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Alt 04.11.2021, 17:39   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Der Investor

Konrad schlug mit der Faust auf den Tisch. „Das lasse ich mir nicht gefallen! Mir kann meiner Familie nicht so ein dahergelaufener Stadtmensch wie Sie über Nacht das Leben unter dem Hintern wegziehen!“

Er hob seine fast einhundert Kilo vom Stuhl, packte den schmächtigen Lorenz Helmrich am Revers seines Sakkos und hob ihn, ohne dass dieser mit den Füßen auch nur einmal den Boden berührt hätte, zum Ausgang. Dort ließ er ihn los, schob den Riegel zurück, öffnete die Tür und schrie ihn an: „Raus!“

Helmrich blieb jedoch stehen, zupfte sein Revers zurecht und erwiderte aufmüpfig: „Ich sollte besser bleiben. Ich habe sogar das Recht dazu, hier zu bleiben. Der Hof gehört nämlich mir.“

Konrad sah ihn aus schmalen Lidern an. „So? Wer sagt das?“

„Ich, das Amtsgericht und der Grundbuchauszug.“ Selbstsicher ging Helmrich an den Tisch zurück und setzte sich wieder. „Du bist jahrelang hochverschuldet gewesen, nie mehr in den schwarzen Bereich gekommen. Und deshalb ich habe die Titel gekauft.“

Konrad setzte sich ebenfalls an den Tisch zurück. In seinen Augen stand Argwohn „Nur deshalb? Ein verschuldetes Gehöft?“

„Wo denkst du hin. Natürlich habe ich Großes damit vor. Und um es gleich zu sagen: Du kannst mit deiner Familie hierbleiben und mir zur Hand gehen. Aber nicht wegen solcher Lappalien wie Schafzucht, einem Kartoffelacker und einer Wiese, um mit dem Heu zwei Kühe und einen Ziehochsen zu füttern. Und noch einem Haferfeld für deine einzige Stute.“

„Meine Schafe gehören zur Familie. Wir haben gerade vier Lämmer dazubekommen, Marie, Susie, Johnny und Nicky. “

Helmrich winkte ab: „Unbrauchbar. Die werden morgen abgeholt.“

„Wohin?“

„Zum Schlachthof. Wohin sonst.“

„Und Sonja?“

„Die Stute? Die ist fertig. Und Gnadenbrot ist in meinem Budget nicht drin.“

Konrad erfasste Panik. „Was, um Himmels Willen, haben Sie vor?“

„Ganz einfach, Herr Folkert. Ich mache aus dem Hof ein modernes Unternehmen. Das Programm dafür ist bereits in vollem Gange. Dank meiner beiden Kinder, die mich auf die Geschäftsidee gebracht haben.“

„Ich bin gespannt, mehr darüber zu hören.“

„Dem komme ich gerne nach.“ Helmrich sah Konrad mit leuchtenden Augen an. „Wie wäre es mit einem Glas Bier und einem Stamperl, bevor ich Sie in meine Visionen einweihe?“

Gehorsam brachte Konrad Bier und Schnaps herbei, und nachdem beide kräftig zugelangt und sich auf das „Du“ geeinigt hatten, legte Helmrich los: „Mein Junior ist acht Jahre alt und fährt total auf Dinosaurier ab. Mit einem Ponyhof ist der nicht zu begeistern. Also habe ich mir gedacht, aus dem Hof eine Ranch mit Dinos zu machen und neben dem Wohnhaus und den Ställen ein Hotel für Familienurlauber hochzuziehen.“

„Dinos?“ Konrad war sich beinahe sicher, dass sich seine Augenfarbe vor Ungläubigkeit von hellblau in tiefviolett verwandelt hatte. „Sonst noch was?“

„Durchaus“, fuhr Helmrich fort. „Meine Tochter, die ist fast zwölf, hatte noch eine andere, tolle Idee. Die steht nämlich auf Pferde, wie das bei Mädchen in diesem Alter so ist, und da dachte ich …“

Auf Konrads Gesicht breitete sich ein diabolisches Grinsen aus. „Lass mich raten, Lorenz: Zentauren, die mit Pfeil und Bogen durch die Phantasien der Menschheit galoppieren.“

Helmrich schaute ihn entgeistert an. „Du hast wirklich eine seltene Art, einem die Show zu stehlen!“

„Und mit diesem Programm hast du die Banken überzeugt?“

„Voll und ganz.“

„Und du glaubst, so eine Familienfreizeit aufziehen zu können, indem du meine Schafe schreddern und die Sonja abdecken lässt, den Acker nicht mehr bestellst und die Felder nicht mehr bewirtschaftest? Womit willst du deine Dinos und Zentauren ernähren?“

„Na, mit Importen.“

„Aber wieso? Du kannst es doch billiger haben, wenn du die jetzig genutzten Flächen beibehältst?“

Lorenz lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und brach in Gelächter aus. „Siehst du, jetzt bist du auch darauf reingefallen! Du redest mit mir über Dinos und Zentauren, wie die Banker, mit denen ich verhandelt habe. Dabei weiß jedes Kind, dass es weder Dinos noch Zentauren gibt. Aber Geld … das gibt es. Und zwar in Hülle und Fülle. Du musst diesen Idioten in den Banken nur mit einer Idee kommen, die in einem Spannungsfeld so angesiedelt ist, dass die Idiotie dieser Idee unter ihrem Radarschirm fliegt. Dann kriegst du alles und kannst davon jahrelang gut leben.“

„Und was ist mit meinem Hof?“

„Den kannst du behalten und bei Gelegenheit die Titel von mir zurückkaufen. Oder hast du nur eine Sekunde lang wirklich gedacht, ich würde hier malochen wollen? Dafür bist du doch schon im Joch, du armer Irrer.“

Konrad dachte einen Moment lang nach. Dann fragte er: „Hast du eigentlich nie Hunger, Lorenz?“

Lorenz sinnierte, hörte auf seinen Bauch, der ein deutliches Knurren von sich gab, und erwiderte. „Doch. schon. Noch nicht, wie … na ja, ein bisschen schon. Hat deine Frau nicht ein Süppchen für uns?“

„Hat sie, aber erst morgen nach getaner Arbeit. Wir könnten beide rausgehen, um ihr bei der Ernte zu helfen. Dabei kann man zwischendurch in den Himmel gucken und Einhörner sehen. Das wäre sogar eine sehr gute Gelegenheit, Einhörner zu sehen, denn aus den Wäldern kommen sie nicht, Da sind allenfalls die Schwarzkittel zu Hause, die wenig in den Lüften, aber umso mehr im Schlamm zu Hause sind. Bei der Kartoffelernte und beim Spargelstechen darf man aber getrost phantasieren, das lässt die Rückenschmerzen vergessen.“

Helmrich brach in Lachen aus und hielt Konrad das Glas hin. „Du bist wirklich witzig! Gieß mal nach.“

Konrad holte eine neue Flasche aus der Speisekammer. „Selbstgebrannt und hochprozentig. Davon kann man blind werden.“

„Oder Einhörner sehen“, spottete Helmrich.

Er blieb über Nacht, denn alkoholumnebelt wäre er nicht mehr in der Lage gewesen, sein Auto zu steuern. Für Familie Folkert kein Problem, denn Zimmer für Gäste gab es in ihrem Haus genug.

Als Konrad am nächsten Morgen beim dritten Hahnenschrei erwachte und vor die Tür trat, um wie gewohnt seine zwanzig Kniebeugen zu machen, rieb er sich verwundert die Augen. Denn in den Trog, aus dem seine Schafe und seine Stute zu trinken pflegten, hatte ein stattlicher Hengst seine Nüstern gesenkt, um seinen Durst zu stillen. Er tauchte sie tief genug ein, dass ihm das Wasser, nachdem er den Kopf hob, von dem degenrunden Horn tropfte, das seine Stirn schmückte.
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