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Philosophisches und Nachdenkliches Philosophische Gedichte und solche, die zum Nachdenken anregen sollen.

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Alt 10.11.2021, 14:22   #1
weiblich Ottilie
 
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Standard Der peinliche Luther

Augenscheinlich ist heut peinlich,
was einst Martin Luther schrieb
über Juden, ihren Glauben:
Welcher Geist war’s, der ihn trieb?

War‘s der Geist des Reformators,
der gewütet gegen Rom?
Dachten die nicht dort das Gleiche
unterm Gold vom Petersdom?

War’s der Hang zu neuem Glauben
ohne Prunk, bescheiden, rein?
Galten Luthers Hasstiraden
einem neuen Menschensein?

Alle Juden seien Schweine,
ihr Ha-Schem ein Satansstück
aus des Judas Exkrementen:
Ursach‘ für Christenunglück.

War es etwa nur Enttäuschung,
dass sein Geist nicht überwand
den verfluchten Judenglauben,
der halsstarrig widerstand?

Offenbarlich ist unklarlich,
was die Kirche nunmehr denkt.
Stellungnahmen scheinen leider
schwer verlogen und verrenkt.

Auch der Rest meint heut zu wissen
was den Luther geifern ließ,
Synagogen sollten brennen
und die drinnen überdies.

Allerdings, ich möchte warnen:
Einmal wird jedes Urteil
von Zukünft’gen durchgesehen.
Und, wer weiß, ob uns zum Heil.

Jedes Urteil wird gebildet
nach der Handlung, hier und da.
Wenn ich unser Handeln sehe,
sind wir Luthern oft recht nah.
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Alt 10.11.2021, 15:24   #2
weiblich Ilka-Maria
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Hallo, Ottilie,

für eine komplexe Figur wie Martin Luther ist mir dein Gedicht zu oberflächlich. Du reduzierst ihn auf einen Judenhasser und Kirchenspalter. Er war jedoch mehr als das.

Zitat:
Welcher Geist war’s, der ihn trieb?
Ganz einfach: Der Geist seiner Zeit. So wie er dachten viele Leute. Die Aufklärung war noch weit entfernt, die Menschen waren abergläubisch, mehrheitlich ungebildet und in feste Standesordnungen eingebunden. Zudem befand sich Europa im Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert in einem gravierenden Umbruch, der sie zutiefst verunsicherte. Es war kein Zufall, dass ausgerechnet in dieser Epoche der aufkommenden Wissenschaften und Entdeckungen die Hexenverfolgung drastisch zunahm und im 17. und 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt hatte.

Zitat:
War‘s der Geist des Reformators,
der gewütet gegen Rom?
Dachten die nicht dort das Gleiche
unterm Gold vom Petersdom?

War’s der Hang zu neuem Glauben
...
Luther sah sich nicht als Reformater. Er hatte nicht "gegen Rom gewütet", und das letzte, was er beabsichtigte, war die Spaltung der Kirche. Er hatte nichts gegen den Grundsatz, dass sich Leute von ihren Sünden durch Ablasszahlungen befreien konnten, die in die Kosten des Baus des Peterdoms flossen (insofern ist die Strophe deines Gedichts falsch, denn der Dom existierte noch nicht). Was Luther störte, war die Tatsache, dass dieser Ablasshandel inflationär geworden war und deshalb an der wahren Reue der zahlenden Sünder Zweifel bestehen mussten. Dieser Massenhandel war deshalb möglich geworden, weil ca. 100 Jahre zuvor Gutenberg den Buchdruck entwickelt hatte und für den Ablasshandel Formulare gedruckt und in Umlauf gebracht werden konnten. Immer mehr Menschen, auch Analphabeten, waren nunmehr in der Lage, sich von ihrer Angst vor der Hölle (an die sie wirklich glaubten) mühelos befreien zu können. Für den Papst war das ein lukratives Geschäft, für einen Mann wie Luther in dieser Form kritikwürdig.

Zitat:
Auch der Rest meint heut zu wissen
was den Luther geifern ließ,
Synagogen sollten brennen
und die drinnen überdies.
Luther geiferte nicht. Auch der angebliche Thesenanschlag ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein Mythos. Bekannt ist lediglich, dass er seine Bedenken gegen den Glaubensverfall niedergeschrieben und diese Papiere verschickt hat. Zu keiner Zeit hatte er sich mit den hohen Geistlichen oder mit den weltlichen Fürsten anlegen wollen. Das hat sich später darin gezeigt, als er sich nicht zur Galionsfigur des Bauernaufstands machen ließ, sondern deren Anführer mahnte, die "Ordnung Gottes" - damit meinte er die Obrigkeit - nicht in Frage zu stellen.

Womit er zur "persona non grata" wurde, war indes seine Vorstellung davon, dass es zwischen dem Menschen und Gott keines Vermittlers bedürfe, sondern jeder allein durch das Gebet Zugang zu Gott finde. Damit, nicht mit dem Ablasshandel, stellte er die kirchliche Obrigkeit in Frage - jedenfalls sah man es in diesen Kreisen so. Er musste fliehen. Und damit komme ich zu dem, was Luthers Platz in der Geschichte gefestigt hat: Im Schutze der Wartburg übersetzte er die Bibel und schuf damit eine Einheitssprache für alle deutschen Länder. Die Menschen, die Zugang zu Lesen und Schreiben fanden, hörten also keine kirchlichen Messen mehr in Latein, das niemand verstand, sondern konnten die Bibel selber lesen.

Wie sich das politisch auswirkte, konnte Luther nicht voraussehen. Fürsten, die mit der Reichsführung nicht einverstanden waren, sagten sich vom katholischen Glauben los, nannten sich Protestanten und führten gegen die andere Seite Krieg. Von da war es nur nur noch ein Schritt bis zum Dreißigjährigen Krieg.

Kurz gesagt:

Luthers historische Rolle auf das Wettern gegen Juden und den Papst zu reduzieren, greift zu kurz. Das gab es in der Geschicht en masse. Bei einem Gedicht deiner Länge hätte man durchaus bedeutsamere Aspekte einbringen können.


.
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Alt 11.11.2021, 12:17   #3
weiblich Ottilie
 
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Hallo Ilka-Marie,

danke für Deine ausführliche Besprechung meines kleinen Gedichtchens zum Thema Luther.

Mir ist schon klar, dass dieses Thema für Christen nicht besonders appetitlich ist. Ich möchte hier auch niemandes festen Glauben verletzen oder beleidigen, möchte Dir aber in einigen Punkten widersprechen.

Du schreibst:

für eine komplexe Figur wie Martin Luther ist mir dein Gedicht zu oberflächlich. Du reduzierst ihn auf einen Judenhasser und Kirchenspalter. Er war jedoch mehr als das.

Nun ja, aus den diversen Quellen geht hervor, dass er genau das war: Ein Kirchenspalter, der mit saftigen Worten nicht sparte. Bekannt ist sicher, dass er Papst Leo X. als „Antichrist“ und „Saw“ beschimpfte. Als ihm dieser die Exkommunikation androhte, verbrannte er die Bannbulle öffentlich und exkommunizierte den Papst kurzerhand selbst.

Du schreibst:

Luther sah sich nicht als Reformater. Er hatte nicht "gegen Rom gewütet", und das letzte, was er beabsichtigte, war die Spaltung der Kirche. Er hatte nichts gegen den Grundsatz, dass sich Leute von ihren Sünden durch Ablasszahlungen befreien konnten, die in die Kosten des Baus des Peterdoms flossen (insofern ist die Strophe deines Gedichts falsch, denn der Dom existierte noch nicht). Was Luther störte, war die Tatsache, dass dieser Ablasshandel inflationär geworden war und deshalb an der wahren Reue der zahlenden Sünder Zweifel bestehen mussten. Dieser Massenhandel war deshalb möglich geworden, weil ca. 100 Jahre zuvor Gutenberg den Buchdruck entwickelt hatte und für den Ablasshandel Formulare gedruckt und in Umlauf gebracht werden konnten. Immer mehr Menschen, auch Analphabeten, waren nunmehr in der Lage, sich von ihrer Angst vor der Hölle (an die sie wirklich glaubten) mühelos befreien zu können. Für den Papst war das ein lukratives Geschäft, für einen Mann wie Luther in dieser Form kritikwürdig.

Wenn sich Luther nicht als Reformator sah, als was sah er sich denn? Wo war eigentlich der Grund für seinen Kampf gegen Rom? Der Grund, liest man so ziemlich überall, war der Bau des Petersdomes. Um den Sakralbau zu finanzieren, wurde Anfang des 16. Jhdts. der Peterspfennig eingeführt: Geld floss nach Rom… Luther: „Ihr seid diejenigen, die Geld nach Rom abführen müssen, Geld für teure Gotteshäuser.“ Letztlich war Luther das Sprachrohr einer nationalstaatlichen Bewegung, die um Unabhängigkeit von Rom kämpfte.
Übrigens begann der Bau des Gotteshauses 1506 und zog sich sehr in die Länge, dagegen war der Flughafen Schönefeld eine Schnellbaustelle. Ich bringe den Petersdom ins Spiel, weil er der Auslöser der Reformation – sprich: der nationalstaatlichen Bewegungen in Mitteleuropa – war. Für die Anhänger Luthers war er das verhasste Symbol des Papsttums und der Macht Roms schlechthin.

Du schreibst:

Luther geiferte nicht.

Genau das tat der gute Luther leider in allerbester Manier. Die Juden waren für ihn „Grundsuppe aller losen, bösen Buben, die aus aller Welt zusammengeflossen“. Er behauptete, jüdische Ärzte wollten Christen meucheln, die Juden entführten Kinder, vergifteten Brunnen, schändeten Hostien… Er legte sich noch drei Tage vor seinem Tod für die Vertreibung der Juden aus evangelischen Gebieten schwer ins Zeug, woraufhin z.B. die Eislebener Juden, die man bereits aus Magdeburg vertrieben hatte, wiederum vertrieben wurden.

Du schreibst:

Im Schutze der Wartburg übersetzte er die Bibel und schuf damit eine Einheitssprache für alle deutschen Länder. Die Menschen, die Zugang zu Lesen und Schreiben fanden, hörten also keine kirchlichen Messen mehr in Latein, das niemand verstand, sondern konnten die Bibel selber lesen.

Ja, das ist sein Verdienst – das leider viele andere im Hintergrund verschwinden lässt. Luther besaß nicht die besten Hebräischkenntnisse, mit Griechisch und Latein war‘s wohl besser. Als ihm 1525 ein Buch in hebräischer Sprache zugesandt wurde mit der Bitte, eine Inhaltsangabe zu erstellen, bekannte er, dazu nicht in der Lage zu sein.

Du schreibst:

Luthers historische Rolle auf das Wettern gegen Juden und den Papst zu reduzieren, greift zu kurz. Das gab es in der Geschicht en masse. Bei einem Gedicht deiner Länge hätte man durchaus bedeutsamere Aspekte einbringen können.

Liebe Ilka-Marie, hast Du wirklich die letzten Strophen gelesen? Ich kann es kaum glauben. Ich meine – und da gebe ich Dir recht –, wir sollten uns hüten, aus heutiger Sicht historische Personen/ Ereignisse zu beurteilen. Wir können Luther nicht nur auf seine Aussagen zu Juden reduzieren. Aber wir sollten sie auch nicht unter den Teppich kehren. Luther Hasstiraden erlebten im „Dritten Reich“ eine echte Auferstehung.

Der Umgang der EKD mit Luther ist leider sehr, sehr verlogen: Man versucht immer wieder, Luthers Geifereien als christlichen Antijudaismus zu relativieren. Unabhängige Historiker kommen zu dem Schluss, sie seien der Anfang des Rassenantisemitismus gewesen, also einer Spielart des Rassismus, die sich bis heute fortsetzt und immer neue Blüten treibt. Heute sind wir auch oft sehr schnell in der Verurteilung und Beschimpfung Andersdenkender, Andersgläubiger, Andersartiger, also durchaus, in Gedanken wie Worten, dicht bei Luther…

Viele Grüße

Ottilie
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Alt 11.11.2021, 12:50   #4
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Ottilie Beitrag anzeigen
Mir ist schon klar, dass dieses Thema für Christen nicht besonders appetitlich ist. Ich möchte hier auch niemandes festen Glauben verletzen oder beleidigen, möchte Dir aber in einigen Punkten widersprechen.
Kein Problem, ich gehöre keinerlei Glauben an und habe auch nicht die Absicht, als Apologet Luthers aufzutreten.

Mag sein, dass du Luthers Schriften und Aussagen als "geifern" betrachtest, für mich ist es lediglich der Ausdruck dessen, was zu seiner Zeit übliches Denken war. Die Menschen handelten grob, grausam und mitleidlos und nahmen kein Blatt vor den Mund. Auch gehörte es zur Tagesordnung, jüdische Mitbürger zu beschimpfen, zu verachten, der übelsten Taten zu verdächtigen und sie auszugrenzen. Darin war Luther kein Einzelfall. Es gehörte zur Psychologie der Epoche.

Du irrst, wenn du Luther unterstellst, er habe in seinem Aufbegehren gegen den Papst eine Kirchenspaltung im Sinn gehabt. Sie ergab sich zwar in der Folge, aber - wie ich bereits schrieb - als eine politische Entwicklung. Luther war kein Landesfürst und hätte dazu gar nicht die Macht und die bewaffnete Gefolgschaft gehabt. Der Hochadel hatte indessen schon immer mit dem Papst und der Kirche im Clinch um die Vorherrschaft gelegen.

Luthers antijüdische Schriften waren mitnichten der Grund für den Holocaust, der gegenüber den jahrtausendelang wiederkehrenden Judenverfolgungen einen eigenen, nämlich einen idustriellen Charakter hatte und ideologisch aus anderen Ecken genährt wurde. Für Luther kam die antijüdische Haltung aus dem Glauben, wie für die meisten Menschen seiner Zeit, die in den Juden die Mörder Christi sahen. Für die Nazis spielten Religionen jedoch keine Rolle. Sie sahen in den Juden keine Glaubensgemeinschaft, sondern ein Volk von Untermenschen. Der Holocaust fußte auf der Verschwörungstheorie des jüdischen Kapitals, das angeblich dazu dienen sollte, die gesamte Menschheit zu unterwerfen, sowie auf einer Rassenideologie. An so etwas war in der frühen Neuzeit noch gar nicht zu denken gewesen.
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Alt 12.11.2021, 00:07   #5
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Liebe Ilka-Marie,

wir müssen ja nicht unbedingt in allen Punkten übereinstimmen, ich akzeptiere Deine Auslegung. Nehmen wir einmal an, Luther habe sich "zeitgemäß" verhalten. Wie würdest Du dann folgende Textstellen erklären, sie stammen aus einem Artikel, der auf wikipedia zu finden ist und den Titel "Martin Luther und die Juden" trägt. Man kann also folgende Zeilen dort lesen:

Mit der Schrift Vom Schem Hamphoras veröffentlichte Luther die von ihm ins Deutsche übersetzten Toledot Jeschu nach einer bereits antijudaistisch redigierten lateinischen Fassung. Diese aus Talmudstellen kompilierte jüdische Legende stellte Jesus als Zauberer und unehelich gezeugten Wechselbalg dar, der den Gottesnamen JHWH (umschrieben als Ha-Schem Ha-Mephorasch: „der allerheiligste, ausgeführte Name“) als magische Formel missbraucht habe und deshalb gescheitert sei.[67] Luther hatte diesen Text durch Antonius Margaritha kennengelernt und machte ihn im deutschsprachigen Raum bekannt, um die angeblich gotteslästerliche Christusfeindschaft aller Juden zu belegen, die er gerade in ihrer Heiligung des Gottesnamens sah. Dabei verhöhnte er diese jüdische Tradition und die jüdische Bibelexegese dazu aufs Äußerste: Er beschrieb sie als aus Exkrementen des Judas Iskariot gewonnen, griff dabei die Wittenberger Judensau-Skulptur auf, nannte Juden „diese Teufel“ und setzte so Juden, Judas, Exkremente, Schweine und Teufel bildhaft gleich. Seine Vulgärsprache erreichte selbst im damals üblichen groben Schimpf- und Beleidigungsstil eine maximale Schärfe.

1543 bat er den Stadtrat von Straßburg, Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen zu verbieten: Nie zuvor habe „ein Hochgelehrter solch grob unmenschlich Buch mit Scheltworten und Laster uns armen Juden auferlegt, von dem sich, Gott weiß es, in unserem Glauben und in unserer Jüdischkeit in der Tat auch nicht das Geringste finden läßt.“[75] Der Straßburger Stadtrat verbot den Druck der Schriften Luthers von 1543, erlaubte 1570 aber andere antijüdische Bücher und Grafiken.

Es würde mich schon interessieren, wie Du diese Aussagen siehst. Haben die Verfasser übertrieben?
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Alt 12.11.2021, 03:34   #6
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Ottilie Beitrag anzeigen
Es würde mich schon interessieren, wie Du diese Aussagen siehst. Haben die Verfasser übertrieben?
Was an diesen Auszügen (Verfasser bzw. Quelle hast du nicht genannt, ich vermute Wikipedia) steht im Widerspruch zu dem, was ich geschrieben habe? Ich kann es nur wiederholen: Luther unerstand dem Zeitgeist und schrieb, was die meisten Leute dachten und sagten. Er griff auf bereits bestehendes antijüdisches Schriftgut zurück sowie auf antijüdische Darstellungen, die nicht minder übel waren, als er sie beschrieb. Also nichts Neues unter der Sonne des 16. Jahrhunderts, auch nicht, dass Luther in Sachen Benehmen und Sprachgebrauch ein äußerst rüpelhafter und vulgärer Geselle war und sich der Völlerei und dem Suff hemmungslos hingab.

Zwar habe ich keine Belege dafür, aber ich hege dennoch den Verdacht, dass er unter schweren Persönlichkeitsstörungen litt. Angeblich hatte er behauptet, den "Teufel", nach dem er das Tintenfass warf, wirklich gesehen zu haben - ein Hinweis auf Wahnvorstellungen. In seiner Biografie gibt es weitere Hinweise, dass er ein abergläubischer Mensch war, der vor vermeintlich existierenden übernatürlichen Mächten eine panische Angst hatte.

Die Judenfeindschaft Luthers ist aber gar nicht mein Problem, damit ist er historisch und kulturell in prominenter Gesellschaft. Ich wüsste auch nicht, was an Luthers antijüdischen Schriften historisch wesentlich gewesen wäre, denn sie bewirkten nichts.

Mir ist die Feststellung wichtiger, dass es nicht Luthers Anliegen war, die Kirche zu spalten, als er sich mit dem Papst und anderen Würdenträgern anlegte. Es waren die politischen und sozialen Konflikte, die schon vor Luthers Thesen entstanden waren und bis weit in das 16. Jahrhundert hineinwirkten, was längst die rurale und urbane Bevölkerung wie auch den Hochadel und den niederen Adel spaltete. Luthers Kritik an Kirche und Papsttum floss in die zahlreichen Aufstände ein, d.h., der von Gott hergeleitete Herrschaftsanspruch des Hochadels und die Vermittlerrolle der Kirchenvertreter wurde von der protestierenden Bevölkerung angezweifelt. Luther ging von dieser Auslegung seiner Kritik jedoch auf Distanz.

Die Kirchenspaltung drohte sich erst nach der Mitte des 16. Jahrhunderts dauerhaft herauszubilden, da war Luther bereits tot. Zementiert wurde sie allerdings erst nach dem 30jährigen Krieg mit dem Westfälischen Frieden von 1848.

Damit wir nicht aneinander vorbeireden: Ich will dir deine Meinung über Luthers Weltanschauung (übrigens ein Wort, das es damals noch nicht gab, sondern erst von Kant geprägt wurde) nicht absprechen. Meine Kritik an deinem Gedicht bezieht sich vornehmlich auf einige Details, die falsch sind, wie z.B. die Kuppel des Peterdoms (der Neubau stand noch ganz am Anfang, Michelangelo übernahm die Bauleitung 1547 und lebte bei der Fertigstellung der Kuppel nicht mehr, und geweiht wurde der Dom erst Mitte des 17. Jahrhunderts), sowie auf die eigentlichen Gründe und Voraussetzungen für Luthers Kampf gegen den Sittenverfall in der Kirche, der nicht auf die Kirchenspaltung abgezielt hatte. Weiterhin bezieht sich meine Kritik darauf, dass bei einem Gedicht dieser Länge die Behandlung der Figur Luthers, der ungeachtet seines Charakters den Verlauf der Geschichte wesentlich beeinflusst hat, zu einseitig geblieben ist. Die Aspkete, die du herausgegriffen hast und die sich hauptsächlich auf seine antijüdischen Schriften beziehen, hätte man in weit weniger Verse kleiden können. Auch der Titel wäre zu überdenken, denn ein Mensch wie Luther, der zu einer überbordenden Vulgarität neigte, war aus heutiger Sicht nicht nur "peinlich", sondern abscheulich und abstoßend, wobei ich mir sicher bin, dass das viele Menschen seiner Zeit nicht so werteten. Er hatte seine Freunde und Anhänger, darüber kann man nicht einfach hinwegsehen.
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Alt 12.11.2021, 16:22   #7
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Liebe Ilka,
mit einigem Erstaunen habe ich deine Kommentare zu Ottilies Gedicht gelesen und selbst bei oberflächlicher Betrachtung springt einen doch der starke Reflex zur Relativierung und Banalisierung ins Auge.
Schon der Vorwurf das Gedicht würde nicht die Gesamtbedeutung Luthers würdigen ist geradezu absurd. Was forderst du? Dass sich das Gedicht einreihe in die lange Folge all der Wälzer, Lutherjahre, Filme, Abhandlungen, Doktorarbeiten etc. die mit seinem Namen verbunden sind??
Und sehr zurecht finde ich setzt das Gedicht seinen Schwerpunkt auf seinen Antisemitismus, denn letztlich war der theologische Disput in seinen Folgen geschichtlich äußerst relevant und für Gläubige von Interesse, aber natürlich ist der Streit zwischen verschiedenen Richtungen der Geisteskrankheit Religion ein Streit um die Vorherrschaft von Wahnvorstellungen und wie sie am besten in die Tat umzusetzen seien. Daher vom Erkenntnisgewinn völlig unerheblich.
Was bleibt ist die Erkenntnis über die Wirksamkeit des Populismus verbunden mit dem Einsatz moderner Kommunikationsmethoden. Hier begann gewiss eine Ära.
Und es bleibt ein geradezu bestürzender Antisemitismus, und ich bitte dich Ilka, was ein Argument, dass dieser damals weit verbreitet war, dass man damals eben so gesprochen hat. Dieses Argument hätte man genauso für das 20 Jhd. anbringen können.
Ich meine, man muss eben den umgekehrten Schluss ziehen, dass Menschen die moralisch unhaltbar geworden sind und seien sie in noch so zahlreicher Gesellschafft, nicht als Säulenheilige unserer Geschichte herhalten können, diese Denkmäler gehören umgestürzt, oder zumindest angepinkelt und über ihre toxische Wirkung mit Infotäfelchen versehen.
Und genau so ein Infotäfelchen hat Ottilie mit ihrem Gedicht geschrieben und es in den Kommentaren auch umfangreich belegt.
Im Vergleich mit vielen Gedichten, die man hier im Zeitgeschichtlichen oder Philosophischen liest und die nur aus dümmsten Allgemeinplätzen und Plattitüden bestehen, ist das Gedicht doch erfrischend inhaltsreich und interessant und natürlich wert es zu diskutieren.

Viele Grüße,
Andri
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Alt 12.11.2021, 16:47   #8
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Zitat:
Und es bleibt ein geradezu bestürzender Antisemitismus, und ich bitte dich Ilka, was ein Argument, dass dieser damals weit verbreitet war, dass man damals eben so gesprochen hat. Dieses Argument hätte man genauso für das 20 Jhd. anbringen können.
Nein, hätte man so nicht. Der Antisemitismus des 20. Jahrhunderts beruhte, wie ich bereits schrieb, auf einer völlig anderen Ideologie. Ich habe keine Lust, mich ständig zu wiederholen, worin die Unterschiede lagen. Du kannst aber gewiss sein, dass keine Judenverfolgung vor dem 20. Jahrhundert so gravierend und verheerend gewesen war, wie diejenige des Faschismus. Das hatte durchaus Gründe, denn sie fußte nun einmal auf einer völlig anderen Ideologie als in der Vergangenheit, und die hatte somit mit Luther nichts zu tun, egal, auf wen sich die Nazis beriefen. Da war Luther schließlich nicht der einzige.

Befasse dich erst einmal mit Geschichte, vor allem mit Ideengeschichte. So wie du es ausdrückst, habe ich es ohnehin nicht geschrieben. Den Hinweis auf irgendwelche Jubiläen, Filme etc. hättest du dir sparen können, die sind mir von jeher schnuppe. Ich habe mich jahrelang mit Religionen und der Judenverfolgung befasst, die Diskussion zwischen Bracher, Brackert & Co. verfolgt und sogar eine Prüfung über die Judengesetze in Nazi-Deutschland von 1933 bis 1939 abgelegt. Gehe einfach mal davon aus, dass ich ein bisschen darüber weiß, was ich vertrete. Auch mit dem Übergang zur Neuzeit und den darauffolgenden Auseinandersetzungen zwischen weltlicher und kirchlicher Macht habe ich mich befasst, und ich kann versichern, dass dieser Umbruch so komplex war, dass man ihn und die Handlungen der Menschen in dieser Zeit nur im Gesamtzusammenhang beurteilen kann.

Luthers Antisemitismus hatte, wie ich bereits schrieb, keinerlei Auswirkungen. Ganz im Gegenteil steuerten die eineinhalb Jahrhunderte nach seiner Zeit auf die Aufklärung hin, mit der die Judenemanzipation einherging. Ich überlasse es dir, selbst nachzulesen, welche Rechte den Juden damals eingeräumt wurden.

Antisemitismus war zu jeder Zeit schrecklich, darüber gibt ist überhaupt keine Streitfrage. Ich lege aber, wenn es um historische Begebenheiten und Entwicklungen geht, keine heutigen Maßstäbe an. Hinterher weiß man schließlich alles besser, da kommen die Klugscheißer aus den Löchern und strecken den Zeigefinger aus. Historiker nennen das "Postheroismus".

Übrigens waren es nicht per se die Juden, die unter den Folgen der Kirchenspaltung und das Driften in den 30jährigen Krieg litten, sondern über der Hälfte der Gesamtbevölkerung Europas wurde der Garaus gemacht.

Außerdem ändert deine Kritik nichts an der Aussage, dass das Gedicht sachliche Fehler enthält: Der Petersdom stand zu Luthers Zeit noch nicht, und von einer Kuppel konnte noch lange nicht die Rede sein. Und nochmal: Eine Kirchenspaltung hatte Luther nicht im Sinn gehabt. Das sind die historischen, nachprüfbaren Tatsachen.
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Alt 12.11.2021, 18:10   #9
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Liebe Ilka, liebe Ottilie

Zitat:
Kurz gesagt:

Luthers historische Rolle auf das Wettern gegen Juden und den Papst zu reduzieren, greift zu kurz. Das gab es in der Geschicht en masse. Bei einem Gedicht deiner Länge hätte man durchaus bedeutsamere Aspekte einbringen können.
Wenn das nicht Relativierung und Banalisierung ist..
Sein Antisemitismus ist sozusagen ja nur marginal bezogen auf seine historische Bedeutung? Ganz am Rande das Wort "Wettern" ist im Zusammenhang mit Antisemitismus natürlich ein Euphemismus.
Und wieso hätte das Gedicht nun ein anderes Thema haben sollen als es hat, einen anderen Schwerpunkt? Es hat aber diesen und der ist auch sehr berechtigt. Nebenbei ist es so lang auch nicht.
So wie ich das Gedicht lese ist die Kirchenspaltung nun überhaupt nicht sein Thema und es ist daher auch unwichtig, ob Luther sie wollte, oder nicht. Die Frage des "Wütens" gegen Rom ist eine Definitionssache was denn nun Wüten sei, und eben auch nicht Thema. Und die kleine Ungenauigkeit mit dem Petersdom, nun ja von der Kuppel ist gar keine Rede, der Dom ist dem Reim geschuldet. Eine sehr geringfügige Ungenauigkeit. Gold wird es auch vorher genug gegeben haben.
Ich glaube letztlich hast du mit der Kritik an dem Gedicht aus einem Ärger darüber in die falsche Richtung gefeuert, und musst sie nun wortgewandt und mit deinem großem geschichtlichen Wissen rechtfertigen.


An Ottilie den Dank, dass sie ein scheinbar recht sperriges Thema in Reime gefasst hat und Diskussionsstoff zum Umgang mit einem der "Übergrößen" der Geschichte geliefert hat. Man mag das als "Postheroismus" abtun, ich halte es für allzu notwendig. Fühl dich von meiner Seite ermutigt gerne wieder ein geschichtliches Thema kritisch zu bearbeiten.

Liebe Grüße
Andri
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Alt 12.11.2021, 19:14   #10
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Zitat:
Zitat von Andri Beitrag anzeigen
So wie ich das Gedicht lese ist die Kirchenspaltung nun überhaupt nicht sein Thema und es ist daher auch unwichtig, ob Luther sie wollte, oder nicht.


Zitat:
War‘s der Geist des Reformators,
der gewütet gegen Rom?
...
War’s der Hang zu neuem Glauben
Wie sind diese Verse sonst zu verstehen? Etwa nur als rhetorische Fragen? Ich erspare mir weitere Kommentare hierzu.

Zitat:
... die kleine Ungenauigkeit mit dem Petersdom, nun ja von der Kuppel ist gar keine Rede,
Richtig, aber wenn da steht "unterm Gold vom Petersdom" muss in der Phantasie des Autors ein Dach dagewesen sein, in welcher Form auch immer, jedenfalls galt der Dom mit Fertigstellung der Kuppel als soweit gediehen, dass man ihn weihen konnte. Ich war bereits im Vatikan und im Petersdom, an Gold kann ich mich gar nicht erinnern - nur an sehr viele Fresken und Gemälde, aber das mag meinem fehlerhaften Erinnerungsvermögen geschuldet sein. Eine Papstkirche in Rom mit Luther in Verbindung zu bringen, die noch lange nicht existiert, ist für mich jedenfalls keine "kleine Ungenauigkeit", sondern ein grober Fehler. Schließlich ging es u.a. um den Ablasshandel, und die Einnahmen dienten nun einmal gerade dazu, den Bau des Petersdoms zu finanzieren. Also wie kann er da schon existiert haben?

Zitat:
Ich glaube letztlich hast du mit der Kritik an dem Gedicht aus einem Ärger darüber in die falsche Richtung gefeuert, und musst sie nun wortgewandt und mit deinem großem geschichtlichen Wissen rechtfertigen.
Das ist Grundwissen, Andri, und wortgewandt bin ich immer. Fakten bleiben Fakten, selbst wenn sie gestottert daherkämen, da gibt es nichts zu ärgern oder zu rechtfertigen. Wem das Gedicht gefällt - meinetwegen. Ich hätte für den Text gründlicher recherchiert.

Damit ist der Fall von meiner Seite erledigt. Das Missionarsgewand steht mir nicht besonders gut, und wer sich an Fehlern nicht stört, soll sie halt schlucken.
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