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Alt 04.11.2012, 15:09   #1
männlich Desperado
 
Benutzerbild von Desperado
 
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Ort: Erde, Europa, Deutschland, Bayern
Beiträge: 1.747


Standard Geisterreiter

Manche undurchdringliche Finsternis, durch die der Mensch geschickt wird, schien den alten Griechen wie der Himmel, aber die spinnen die Griechen, bis heute. Wenn sie seinerzeit auch nur ein wenig so ähnlich geartet waren wie ihre eifernden aufgeblasenen Götter und Göttinnen, möchte ich damals wirklich nicht gelebt haben, jedenfalls nicht bei den Hellenen.

Freilich handelt es sich um schöne und spannende Geschichten, etwa die von dem Seefahrer, der auf dem Nachhauseweg zu seiner Frau tausend Gefahren überstehen muss und die irrsten Abenteuer erlebt, aber eine derart verkommene Bagage wie deren Gottheiten möchte ich nicht in meinem Himmel haben, wirklich nicht. Herrschaften dieser Sorte hab ich auf Erden wahrlich genug, um sie in höheren Gefilden nicht auch noch ertragen zu müssen, und wo die letztlich abbleiben, das mögen die Götter entscheiden.

Ich habe das Tal der Leiden, das der namenlosen, oft genug durchritten.

Reite ich in eine schmale Schlucht mitten hinein in einen Hinterhalt, gibt es ein mächtiges Feuerwerk von links und rechts und oben, die Kugeln surren hin und her wie ein dichtgewebtes Spinnennetz, ich komm’ ohne Kratzer rausgeritten, die Bandidos, Kopfgeldjäger, Texas Ranger, Bürgerwehrler - oder wer auch immer da seine Magazine leergeschossen haben mag um mich zu erledigen- haben sich gegenseitig niedergemacht, mir ist es völlig schnurz.

Ich bin Geisterreiter.

Hufspuren, die aus dem Nichts im Staub der Strasse auftauchen, das ist alles was von mir zu sehen, dumpfes Geklapper ohne zu wissen woher es kommt, alles was zu hören ist. Verlorene Söhne, verlorene Welten, verlorene Träume, verlorene Völker, verlorene Zeiten, verlorene Seelen, das ist alles was ich finde.

Der Geisterreiter reitet durch Menschen hindurch, ohne dass sie es merken, ein flüchtiger kühler Schauer den sie spüren, ein blitzendes Irrlicht vor ihren Augen und die furchterregende Ahnung, wie schrecklich so ein Leben sein könnte, das alles gesehen hat und in dem es nichts mehr gibt, was noch zu tun übrig bleibt. Der süße Frieden, den so ein abgeklärtes Dasein in sich birgt jedoch bleibt ihnen verborgen, weil nur der ihn kennt, der mit allem durch ist und alles hinter sich gelassen hat.

Noch so viele einsam schwindelnde Höhen kannst du erklimmen, dich noch so grenzenlos frei und kühn fühlen wie ein schwebender Adler, dem die ganze Welt zu Füßen liegt, wenn der Lebensbogen sich nach unten neigt, ist alles was dir bleibt Erinnerung.

Es ist wie in dieser alten Geschichte der Hellenen, in der jener Seefahrer mit seiner Crew vor die Wahl gestellt ist, zwischen zwei Felsen zermalmt oder von einem Seeungeheuer verspeist zu werden.

So verhält es sich mit der großen Schwermut und Trübsinnigkeit im Verbund mit dem irregewordenen Wahnsinn, du hast die Wahl zwischen beiden und trotzdem keine, weil eins so todbringend ist wie das andere. Die Todessehnsucht ist erschlagend übermächtig geworden und kämpft mit der tobsüchtigen Raserei des Lebenstriebs, und du armes Würstchen wirst zwischen den beiden finsteren Mächten zerrieben, während du hilflos von einem ins andere hüpfst und stolperst, ohne das stete Fallen und Flüchten kontrollieren oder gar beherrschen zu können.

Da bleibt nicht allzu viel übrig von dir, wenn du da durch bist, so du es überleben solltest, ja eigentlich gar nichts, wenn die schwarze Nacht der Seele und das Feuer des Irreseins dich verzehrt und verschlungen haben, im Innern bist du nach dem Erwachen zum wandelnden Leichnam geworden, ein Gespenst, das unendlich fern von allem Leben durch eine unwirkliche Gegend geistert, sich selbst vollkommen fremd und unbekannt, eine verlorene Seele im Körper eines Menschen, den es nicht mehr gibt. Die Erinnerungen, die du mit dir herumträgst, sind die eines anderen, dem du nie zuvor begegnet bist, und du findest keinen rechten Zugang zu diesem Menschen, der da als ein gehöriges Stück Vergangenheit in dir haust.

Auf der anderen Seite hast du die große Freiheit, dieses Leben, das nach allgemeiner Auffassung das deine gewesen sein soll, wie die Lebensbeichte einer Zufallsbegegnung zu ergründen, wie ein Buch über die Erebnisse eines Beliebigen, in dem du liest, als würdest du alles zum ersten mal hören. Du hast Mitleid mit der Hauptfigur, versetzt dich unbefangen in sie hinein, hoffst und bangst mit ihr, bist wütend und zornig auf sie, schüttelst ungläubig den Kopf über ihre unsägliche Naivität und Dummheit, bewunderst ihre waghalsige Verwegenheit, verstehst großmütig ihre Feigheit, teilst ihre Freuden und leidest ihre Qualen...

Kurzum, du kannst sozusagen dein vorheriges Leben als neutraler Beobachter miterleben, beurteilen, abwägen und einschätzen, ohne dass bedrängende oder befangene Gefühle damit verbunden sind. Der Unterhaltungswert ist erheblich, alles in allem ist diese Biographie richtig spannend und tragischkomisch bis an die Schmerzgrenze, und dein Held ist ein gar nicht einmal unsympathischer Mensch mit all seinen Stärken und Schwächen, ein Gefangener der und Wanderer durch die Rätsel, Wunder, Widrigkeiten und Widersprüche des Lebens.

Bist du schließlich durch und klappst den Wälzer zu, wird dir klar, dass du außer diesem Büchlein nichts anzubieten hast, niemandem und auch dir nicht, denn seine Seiten sind alles, was du auf deine vergessene Insel retten hast können. Weil du dir nun ziemlich sicher bist, dass der verrückte Typ seine Abenteuer in deinem Körper erlebt hat, mit deinem Herzen, deinen Talenten und mithilfe deines Hirnkastens, bleibt dir nicht viel mehr übrig, als die Sache als gegeben hinzunehmen und als abgeschlossen stehen zu lassen und den Rest auf dich zukommen, und zwar so ruhig und gelassen wie irgend möglich.

So läuft das ab, wenn ein Desperado zum Geisterreiter wird, oder soll ich sagen aufsteigt.

Der Rest der Welt ist zwar unverbesserlich unbelehrbar davon überzeugt, dass der Reiter vor ihnen ein und derselbe ist wie der von gestern und vorvorgestern, aber da der zum Geisterreiter gewordene Desperado es besser weiß, schert ihn das nicht mehr als unbedingt notwendig, er kann sich mühelos mit den Erinnerungen des gleichsam verstorbenen Desperado identifizieren, wenn es von irgendwem gefordert und erwartet wird, ohne dass ihm dabei mulmig zumute ist oder er sich übermäßig verbiegen oder verstellen müsste.

Was für ihn völlig klar formuliert ist und fließend einfach von den Lippen kommt, weil er in schlichten Worten lediglich von selbst gemachten und erlebten Erfahrungen spricht ohne wenn und aber und große Umschweife, ist seinen Mitmenschen ein Buch mit sieben Siegeln.

Für ihn erscheint es so banal, als würde er davon erzählen, dass er sich beim Sturz vom Pferd das Steißbein geprellt hat, was bei Infinis abrupten und unvorhersehbaren Stopmanövern schon mal vorkommt, jedenfalls nichts Außergewöhnliches und ein gewohntes Ereignis, dessen Resultat in etwa das Gleiche blieb, nämlich völlige Entwurzelung, Auslöschung und ein vollkommen anderes Sein als zuvor, innerlich wie äußerlich, aber wie soll man derlei jemandem verkleckern, der es nicht an eigener Seele erfahren hat.

Das ist der Grund, weshalb Desperados durchaus viel erzählen können, beliebige Geschichten und Anekdoten aus einem ihrer sieben oder acht Leben, aber so gut wie nie von sich selbst reden. Weil ich - zum Beispiel- mich dann fühle wie der alte Chinese, wenn er zwischendrin mal wieder in seine Muttersprache verfallen ist.

Es ist mir durchaus bewusst, wie verrückt sich das alles anhört, aber es ist nun mal so und nicht anders und ich kann es nicht ändern selbst wenn ich wollte. Nur- ich will ja gar nicht, wofür auch, was würde es für einen Sinn machen und wofür sollte so ein Unterfangen gut sein?

Verstehen könnte das nur, wer selbst zum Geisterreiter geworden ist, aber so einen finde mal, allzu viele gibt es nämlich nicht davon, und eine seiner Lebenswirklichkeiten ist nun mal die Einsamkeit, aber keine die weh tut, sondern eine sehr angenehm beruhigende und gefüllte. Wer weiß, vielleicht schwebt grade einer über den Hochwassern des Mississippi, warum aber sollte es den in meine Wüste verschlagen oder mich zu ihm, da mir der Mississippi gestohlen bleiben kann, weil mein Fluss des Vergessens tausendmal schöner ist, was ihm andersrum sicher genauso geht.

Ist ja vielleicht auch ganz gut so. Wer weiß, was Geisterreitern alles an Unsinn einfallen würde, wenn sie im Haufen angeritten kommen, das will ich lieber gar nicht so genau wissen, wäre auf alle Fälle eine gespenstische Angelegenheit.

Ich bin Desperado, immer schon gewesen, und das passt schon so.

Einen Geisterreiter schreckt das Totenreich nicht, es ist sehr viel friedlicher als das der Lebenden. Eine Nacht in seinem Innern mit sich herumzutragen, die schwärzer ist als die der Sonne, wenn sich der Mond vor ihr Gesicht schiebt –wie der alte Mescalero so schön zu sagen pflegt- ist eine schwer zu tragende ach was absolut unerträgliche Bürde.

Und eben weil das so ist, öffnet sich dem von ihr Gemarterten immer wieder mal die eine oder andere Tür, von deren Existenz er bis dahin nichts wusste, als Trostpflaster, Schmerzmittelchen, Fluchtweg, vielleicht auch nur deshalb, weil er sich im Herzen der Nacht ohnehin immerzu in unbekannten Gefilden und unerforschten Regionen befindet. Und er wäre schön blöd, wenn er diese Türen verrammeln würde und nicht aus und ein spazieren, wie es ihm beliebt und wann immer ihm danach ist, ohne sich dabei um die Meinung seiner Zeitgenossen zu kümmern.

Die meisten Leute gehen nie durch diese Türen, weil sie sie nicht kennen und nicht daran glauben wollen, dass es diese Pforten überhaupt gibt. Aber was scheren einen Desperado die meisten Leute?

Ein Geisterreiter nun hält sich vorwiegend in den verborgenen Räumen hinter seinen Türen auf, weil sie ihm wirklicher und spannender geworden sind als die schnöde Welt davor, und eines Tages werden sie ihm zur Heimat. Oder glaubt jemand, ich habe meine Squaw Hózhó diesseits der Türen gefunden? Da hätte ich sie vermutlich aufmerksam, aber eben nur am Rande, beachtet und wäre weiter meines Wegs geritten, weil sie nicht die Meine sein hätte können, nicht die, die ich mein Lebtag gesucht habe und dort gefunden, wo ich bin.

Das unheimliche Geheimnis eines Geisterreiters ist unergründlich, weil es grundlos ist, sein Ritt über die Bodenlosigkeit des immerfort gähnenden Abgrunds menschlichen Seins kennt nur den Halt von Luft und Liebe, weil er spät genug aber rechtzeitig dahintergekommen ist, dass es sonst nichts gibt, was für die Tragfähigkeit eines Lebens taugt und nie etwas anderes gegeben hat.

Der wirkliche Grund dafür, weshalb der Mensch geradezu verzweifelt behauptet, dass er nicht von Luft und Liebe leben kann ist der, dass er genau weiß, dass er sonst nichts zum Leben braucht, und all das große Drumherum nichts weiter ist als Schall und Rauch, ein lärmendes Spektakel steter Vergeblichkeit. Im tiefsten Grunde seines Herzens weiß das jeder Mensch von Geburt an, darum fürchtet er sich davor, weil ihm der Weg der vermeintlichen Bodenlosigkeit die beunruhigende Wahrheit, dass es keine Sicherheit und niemals Gewissheit gibt und geben kann, so schonungslos vor Augen führt wie keiner sonst.

Die Freiheit des Geisterreiters macht ihm Angst, weil sie alles verleugnet und zunichte macht, womit er sich die seine erkauft zu haben glaubt, ja ihn vor die unangenehme Frage stellt, ob er denn wirklich frei ist oder nur der Gefangene seiner selbst und seiner Umwelt, ihn befällt nagender Zweifel an der Richtigkeit seines Denkens und Handelns, der nicht selten trotzigen Zorn, Neid und Missgunst auf den Vogelfreien in ihm weckt.

So simpel ist das und so kindlich schlicht, weder hat der Desperado irgend etwas zu tun damit, noch ist er ursächlich verantwortlich dafür, außer durch sein bloßes Sein und dadurch, dass es ihn nun mal gibt, und soweit er sich erinnern kann, kann er dafür noch viel weniger.

Wo auch immer der Geisterreiter auftaucht, ruft es bald von allen Seiten „zeige dich und mach dich sichtbar, damit wir dich erkennen können!“, was nützt dem müden Desperado seine ehrliche Antwort „mich kann nur sehen, wer sich selbst sieht und nur erkennen, wer sich selbst erkannt hat“ wenn niemand da ist, der ihm Glauben schenken will und alle ihm stattdessen Geheimnistuerei vorwerfen.

Und die ihn sehen können murmeln nur „schau an, ein Desperado, gibt’s die immer noch, gut zu wissen“.

Aber nun, so ist das eben, ein Desperado, der zum Geisterreiter geworden ist, kann gut damit leben, und wahrscheinlich tun alle Bewohner jedes Village gut daran, ihn nicht zu fragen, was er sich eigentlich davon verspricht, durchs Dorf zu geistern. Denn wie immer und überall und in allem hat er nicht den Hauch und Dunst einer Ahnung davon, was er wann wo warum weswegen und wofür tut, er macht es einfach, das genügt ihm vollends.

Gibt es denn wirklich einen einleuchtend erklärlichen Grund für irgendwas unter der alten Sonne?
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