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Alt 08.04.2024, 20:47   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Der Klang der Zeit

Man kann sich in eine Stimme verlieben.

So erging es mir, als uns das Mandat einer deutschen Dependance ins Haus geflattert kam, deren Muttergesellschaft in Paris ansässig war. Christophe Serrault hieß unser Verhandlungspartner, der regelmäßig in unsere Frankfurter Niederlassung kam und ein hervorragendes, akzentfreies Englisch sprach.

Noch bevor ich ihn zum ersten Mal sah, hatte mich seine Stimme fasziniert. Sie war dunkel, ohne schwer zu sein, wirkte ungezwungen und strömte eine virile Anziehungskraft aus, der meine Sinne nicht widerstehen konnten. Unwillkürlich entstand vor meinem geistigen Auge ein Bild von diesem Mann, wie es mir für eine solche Stimme angemessen schien. Kein konstantes Bild. Mit jedem Satz, das durch die offenstehende Zimmertür meines Chefs zu mir drang, wandelte es sich ein wenig, immer zu seinem Vorteil, bis ich einen jungen, dynamischen Heros vor mir sah, wie ich ihn mir zuletzt in meiner Jugendzeit beim Lesen griechisch-römischer Sagen ersonnen hatte.

Obwohl ich mir dabei albern vorkam, trieb mich die Neugier auf den Flur, wo ich neben der Tür noch einen Moment dem Gespräch lauschte, ehe ich wagte, einen Blick in das Zimmer zu werfen. Doch es hatte die Form einen großen "L", und beide Männer befanden sich an dessen langem Ende, wo der Schreibtisch und die Besucherstühle standen, so dass ich weder meinen Chef noch unseren Besucher vor die Augen bekam. Einen Vorwand, das Zimmer zu betreten hatte ich nicht, und so zog ich mich zurück, ehe mich jemand in meiner merkwürdigen Position wahrnehmen konnte.

Umso mehr bedauerte ich, nicht im Büro gewesen zu sein, als Christophe Serrault angekommen war, denn ich war während der Mittagspause in der City unterwegs gewesen und hatte obendrein die zugestandene Zeit kräftig überzogen. Nun hieß es abwarten.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis mein Telefon ging. "Wo haben Sie gesteckt? Wie wäre es, uns Kaffee zu bringen." Rhetorische Fragen, die keiner Antwort bedurften. Order erteilt und aufgelegt. Ich hörte, wie das Gespräch im Zimmer meines Chefs in die nächste Runde ging, durfte mich aber nicht weiter von der Stimme des Franzosen betören lassen.

Ich hatte Glück: In der Küche hatte jemand für frischen Kaffee gesorgt, die Pumpkanne musste randvoll sein, wie ich beim Anheben und Prüfen ihres Gewichts feststellte. Auf einem Tablett stellte ich neben den Tassen zwei Kännchen Kaffee, Frischmilch und Zucker zusammen, fügte ein Tellerchen Kekse und zwei Servietten hinzu und machte mich auf den Weg, meine Errungenschaft zu servieren.

Den Blick auf das Tablett in meinen Händen gesenkt, jonglierte ich es zu meinem Chef, trat neben den Besucherstuhl und stellte es auf dem Schreibtisch ab. "Merci, Madame", dankte Serrault in seiner Landessprache, was ich nicht erwartet hatte. Ich sah ihn an, und mir war, als hätte ich meine Finger in eine Steckdose gebohrt. Alles passte zu dem, was ich mir zusammenphantasiert hatte. Und doch war es ganz anders.

Er war kein griechisch-römischer Heros. Auch kein "Latin Lover". Er sah nicht aus wie Alain Delon, der mir wegen seines totenblasses Teints und seines teigigen Kinns nie gefallen hatte.

Er war größer und älter, als ich ihn geschätzt hatte, zwischen vierzig und fünfzig. Salopp gekleidet, nicht in Anzug mit Hemd und Krawatte, sondern in Jeans und dunkelgrauem Rollkragenpullover, darüber ein smaragdgrüner Sakko. Schlank und kantig, ohne mager zu wirken. Graumeliertes Haar, wild wie ein Heuhaufen und kein Aushängeschild für die Expertise eines Friseurs. Dezent betonte Wangenknochen, leicht gebogene Nase, volle Lippen. Riesige helle Augen. Grün, blau oder grau? Von allem ein bisschen.

Sein Anblick verschlug mir die Sprache. Weder auf Französisch, noch auf Englisch fiel mir die Floskel ein, die man artig ausspuckte, wenn sich jemand bedankt hatte, obwohl sie in der Schule zum ersten Unterrichtsjahr in einer Fremdsprache gehört hatte. Und so nickte ich ihm nur zu, wobei ich zu lächeln vergaß, und zog mich eiligen Schrittes zurück.

"Er trug keine Uhr und keinen Schmuck, nicht einmal einen Ehering." Auf solche Dinge achtete mein Chef, ein Formalist und Pragmatiker. Für ihn gehörte zur Ehe ein Ring und zur Scheidung eine gerichtliche Urkunde. Darin war er erprobt. Nicht nur Frauen vergleichen sich mit Frauen, um ihren Marktwerk zu taxieren. Auch Männer tänzeln im Kampfring um den Gegner und testen ihre Chancen auf die besten Weibchen. Ein Konkurrent ohne Bindung, der keine Eitelkeiten kennt, gehört zur Alarmstufe knallrot.

Mir war es egal, was meinem Chef aufgefallen war und wie er es bewertete. Ich ging mit geöffneten Augen nach Hause. Raus aus der bis dahin unbewussten Trauer um ein nichtgelebtes Leben. Dreimal verheiratet, dreimal geschieden. Ohne die Stimme meines Lebens.

Einst war ich jung und schön. Wegen mir stiegen junge Männer, die Cabrios fuhren, in die Eisen, wenn ich am Zebrastreifen stand, und riefen mir Komplimente zu. Aber ich nahm drei alte Männer, die mir Wohlstand und Sicherheit zu versprechen schienen, und redete mir die Liebe dazu. Selbst dann noch, als ich erfuhr, dass sie einen Rennstall voller Stuten nebenbei betrieben. Als ich empört aufbegehrte, lachten sie mich aus und schickten mich mit einer lächerlichen Abfindung in die Wüste.

Vorbei ist vorbei. Aber wäre ich Serrault damals begegnet und hätte seine verführerische Stimme gehört, hätte ich ihn, als ich ihn zum Taxi begleitete, gefragt: "Voulez-vous chouchez avec moi?"

Vielleicht wäre er noch eine Nacht geblieben.

Nein, natürlich hätte ich diese Frage nicht gestellt. Sie spielte mit meiner Phantasie, in der sie sich gefahrlos austoben konnte. Aber ich hätte mit Serrault geflirtet, denn ich wusste, dass er wiederkommen würde. Und dass wir telefonieren würden. Wir hatten ein Mandat unter Dach und Fach, das uns zwei Jahre lang in Kontakt halten sollte.

Was wäre gewesen wenn … müßig, darüber nachzudenken. Es war nicht. Ich wollte lieben und geliebt werden, aber ich fand den rechten Acker für meine Saat nicht. Und der rechte Acker für meine Saat wartete auf mich vergebens.

Erkenntnis ist ein hartes Brot, wenn sie zu spät kommt. Die einmal abgerissenen und zerknüllten Blätter flattern nicht mehr zum Abreißkalender zurück, auf dessen Gerippe der Abfalleimer wartet.

Aber Liebe entzieht sich jedem Kalender. Sie bleibt, weil ihr Klang nie verhallt, sondern von der Zeit in die Ewigkeit getragen wird. Liebe hat eine Stimme. Und deshalb kann man sich in eine Stimme verlieben.

08.04.2024
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Workshop "Kreatives Schreiben":
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Alt 09.04.2024, 13:53   #2
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Ort: mit beiden Beinen in den Wolken
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Beiträge: 1.616


Standard Hallo Ilka

... na so ein Glück, dass die Person so attraktiv wie die Stimme war. Was ich nicht gerade für selbstverständlich halte.
Da darf man schon mal ins Träumen verfallen, auch wenn vielleicht ein "ne volais pas" als Antwort hätte kommen können.
Schade nur, dass deine Figur nicht ein Mal einen Flirtversuch gestartet hatte. Verpasste Gelegenheiten sind eben einfach nur vorbei.

beaux rêves
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