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Alt 10.04.2018, 10:32   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Großvater zündet seine Pfeife an

Wenn ich die Raucher unter meinen Freunden und Bekannten frage, weshalb sie rauchen, bekomme ich meist ähnliche Antworten, die sich so zusammenfassen lassen: „Zur Entspannung. Nach zwei, drei Zügen fällt alle Nervosität von mir ab, dann fühle ich mich für eine Weile ausgeglichen und kann meinen Kopf und meine Hände wieder gebrauchen.“

So einer ist mein Großvater nicht. Wenn ihn die Nervosität packt, dreht er ein paar Runden im Park und lauscht dem Zwitschern der Vögel. Erst wenn er völlig entspannt wieder zu Hause angekommen ist, holt ihn die Lust auf seine Pfeife ein. „Hastige Raucher genießen nicht, sondern fackeln gedankenlos Tabak ab und stoßen Qualm in die Luft wie die Schornsteine,“ pflegt er zu sagen. Für ihn ist das Rauchen ein Ritual.

Großvaters Pfeife ist eine Savinelli. Sie stammt aus seiner Studentenzeit, und es hatte ihn damals Blut und Wasser schwitzen lassen, die Schulden zurückzuzahlen, auf die er sich für dieses kostbare Stück eingelassen hatte. Dabei war sie nicht einmal der Maserati unter den Savinellis, sondern, hoch gegriffen, ein Fiat Novecento – was für einen Studenten immer noch kostspielig genug war.

Er kam über die Runden, schaffte das Studium, und hielt sie in Ehren, diese Pfeife mit dem Kopf aus fast schwarzem und kaum gemasertem Holz, das sich glatt anfühlte wie ein Spiegel. Solange ich denken kann, hat sie ihren Stammplatz auf einem kleinen ovalen Tisch mit integrierter Leselampe, ein Erbstück aus einem verflossenen Jahrhundert. Wenn Großvater sich in den abgewetzten Sessel daneben setzt und zärtlich mit seinen Fingern die Pfeife streichelt, weiß ich, dass das Ritual beginn.

Er will auf Nummer sicher gehen und klopft deshalb den Pfeifenkopf nochmal im Aschenbecher aus, obwohl er das nach dem letzten Rauchen bereits getan hat. Dann nimmt er den Auskratzer zu Hilfe, um die Tabakkrusten von der Innenwand des Pfeifenkopfs zu schaben. Er prüft das Mundstück auf Zug und scheint mit dem Ergebnis zufrieden zu sein, was sich in einem billigenden Brummen hörbar macht.

Dann öffnet er das Tabaketui, entnimmt ihm mit Daumen und Zeigefinger häppchenweise das trockene Gebrösel, stopft damit den Pfeifenkopf und drückt es mit dem Daumen fest. Ehe er zur Streichholzschachtel greift, lässt er das Aroma des würzigen Krauts in sich strömen, wohl wissend, dass es nach dem Entzünden anders riechen wird als jetzt in seiner vollen Unschuld und Frische.

Er streicht das Streichholz über die raue Seite der Schachtel. Eine Flamme zischt hoch, sackt aber nach dem kurzen Fraß des Schwefelköpfchens zu einem Feuerkügelchen zusammen, das träge an dem wächsernen Hölzchen schwelgt. Es genügt Großvater, den Tabak in seiner Pfeife zum Glimmen zu bringen. Vorsichtig bläst er das Feuerkügelchen an, damit es nicht vorzeitig ausgeht. Kaum ist es erloschen, nimmt Großvater seinen ersten Zug, lehnt sich behaglich in seinem Sessel zurück und genießt eine der schönsten Stunden seines Alltags.

10.04.2018
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