Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Forum durchsuchen Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Gedichte-Forum > Gefühlte Momente und Emotionen

Gefühlte Momente und Emotionen Gedichte über Stimmungen und was euch innerlich bewegt.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 16.02.2012, 00:05   #1
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Standard Der müde Tag

Der Tag geht fremd die lange Strecke
dahin im Tunnel früher Nacht.
Der Himmel dumpf, die Sternendecke
an unbestimmten Ort gebracht.

Wenn ihn ein Pfeil erquickend träfe,
ein Meteor aus hohem Turm!
Es ist so eng um seine Schläfe
und in der Brust so tot der Sturm.

Umsonst, ihn werden Stunden schinden
noch bis der neue Morgen graut.
Doch schätzt er Fesseln, die so binden,
dass Lähmung sanft die Schmerzen taut.
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.02.2012, 00:09   #2
männlich Schmuddelkind
 
Benutzerbild von Schmuddelkind
 
Dabei seit: 12/2010
Ort: Berlin
Alter: 38
Beiträge: 4.798

Oh, das sind Gefühle, die ich nur zu gut kenne und du hast wunderbare und klangvolle Worte dafür gefunden.

Danke!
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.02.2012, 03:41   #3
männlich Oliver Twist
 
Benutzerbild von Oliver Twist
 
Dabei seit: 12/2011
Ort: luebeck
Alter: 38
Beiträge: 13

Ein schönes Bild vom personifizierten Tag und seinen Bürden.

Mir scheint, der Tag ist da, wo er ist, deplaziert. Er geht "fremd" dahin, zumal in der Nacht, also da, wo er per definitionem eigentlich nicht ist. Die "frühe Nacht" gemahnt auch an die frühe Dunkelheit der kalten Jahreszeit - eine Tendenz zu bedrückender Stimmung. Müde und mit drückender Enge um den Kopf macht der Tag seinen Weg unter einem Himmel, dessen Sterne von einer unbenannten Instanz fortgebracht wurden. Ein "Sturm", der in des Tages "Brust" war bzw. sein könnte, ist in der Gegenwart tot - oder eher: in einem gelähmten Zustand; denn "so tot" wendet die absolute Aussage "tot" zur Metapher für einen augenscheinlich tot-ähnlichen Zustand. Stunden "schinden" den Tag: Stunden als die Zeiteinteilung, die der Organisation des Alltags dient; ein festes Eingespanntsein in dieser Organisiertheit (im täglichen Zwang zur Erwerbsarbeit wohl normalerweise) "schätzt" der Tag: es ist das einzige, das ihn, durch Lähmung, den Schmerzen seiner verstümmelten Existenz enthebt. Es scheint hier das Phänomen einer narkotisierenden Wirkung von Arbeit (Ablenkung durch Beschäftigung) deutlich zu werden.

Eine Flucht aus dem Elend wird nur als Bedingung bzw. sehnender Wunsch ("wenn...") genannt. Kein "dann..." konkretisiert das Sehnen - so dass ein offener Raum für den Leser des Gedichts bleibt, sich der Gestalt eines nicht entfremdeten und eingeengten Tages gedanklich anzunähern.
Das Bild der herbeigesehnten Erlösung allerdings - ein ihn treffender Pfeil - legt auch nahe, dass die dadurch herbeigeführte "Erquickung" dem Tod des Tages gleichkäme. Sein Leid schiene dann für den jeweils aktuellen Tag unausweichlich, und nur durch sein Ende könnte er diesem Leid entrinnen: Die Möglichkeit, unbeschwert zu sein, scheint nur im Tode gegenwärtig.

Die verlockendsten weiteren roten Fäden, die sich mir hier auftun, sind:
Wer oder was ist es, das die Sternendecke an einen unbestimmten Ort gebracht hat?
Wie will der Sturm sich äußern, der von den widrigen Umständen bis hin zum halbtoten Zustand gebändigt ist?

Das Gedicht gefällt mir, weil es ein Leiden, das für zahllose Menschen alltäglich gegenwärtig ist, treffsicher in Bilder übersetzt. Das Leiden ist aus der Ferne als das eines personifizierten Fabelwesen-Tages zu beobachten und mitzufühlen, und doch sehr nahe durch die Bekanntheit der Situation.

Eines der wenigen Gedichte in klassischer Formgebung hier im Forum, die mir inhaltliches Potential zu haben scheinen. Chapeau.

Oliver
Oliver Twist ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.02.2012, 11:20   #4
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Liebes Schmuddelkind,

das war ja gestern eine schnelle Reaktion. Hab Dank.


Lieber Oliver Twist,

deine Interpretation zeigt subtil, worum es sich handelt. Ich habe deinen Text mit viel Interesse gelesen. Danke dir.

Wünsche euch beiden einen schönen Tag! LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.02.2012, 11:40   #5
Thing
R.I.P.
 
Benutzerbild von Thing
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998

Halli Hallo, Gummibaum -


ich schließe mich vollen Herzens Schmuddelkind an.
Schöne Zeilenumbrüche krönen Dein Gedicht, dessen letzte Strophe mich besonders beeindruckt hat.

LG
Thing
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.02.2012, 12:27   #6
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Hallo, Thing,

hab lieben Dank.

"In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles tun..." (F. Schiller: Ästhetische Briefe)

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.02.2012, 12:54   #7
Thing
R.I.P.
 
Benutzerbild von Thing
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998

Du beschämst mich.
Ich strebe immer die Harmonie Beider an.

Schiller war ein sehr strenger Lehrmeister.
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Der müde Tag

Themen-Optionen Thema durchsuchen
Thema durchsuchen:

Erweiterte Suche


Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Müde Thing Liebe, Romantik und Leidenschaft 34 08.07.2015 21:40
Müde Martin Laut Gefühlte Momente und Emotionen 4 20.10.2011 20:06
So müde..... LadyObsession Gefühlte Momente und Emotionen 2 30.04.2011 14:25
Müde Azzy The Original Lebensalltag, Natur und Universum 2 01.12.2010 13:03
Müde Aichi Gefühlte Momente und Emotionen 3 09.07.2009 01:17


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.