Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 14.08.2007, 00:00   #1
Dunkelblau
 
Dabei seit: 03/2006
Beiträge: 129


Standard Old Bills Erwartung

Old Bills Erwartung

Als Old Bill diesmal auf die Uhr sieht ist es zweiundzwanzig Uhr achtundfünfzig. Der dünne, rote Sekundenzeiger passiert die Zwanzig auf dem ausgeblichenen Ziffernblatt. Leer sieht Old Bill aus dem Fenster. Irgendwo in seinen Gedanken steht er vor einem haushohen Klumpen Metall. An diesem Klumpen klebt, unweit über seiner Stirn, ein winziger, farbiger Zettel, jemand hat auf ihn geschrieben: „Bitte wenden“ Und Old Bill zuckt müde und traurig die Schultern, blickt vielleicht zu Boden, und irgendwo in seinem Herzen hat er keinen Schimmer, wo er überhaupt ist.
Heute trinkt er kein Bier. Vor seinen Augen gleitet ein dunkler Schwaden aus Feierlichkeit daher, und diese Feierlichkeit ist wie ein großer Teppich, zusammengeflickt, aus alten Kinderfotos. Er senkt sich schwer über Old Bill, schneidet jedes Außengeräusch ab, erstickend schwer… Old Bill schüttelt ihn von sich und fühlt, wie er weiter ausfranst. Es schmerzt ihn, denn vor diesem Teppich hat er eine scheue Ehrfurcht, die er nicht zu berühren wagt. Er will nicht, dass er dasteht wie der Mörder dieser Bedeutungsschwangeren, vielleicht weil er der Vater ist. Sie sieht ihn an und lächelt erwartungsvoll und er sieht, dass ihr hübsches Abendkleid ganz aus Erinnerungsbildern ist. Und sie hebt ihr Glas und prostet ihm zu. Aus diesem Grund trinkt er kein Bier: es kommt nicht richtig vor. Noch neunundvierzig Minuten. Wie wird er sich fühlen, fragt er sich, und wird diese Leere bleiben? Werde ich einfach weiter so dasitzen und aus dem Fenster starren und werde ich hinübergehen ohne etwas zu fühlen und wird es sein wie immer und werde ich dann doch der Mörder sein? Der schäbige, niedergeschlagene, ungewaschene Mörder? Eine Betonwand ruft hysterisch und erinnert ihn an seine Verantwortung und an diesen großen Moment. Old Bill kennt diese Stimme gut, es ist die seines Vaters und er lächelt selig, als wären alle Wege der Welt selig zu Ende gegangen und er sah sich im Paradies ruhen, auf lichten Wiesen, mit den Engeln. Die Wand ruft wieder und lacht ihn aus. „Dein Lächeln ist doch unecht!“, kreischt sie und kommt aus dem Lachen nicht heraus, bis sie ernst wird. Ihre Peitsche feuert auf die Gesichtsmuskeln. Old Bill sieht schicksalsergeben aus dem Fenster. Old Bill sieht gramgebeugt weiter aus dem Fenster.
Über die endlose Eisschicht hinweg fliegt der Rabe, der hier nicht zuhause ist, und der seinen hornigen, krummen Schnabel aus brüchigem Schwarz in die Nacht reckt, dessen Augen in der Dunkelheit tiefe schwarze Löcher sind, der seinen Schrei in aller Klarheit durch die Stille der Nacht schickt, dessen Krallen ein wenig aussehen wie das drahtige Kunstprojekt eines Menschen, der ein Gefieder aus Schwärze und Glätte hat, auf das der Mond sein Licht wirft.
Er wirft es auch auf die gefallenen Schneeflocken und auf das Eis, das den See bedeckt und irgendwann See sein wird. Wenn es taut. Und er wirft es auf das weiße Kleid der Tannen und er wirft es auf das weiße Dach einer Hütte. Darin leuchtet ein Licht und darin sitzt ein Mensch, der starrt. Er kauert. Es sind noch sechzehn Minuten und es gibt keine Menschen hier. Holzstuhl, Bild, bedeutet ihm nichts. Alte Kleidung. Wände kahl. Früher hat er geträumt.
Und der Rabe rast weiter, wird vom kühlen Nachtwind umweht und fliegt und fliegt. Zweifel, Verzweiflung und Resignation kennt er nicht. Weder Einsamkeit noch Isolation kennt er. Er weiß nicht was Selbsthass ist. Und dieses schwelende Gift, das Passivität ist und in turmtiefen Kesseln heransiecht, das man in Fläschchen füllt, zum Trinken. Nur zum Trinken. Der Rabe fliegt gen Mond.
Old Bill ist bleich. Es ist Mitternacht. Er starrt auf den Zettel und mit einer Fingerspitze berührt er schwach den großen, dunklen Klumpen. In dieser Nacht sieht man kaum Sterne.



___________
Ich weiß, dass es nicht wirklich gut ist, deshalb würden mich Tipps sehr freuen.
Dunkelblau ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Old Bills Erwartung




Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.