa mehr als die Menge all der typischen Vater-Sohn-Erlebnisse, die uns Fernsehserien, Filme und Eltern-Ratgeber zur Auswahl stellen und die doch mehr über deren Protokollanten als über die Idee solcher Beziehungen verraten? Die meisten Männer, die ich kenne, hassen ihren Vater. Da wähne ich mich schon fast als philanthropisches Vorbild, meine Väter zu mögen, solange man eine oberflächliche Distanz wahrt. Ist ein Vater jemand, zu dem man aufschaut? Dann sind es wohl eher einige Philosophen und Schriftsteller, dich ich mir als Vaterfiguren erwählt habe. Ist ein Vater jemand, dem man alles erzählen kann? Nun, wem kann man schon alles erzählen? Meinen Vätern jedenfalls nicht.

Doch wenn ich, wie gerade, ins Wohnzimmer eintrete, sich mein Vater vom Fernseher zu mir umdreht, wie ein Jäger, dessen ganze Aufmerksamkeit seit Stunden auf die Szenerie vor ihm gerichtet ist und mit dem Auftreten eines guten Freundes Gewehr und Fernglas liegen lässt, wenn er sich vor mir aufrichtet und mich willkommend umarmt, dann erlebe ich eine gewisse sentimentale Begegnung, wie sie vielleicht nur im Verhältnis zwischen Vater und Sohn zu verstehen ist. "Hallo Großer!", leitet er mit sanfter Stimme ein, "Warsche lang unnawegs?" "Och, es ging. Bin gudd durchkomm. Die Audobahn war frei, wie wenn schun all ankomm sinn." Ich drehe mich nach rechts zu Lisa, die auf dem Sofa mit dem Gesicht in Richtung Fernseher, schelmisch grinsend, die Augen zu mir verdreht. Da stürze ich auf sie und remple sie um wie ein Rugby-Spieler, während ich ausrufe: "Hab ich dich! Hab ich dich gern, Schwechderche!" Sie ringt überbetont nach Luft und keucht zähneknirschend und mit dem ihr eigenen pseudo-ironischen Unterton: "Han dich a vermisst!"

Kaum haben wir wieder Platz gefunden, tritt meine Mutter eilfertig mit einem über und über gefüllten Teller ein. "Do, loss das schmecke!". Sie setzt sich neben mich, so dass ich eingerahmt zwischen ihr und meiner Schwester kaum Platz habe, die dunkle Kruste zu zerschneiden. Aber ich störe mich nicht daran: "Das is werklich fein, Mama!" Da horcht mein Vater auf: "Ai, wo des saachd. Ich däd a e Della esse." "Ai, gehch in die Kich, holchda!", versetzt meine Mutter, rebellisch grinsend. Mein Vater steigt auf den Spaß ein: "Wie in de Steinzeit dojin. Muschda alles selbscht jage un sammele. Das is e Lebe!" Nach kurzem neckischen Kopfschütteln richtet meine Mutter das Gespräch wieder an mich:

"War heit e langa Da fa dich, gell?"
"Och, Hauptsach, gudd gess!"
"Samo, wie gehts dann em Fadda?"
Ich dachte, den Teil des Abends hätte ich hinter mir. "Ach, es geht em eichendlich ganz gudd. Hat sogar sei Witze gemacht. Wies halt so is."
"Abba ich han gedenkt, dassa bald... sterbt. Haschne mo net druff angesproch?"
"Ai, was soll ichn do san? Kann jo nett frohe: "Wie is das so, ze sterbe?""
"Ich weeß jo net. Irchendwie muss das doch e Thema sinn."
"Na ja, ich han gesiehn, dassa krank is un er hat gesiehn, dass ich das gesiehn han. Dann weeß jo jeder bescheed"
"Dass ihr mo nett mitenanna schwätze!"
Zum Glück habe ich nun Anlass, mich über die Uhrzeit zu erschrecken: "Oh weh! Ich muss mo noch schnell was erlediche."

Eilig fasse ich nach meiner Reisetasche und ziehe mich in mein altes Kinderzimmer zurück. Dass dieses Zimmer immer noch beinahe unverändert besteht! Meine Urkunden und Medaillen zieren die Wand, als schmückten sie die Erinnerungen meiner Eltern in dem Versuch, die Vergangenheit in diesem Raum gefangen zu halten. Die Glasvitrine ist gefüllt mit Knochen, Muscheln und Edelsteinen, die ich als Knabe überall dort gesammelt habe, wo ich eine Gelegenheit zum Buddeln hatte. Auf meinem ehemaligen Schreibtisch liegt noch immer der Untersetzer mit der Weltkarte und darauf dieselben Fotos, die bei meinem inzwischen lange zurückliegenden Auszug dort standen. Auf einem Foto ist mein Vater in seinen Jugendjahren portraitiert und ich kann nicht umhin festzustellen, dass ich ihm, wenn auch nur auf diesem Foto, ähnlich sehe.

Während ich das Geschenk für meine Mutter einpacke, beginne ich mich zu fragen, warum ich für meine Eltern nie über die Rolle eines Sohnes hinausgekommen bin. Gut, sie haben nicht alle meine Schritte mitverfolgen können, die ich in den letzten Jahren alleine getan habe. Da fällt es schwer, etwas Anderes in mir zu sehen, als den Heranwachsenden von einst. Vielleicht trage ich aber auch selbst zu diesem Umstand bei. Und wenn ich es recht bedenke, ist es doch tatsächlich ein Schatz, den ich hier finde, wenn ich dahin zurückkehre, wo ich glauben kann, dass sich nichts verändert, wenn sich doch in Wirklichkeit alles verändert.

Punkt null Uhr erreiche ich wieder das Wohnzimmer und gratuliere meiner Mutter mit einer festen Umarmung und lockeren Sprüchen. Als sie das Geschenk auspackt, macht sie große Augen: "E Sprudelmatt!" "Dodemit kannche die Badewann quasi zum Whirlpool mache. Muchda a mo e bissche Entspannung gönne! Em Lisa un em Fadda däd ichs a net direkt verbiete.", erläutere ich ihr zwinkernd. "Das muss ich ma noch ibbalehe, ob die das derfe", scherzt sie und empfängt das Puzzle aus den Händen meiner Schwester und das Parfum, das mein Vater ihr schenkt, sowie deren Glückwünsche und Umarmungen.

Als sei es geprobt, zaubert mein Vater nun eine Flasche Rotwein und ein paar Gläser abseits des allgemeinen Getümmels hervor: "Wem darf ich kredenze?", fragt er mit absichtlich überzogener Noblesse. "Mir so Schluck, jo.", antworte ich schlicht, woraufhin er mir die für Wein übliche Dosis einschenkt. "Nee, ruhich e Bauernschluck!" Er schenkt mir also noch einmal so viel ein und dosiert nun bei den übrigen Gläsern ebenso großzügig. Der Abend verliert sich in Weinseligkeit und einer Leichtigkeit, die man an kaum einem der restlichen 364 Tage des Jahres erfährt.
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heimat, vater, tod

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