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Alt 03.05.2024, 20:57   #1
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
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Standard Familienbande

Wir waren eine Familie. Damals, in den Nachkriegsjahren, als überall zwischen den Häusern, die dem Bombenkrieg standgehalten hatten, Kellergewölbe vor sich hin moderten oder völlig freie Flächen lagen, die man von den Trümmern befreit hatte. Als in den Straßen außerhalb der Innenstadt nur selten ein Auto fuhr, so dass wir Gören und Lausebengel reichlich Raum zum Spielen und Herumtollen hatten. Als sich kein Nachbar darüber aufregte, dass wir, wenn der Eisschneider einen bestellten Eisblock im Hof abgeliefert hatte, Stücke aus den Ecken geschlagen hatten, die wir genussvoll lutschten, ehe der neue Eigentümer ihn holte, um in der Speisekammer seine Nahrungsmittel damit zu kühlen.

Die Familie wohnte nahe beieinander. Zu Omi und Opa, die im Nordend ihre Bleibe hatten – Altbau, oberster Stock -, waren es zu Fuß zehn Minuten. Zu Oma, Innenstadt, fünfzehn Minuten. Ein Onkel, Bruder meiner Mutter, lebte in derselben Straße wie wir, nur einen Steinwurf entfernt. Und der Bruder meines Vaters, mein Pate, und seine Frau, meine Patin, um die Ecke, gleich hinter der Kirche und für mich in drei Minuten erreichbar. Quasi gegenüber der Schule, in die ich zehn Jahre lang jeden Tag ging, bis zur Mittleren Reife.

Die Welt war in Ordnung. Jedenfalls für mich, denn eine andere kannte ich nicht. Vater und Mutter gingen beide arbeiten, Oma ging arbeiten, meine Paten gingen arbeiten; aber dennoch gab es immer eine Wohnungstür, an der ich klingeln konnte. Die Frau meines Onkels – Mamas Bruder, der in der gleichen Straße wohnte wie wir -, arbeitete nicht, und mit ihr konnte ich mich ausgiebig über Romane und Filme unterhalten. Oma war am frühen Nachmittag zu Hause, weil sie schon um fünf Uhr morgens mit ihrer Arbeit begann. Sie putzte im Depot Busse und Straßenbahnen. Ihre Schicht endete bei den damaligen Arbeitszeiten gegen zwei Uhr, aber meistens blieb sie bis drei, was ihr nach einigen Jahren die Beförderung zur Truppenführerin und mehr Lohn einbrachte. Omi arbeitete nicht. Wenn sie nicht zu Hause war, fand ich im Hof und auf der Straße immer Spielkameraden, die mich akzeptierten. Ich war älter als die meisten, also vor ihnen dagewesen, und deshalb gehörte ich dazu.

Das klingt idyllischer als es war. Innerhalb der Familie flammten Fehden auf, die beigelegt, aber immer wieder neu entfacht wurden. Nach der Demütigung eines verlorenen Krieges, nach Flucht und Vertreibung, was den mutterseitigen Teil meiner Familie betrifft, wollte jeder sagen können: "Ich bin wieder wer!" Mit Missgunst, Konkurrenzdenken und Wettstreit schlug man sich gegenseitig die Köpfe ein, vertrug sich wieder, grollte im Hintergrund aber weiter. Einerseits waren wir eine Familie, die zusammenhalten wollte, andererseits schaute jeder, wo die dicksten Brötchen gebacken wurden und wie man den Geschwistern und sonstigen Verwandten zeigen konnte, wo man die Trauben pflückt.

Wirklich weit brachte es damit keiner von ihnen. Mit Ausnahme einer Schwester meiner Mutter, die mit ihrem Geliebten, ihrem späteren Ehemann, in die Vereinigten Staaten von Amerika auswanderte und es dort zu Reichtum brachte. Aber das ist eine eigene Geschichte.

Die Familie brach auseinander, als Omi und Opa die Stadt verließen. Omi hatte sich in den Kopf gesetzt, in ruhigere und preisgünstigere Gefilde zu ziehen, und der Ort ihrer Wahl lag in der Wetterau. Das war kein Problem für mich. Flügge geworden und imstande, selber Auto zu fahren, habe ich Omi und Opa oft besucht.

Aber die Flucht aus der Stadt war wie eine Epidemie. Fast gleichzeitig mit Omi und Opa hauten meine Paten ab in die Peripherie. Noch städtisch, aber alles ein bisschen kleiner und ruhiger. Dann die Geschwister meiner Mutter. Sie alle verließen die Stadt. Nur Oma blieb, aber sie starb mit siebzig.

Mein Vater ging mit sechsundsiebzig von uns, kurz vor seinem nächsten Geburtstag, und meine Mutter ist wegen mentaler Defizite und Immobilität in einem Heim.

Meine Familie hat sich in Luft aufgelöst. Ich verwöhntes Gör dachte, sie müsse immer da sein. Nie hatte ich daran gedacht, es könnte meine Aufgabe sein, eine Familie nachzuziehen. Natürlich bin ich für meine Mutter da, besuche sie regelmäßig und bringe mit, was sie braucht. Aber das ist Arbeit an dem, was schon da war, nicht an etwas, das ich hätte schaffen können. Selber Kinder in die Welt zu setzen, irgendwann Oma zu werden war nie mein Ding gewesen. Kinder sind für mich nervig.

Was ist die Konsequenz? Wer wird einmal für mich da sein? Wenn dieses "einmal" eintritt? Was nichts mit "einmalig" zu tun hat – das darf man nicht verwechseln. Dieses "einmal" bedeutet: Wenn es darauf ankommt.

Wer ist für mich da, wenn es darauf ankommt?

Naive Frage. Einfache Antwort.
__________________

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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 07.05.2024, 09:20   #2
männlich Eisenvorhang
 
Benutzerbild von Eisenvorhang
 
Dabei seit: 04/2017
Ort: Erzgebirge
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Beiträge: 2.706


Der Schlussteil birgt eine gute Frage und die Antwort darauf ist... Ist es nicht die Familie, dann irgendwer anderes.
Im schlimmsten Fall wird man Katzen- oder Hundefutter.

Familienthemen sind so Komplex wie das alte römische Reich.
Man kann sie sich halt nicht aussuchen.
Eisenvorhang ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 07.05.2024, 14:44   #3
männlich dunkler Traum
 
Benutzerbild von dunkler Traum
 
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Ort: mit beiden Beinen in den Wolken
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Beiträge: 1.632


Standard Hallo Ilka

... davor hat meine Frau mehr Angst als ich.
Irgendwie wird es schon gehen, ob ich nun unten an der Kellertreppe liegen bleibe oder das Haus abbrennt, erscheint mir irgendwie natürlich. Ob das Licht ein paar Wochen eher oder später aus geht, spielt dann keine Rolle mehr.

Da zumeist auch die Kinder voll beschäftigt sind, sollten sie mich nach einer Woche wohl gefunden haben.

beaux rêves
dunkler Traum ist offline   Mit Zitat antworten
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