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Alt 14.02.2008, 22:12   #1
Branquignole
 
Dabei seit: 02/2008
Beiträge: 16


Standard W. lächelt.

W. lächelt. Das Muttermal auf ihrer rechten Wange, von mir aus links, zieht sich in die Länge. Ihre Augen sind halb geschlossen gegen die Sonne, ihr ganzes Gesicht ist ein bisschen nach links verzogen, sie sieht nicht hübsch aus. Nis, sagt sie, zwei Schritte nach da, und deutet mit dem Finger, bis mein Schatten auf ihr Gesicht fällt.

Schau mal, sie haben rosa Tücher vor den Himmel gehängt, sagt W. später. Sie zieht mich neben sich auf die Holzbank und lässt meine Hand nicht los. Ich sehe zu, wie sich die Dunkelheit in ihren Wimpern verfängt, ihr Muttermal einhüllt; als hätte sie meine Gedanken erraten, fährt sie sich mit den Fingerspitzen über die dunkle Stelle. Mit den gleichen Fingerspitzen streicht sie mir abends immer über den Oberschenkel, ich spüre ihre Nägel auf meiner Haut, dann dreht sie sich um und schläft ein.

Manchmal nennt sie mich Nisse und sagt, Nis sei kein Name, ich möchte ihr dann den Mund zuhalten, bis sie still ist, aber sie lacht, das Muttermal zieht sich in die Länge, die Lachfalten zerfurchen es.

W. wartet im Café auf mich, sie zieht mit dem Löffel Kreise in den Schaum auf ihrem Cappuccino und blickt erst dann auf, wenn ich mich gesetzt habe. Sie sagt Dinge wie, Nis, du hast geraucht, und: Nisse, wo ist dein Mantel, W. fallen die Kleinigkeiten auf, die sich wie natürlich an mich schmiegen.

Ich hab uns Tee gekocht, sage ich, W. schweigt, W. dreht sich eine Haarsträhne um den Finger, dann verzieht sie den Mund, ich mag keinen Tee. Wie jeden Abend hole ich ihre Tasse aus dem Schrank und messe mit dem Blick vier Löffel Cappuccinopulver hinein.

Mich hat jemand gefragt, ob es mit W. jemals einfach gewesen sei. Ich habe nein gesagt und an die Vorhänge gedacht, die nicht mehr als zwei Handbreit geöffnet sein dürfen, ich habe an die Serviette gedacht, die immer an der gleichen Stelle liegen muss. Später habe ich gesagt, W., wir sind beide seltsam. Dass du es mit mir aushältst.

Die Stille danach hat sich angehört, als würde die Zeit durch den Augenblick kriechen und in jedem Winkel versuchen zu nisten. W. hat mir den Rücken zugewandt, ich habe mich an dich gewöhnt, hat sie gesagt, und ich habe gewusst, was sie meint.

W. tritt vor mir in die Wohnung, sie achtet darauf, dass ich den Schlüssel an den richtigen Haken hänge. Wenn ich die Schuhe ausgezogen habe, stellt sie sie nebeneinander und rückt die Fußmatte zurecht. Sollen wir fernsehen, frage ich, doch sie schüttelt den Kopf und zieht ein Buch aus einer Schublade, das sie zum dritten Mal liest, vielleicht zum vierten Mal. Ich puste ihr einen Fussel aus der Halsbeuge, der sich von ihrem Schal gelöst hat, ihr linkes Lid zuckt einmal. Ich setze mich ihr gegenüber auf den Boden und sehe ihren Lippen dabei zu, wie sie lautlos die Wörter formen beim Lesen.

Jemand hat mich gefragt, warum ich denn bei W. bleibe. Ich habe die Luft stoßweise durch die Nase ausgeatmet und ich habe mich erinnert an den Abend, an dem sie gesagt hat, ich habe mich an dich gewöhnt. Sie hat sich an mich gewöhnt, ich habe es langsam gesagt, und versucht es so klingen zu lassen, wie W. das macht, aber es fiel mir trotzdem ungelenk von den Lippen.

Wir liegen nebeneinander im Bett, W. schläft schon. Ich hebe die Hand und lege den Zeigefinger an ihr Muttermal, das schon immer da ist und immer da sein wird. Vielleicht bleibe ich bei W., denke ich, weil ich ihr Muttermal werden will, weil sie mich auf einen Platz gerückt hat, wie die Fußmatte, damit ich so stehen bleibe.

© Franziska Kurtz
Branquignole ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.02.2008, 22:32   #2
mabel
 
Dabei seit: 04/2006
Beiträge: 93


Standard RE: W. lächelt.

Hi,
das ist die zärtlichste Liebesgeschichte, die ich seit langer Zeit gelesen habe, kompliziert und doch einfach. Wie oft werde ich den Text wohl noch lesen...
Was schreibst Du noch so?

Mabel
mabel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.02.2008, 23:05   #3
Terror Incognita
 
Dabei seit: 12/2007
Beiträge: 392


Endlich mal keine utopischen Stereotypen in einer perfekten Beziehung. Und auch nicht das Gegenteil. Gefällt mir sehr und mehr möchte ich da auch nicht zu sagen.

TI
Terror Incognita ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.02.2008, 23:19   #4
lyrwir
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 449


Hallo Branquignole, willkommen hier.
Was für eine wunderhübsch leichte, rätselhafte Geschichte. Alles wirkt am rechten Platz, selbstverständlich, leicht und doch scheint da etwas tieferes, ein Frieden in einer Ordnung gegen die Aussenwelt.
Schöne Homepage, deine.
Danke für diese Erzählung,
LW
lyrwir ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.02.2008, 23:25   #5
Elbin
 
Dabei seit: 02/2008
Beiträge: 10


ich kann mich da nur anschliessen.

verzaubert. wunderschön.
Elbin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.02.2008, 02:51   #6
Joana
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 424


-
Joana ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.02.2008, 11:13   #7
Paloma
 
Dabei seit: 12/2007
Beiträge: 37


Finde ich faszinierend und schön. Weiter so.
Paloma ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.02.2008, 14:27   #8
tagedieb
 
Dabei seit: 07/2005
Beiträge: 520


Ja, auch ich bin beeindruckt. (Gelungener Einstand.)
tagedieb ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.02.2008, 20:03   #9
Branquignole
 
Dabei seit: 02/2008
Beiträge: 16


Hallo ihr alle!

Wow, so viel Feedback. Danke.

@ mabel: Freut mich, dass der Text dich zum noch mal Lesen einlädt. Wenn du wissen möchtest, was ich noch so schreibe, kannst du ja mal auf meine Homepage schauen, die könnte zwar mal wieder ein Update vertragen, gibt aber einen groben Überblick über das, was ich mache.


@ Terror Incognita: Endlich mal keine utopischen Stereotypen in einer perfekten Beziehung. Und auch nicht das Gegenteil. - Das möchte ich gern einfach mal so stehen lassen. Vielen Dank.


@ lyrwir: Danke fürs Willkommen.
Schön, dass dir die KG gefällt. Eine Ordnung gegen die Außenwelt. - Das klingt gut, das klingt richtig. Wenn alles am rechten Platz scheint, ist das umso besser, das unterstützt die Intention.
Danke für das Lob bezüglich der Homepage. Sollte ich mal wieder aktualisieren, jetzt wo W. da ist.


@ Mademoiselle Karma: Verzaubert bist du, ich auch, danke.


@ Joana: Ich weiß es und es freut mich immer noch sehr.
"Adler und Engel" kenne ich nicht, werde ich mich mal nach umschauen.

erst hat mich "von mir aus links" gestört. andererseits passt die umständliche beschreibung irgendwie. hm. "die von hinter mir scheint" klingt aber etwas ungeschickt für meinen geschmack. ist dieser teilsatz überhaupt nötig? "gegen die sonne" und die tatsache, dass er ihr gesicht sieht, macht klar, dass die sonne hinter dem protagonisten steht.

Ist der Teilsatz nötig? Tja, darüber habe ich auch schon nachgedacht. Ich war mir anfangs nicht sicher, ob ich ihn stehen lassen soll. Einerseits mag ich diese Sätze, die ein wenig ungeschickt klingen, aber es soll ja auch passen, und an der Stelle tut es das vielleicht weniger.

Das mit dem Cappuccino ist mir peinlich. Das hab ich bis jetzt noch nie falsch geschrieben. *g*

das komma vor "nis" kommt mir seltsam vor, weiß aber nicht, wie lösen, da noch ein doppelpunkt nicht schön wäre.

Ich vermeide Doppelpunkte, wo es geht. Ich habe tatsächlich in dieser Geschichte den ersten Doppelpunkt reingetan, den ich je in einer KG gesetzt habe. Ich mag dieses ganze Drumherum um wörtliche Rede nicht, deshalb nehme ich Kommata zum Abtrennen. Ich denk noch mal drüber nach, ob das an dieser Stelle besser zu lösen ist.

"Wie natürlich" fand ich inzwischen auch ein bisschen komisch, dachte kurz nach dem Einstellen: "Nee, du, da sagt man doch 'wie selbstverständlich', oder so.", aber das schien mir dann auch nicht so recht zu Nis zu passen.

Freut mich, dass du hier noch vorbeigeschaut und mir die kleinen Schwachpunkte gezeigt hast.

Hast du Funkes Tinten-Trilogie gelesen? Wenn ja, dan fällt dir wegen des Muttermals sicherlich eine Parallele auf. *g*
Die Idee mit dem Muttermal hat mich auch fasziniert, sobald ich sie hatte, schön, dass das Anklang findet.


@ Paloma, @ tagedieb: Tut mir Leid, dass ich euch hier einfach so zusammenfasse, aber viel mehr als ganz lieb Danke kann ich zu eurem Lob nicht sagen.


Liebe Grüße an euch alle,
Branq
Branquignole ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.02.2008, 20:09   #10
tagedieb
 
Dabei seit: 07/2005
Beiträge: 520


Wir wollen mehr! Hier! Jetzt!
tagedieb ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.02.2008, 17:36   #11
Neruda
 
Dabei seit: 04/2008
Beiträge: 257


Hey branqui,

auch ich bin wirklich berührt von deiner Geschichte. Ich habe selten erlebt, dass jemand so einfühlsam und wie selbstverständlich eine im Kern für Außenstehende so komplizierte Beziehung in Worte fassen kann.
Ich weiß nicht ob das deine Intention war, aber ich fühle mich bei W. sehr stark an eine Autistin erinnert. Auch autistische Menschen können ja in der Lage sein Beziehungen zu anderen Personen aufzubauen, nur auf einer sehr seltsamen Ebene, die für Außenstehende eben kaum nachvollziehbar ist. Vieles in deiner Geschichte würde auf einen autistischen Menschen zutreffen oder hinweisen, finde ich. Vor allem das "ich habe mich an dich gewöhnt" hat mich irgendwie daran erinnert. Weil Autisten häufig Probleme haben Zuneigung zu entwickeln, ist es schon ein großer Schritt, wenn sie Personen aktzeptieren, also sich an sie gewöhnen.
Naja, auf jeden Fall habe ich das da mal reininterpretiert und egal ob du dir auch sowas gedacht hast oder nicht, ist das eine wirklich wundervoll geschriebene Geschichte.

Lg, Kim
Neruda ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.02.2008, 17:43   #12
santa_fu
 
Dabei seit: 01/2008
Beiträge: 84


Eine interessante Sichtweise, Neruda. Da wäre ich nicht drauf gekommen.

Merkwürdig und außergewöhnlich finde ich auch den Namen "Nis" - das gefällt mir, das ist neu, nicht so 08/15. Wie bist du darauf gekommen?

Insgesamt stehe ich diesem Text auf lobend gegenüber, was du aber schon weisst, Franzi .

Grüße
santa
santa_fu ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.02.2008, 20:49   #13
vulcanus_rubin
 
Dabei seit: 02/2008
Beiträge: 56


hallo branq,

auch mich überzeugt deine geschichte.

den namen nis kannte ich vorher nicht, habe mal gegooelt und rausgefunden, dass es eine kurzform von dionysos ist. ich weiß nicht, ob die namensherkunft für dich eine rolle gespielt hat bei der auswahl, aber ich finde, dass es der geschichte eine umso interessantere note gibt.

Ich setze mich ihr gegenüber auf den Boden und sehe ihren Lippen dabei zu, wie sie lautlos die Wörter formen beim Lesen.

die bilder des satzes sind sehr gelungen, aber die konstruktion desselben stört mich etwas. "beim lesen" am ende wirkt so drangehängt.

das tut der wirkung aber keinen abbruch. werde ich sicher noch öfter lesen.

liebe grüße,

drea

ps: glückwunsch zur nominierung.
vulcanus_rubin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.02.2008, 21:09   #14
mabel
 
Dabei seit: 04/2006
Beiträge: 93


Hi nochmal,
@ Neruda
An Autismus dachte ich auch anfangs, entschied mich dann aber doch dafür, zu denken, die Protagonistin sei von Zwängen geprägt und im wahrsten Sinn des Wortes ver-rückt, weil sie ja alles gerade rückt, inklusive ihren Partner. Auch ihm weist sie einen unabänderlichen Platz in ihrem Leben zu. Darin liegt für mich auch die Tragik dieser Geschichte, denn was für sie heile Welt ist, wenn sie alles geradegerückt hat, ist im Grunde Stagnation und die offene Frage am Ende ist, ob seine Liebe stark genug ist, dass er den Stillstand aushalten kann und will. Ihm ist jetzt schon klar, dass es keine Weiterentwicklung geben wird.

Mabel
mabel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.02.2008, 22:13   #15
Branquignole
 
Dabei seit: 02/2008
Beiträge: 16


Hallo Neruda!

"Naja, auf jeden Fall habe ich das da mal reininterpretiert ..."

Und völlig richtig. Es freut mich sogar, dass du zweifelst; die Lesemöglichkeit Autismus sollte nicht zu offensichtlich sein, ich wollte die nicht aufzwingen.
W. ist, würde ich sagen, nur bis zu einem gewissen Grad autistisch, oder hat das so weit im Griff, weil sie ja immerhin fähig zur Selbstständigkeit scheint. Die zwischenmenschliche Beziehung wacklig/schwierig darzustellen, war mir aber wichtig.

Danke für deinen Kommentar und die Interpretation.


Hallo J Punkt.

Nun. Nis? Es ist wenig spektakulär. Ich saß in der Bibliothek, starrte ins Leere und dachte plötzlich: "Nis! Das ist DER Name!". So ähnlich wie bei Cantz war das. Mir fiel dann noch ein, dass es Nisse als Namen gibt und ich hab drüber nachgedacht, ihn so zu nennen, aber es war dann eben schon Nis.

Dank dir noch mal für dein Lob.


Hallo, du rubin!

Dionysos war mir nicht bewusst. Ist aber interessant, danke für die Info.

Ich versteh, was dich am Satzbau stört, aber andererseits ist das eben dieses ein wenig Umgangssprachliche. Wenn ich es woanders einsetze, klingt für mich persönlich der Satz nicht mehr nach Nis. Nicht mehr so alltäglich. "das tut der wirkung aber keinen abbruch." - Dann bin ich beruhigt.

Danke für Glückwunsch und Kommentar.


Hallo nochmal, mabel,

wie weiter oben in der Antwort an Neruda gesagt, ich wollte die Lesemöglichkeiten offen lassen. Es gefällt mir, was du herausliest, besonders das Zurechtrücken des Partners. Stimmt so alles, ist möglich. Und danke für deine Sichtweise.


Liebe Grüße an alle,
Branq
Branquignole ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.03.2008, 20:38   #16
Garfield
 
Dabei seit: 01/2008
Beiträge: 20


Ich kann mich nur meinen Vorpostern anschließen und sagen, dass ich die Geschichte sehr schön fand!
Mir hat gefallen, dass du nicht direkt darauf hinweist, dass es um Autismus geht, sondern es so sanft erzählst.
Garfield ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 07.03.2008, 11:00   #17
Branquignole
 
Dabei seit: 02/2008
Beiträge: 16


Oh, vielen Dank.

"Mir hat gefallen, dass du nicht direkt darauf hinweist, dass es um Autismus geht, sondern es so sanft erzählst."

Es ist ja auch so, dass Autisten, die das Asperger Syndrom haben, manchmal gar nicht so auffällig autistisch sind - aber ihre Ticks haben sie eben trotzdem. W. scheint von daher vielleicht ein bisschen eigen (sind aber alle meiner Figuren *g*), und ob man dann bis dahin weiterdenken will, bleibt einem selbst überlassen.

Freut mich, dass du vorbeigeschaut hast.

Grüße, Branq
Branquignole ist offline   Mit Zitat antworten
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