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Alt 22.12.2019, 15:29   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Gott denkt, Mensch lenkt

Kathi stand seit einer Stunde am Fenster und sah den Schneeflocken zu, mit denen der Nordwind Schabernack trieb, ehe er sie zu Boden sinken ließ. Die weiße Decke war seit Mittag so dick geworden, dass von den niederen Sträuchern nur noch die Spitzen hervorlugten. Eine feierliche Helligkeit lag über der Landschaft, selbst dann, wenn die Wolken das volle Gesicht des Mondes verdeckten.

Das Klingeln riss Kathi aus ihrer Versunkenheit. Sie ging zur Haustür. „Wer ist da?“

„Ein alter Mann, dem kalt ist. Bitte lass mich rein, dass ich mich wärmen kann.“

„Ich darf Fremden nicht aufmachen, die Eltern haben’s verboten.“

„Hab Erbarmen, braves Kind. Hörst du nicht, wie meine Knochen vor Eiseskälte klappern?“

Kathi legte ein Ohr an die Tür, und wirklich hörte sie ein deutliches, unrhythmisches Klappern wie vom launischen Tanz eines metallenen Windspiels. Vorsichtig öffnete sie die Tür und spähte durch den Spalt. Draußen stand eine hohe Gestalt in dunklem Umhang, dessen Kapuze tief über das zu Füßen gebeugte Gesicht gezogen war. Auf seinen Schultern glitzerten Eiskristalle.

Kathi biss sich auf die Lippen, aber ihr Herz war bereits erweicht. „Komm herein.“

Der Fremde trat durch die weit geöffnete Tür. „Gott vergelt’s, braves Kind.“

Eiligst schob Kathi einen Sessel an die Heizung und hieß den Fremden, sich darin niederzulassen. Sie holte ein Glas Wein und den Teller mit den Weihnachtsplätzchen, die ihre Mutter gebacken hatte. Doch der Fremde schüttelte den Kopf. „Das würde mir schlecht bekommen, braves Kind. Wie heißt du denn?“

„Kathi, eigentlich Katharina. Und du?“

„Ich habe viele Namen. Wie wäre es mit Hein?“

Kathi klatschte in die Hände und drehte sich im Kreis. „Hein, Hein, Hein, der Name gefällt mir.“ Sie hielt inne: „Aber sag, warum hast du nicht bei den Nachbarn gegenüber geklingelt? Dort sind alle zu Hause.“

„Sie ließen mich nicht ein. Ich habe dort einen Auftrag zu erfüllen, aber sie öffneten nicht.“

„Welchen Auftrag?“

„Gottes Auftrag.“

Kathi war verwirrt. „Wie kann man dir verwehren, Gottes Auftrag zu erfüllen, wenn Gott allmächtig ist? Das verstehe ich nicht.“

„Du musst noch viel lernen, kleine Kathi. Gott denkt, aber der Mensch lenkt.“

„Dann hat Gott sich die Welt nur ausgedacht?“

Hein antwortete nicht, sondern ließ sein Haupt bis zur Brust sinken. So verharrten Kathi und er minutenlang in Stille, ehe er wieder sprach. „Ich muss in das Haus gegenüber hinein, wenn ich meinen Auftrag erfüllen soll.“

„In das Haus der Dankerts? Ist dein Auftrag wichtig?“

„Sehr wichtig sogar. Ich bringe die Erlösung.“

„Meine Eltern haben einen Notschlüssel für das Haus.“ Kathi eilte, das Schlüsselbund zu holen. Eine fleischlose Hand kam unter dem Gewand hervor und griff danach. Kathi wich erschrocken zurück. „Jetzt weiß ich, wer du bist!“

„Hab keine Angst, mein Kind, vor dir liegt noch viel Zeit. Aber dort drüben leidet ein Mensch, der meiner dringend bedarf und schon zu lange auf mich wartet.“

Hein wandte sich der Haustür zu. „Wo sind deine Eltern, Kathi?“

„Auf dem Weihnachtsmarkt. Sie schenken dort Glühwein aus.“

Hein nickte zufrieden. „Du bekommst das Schlüsselbund zurück, ehe der Weihnachtsmarkt schließt. Hab Dank, mein Kind.“

Als Kathi wieder ans Fenster trat, waren die Lichter im Haus gegenüber erloschen. Das Schneien hatte nachgelassen, und die Reflektion der weißen Decke hatte plötzlich etwas Gespenstisches. Wieder ertönte das Klingeln. Kathi ging zur Haustür, und als auf ihr Rufen niemand antwortete, öffnete sie. Auf der Fußmatte lag das Schlüsselbund.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.12.2019, 15:32   #2
männlich Andri
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Dabei seit: 12/2019
Ort: Die Erde
Beiträge: 425


Hallo Ilka-Maria,
eine schöne Geschichte, ich liebe eh Geschichten mit dem personalisierten Tod. Aber erstaunlich, dass sich Freund Hein vom Willen der Menschen aufhalten lässt.
Aber, dass das Mädchen schlussendlich für den Tod der anderen Person verantwortlich ist, erscheint doch als große Bürde, sei der Tod auch eine Erlösung. Immer wird sie wissen, dass sie einem anderen den Tod gebracht hat.
So betrachtet will mir die Moral, der Sinn der Geschichte nicht recht eingehen.
Liebe Grüße
Andri
Andri ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.12.2019, 16:02   #3
weiblich Ilka-Maria
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Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.076


Danke fürs Lesen.

Warum sollte eine Geschichte unbedingt eine Moral haben? Warum sollte sich ein Kind der Tragweite seiner Entscheidung bewusst sein, wenn ein Fremder als Helfer auftritt, ohne seinen Auftrag klar auszudrücken?

Schon mal den Film "The Box" gesehen?https://www.youtube.com/watch?v=nSOjMkoBYYA
Wenn selbst Erwachsene mit Moral und Gewissen zu kämpfen haben, wie kann man schon von einem unerfahrenen Kind erwarten, eine moralisch richtige Entscheidung zu treffen?
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.12.2019, 16:29   #4
männlich Eisenvorhang
 
Benutzerbild von Eisenvorhang
 
Dabei seit: 04/2017
Ort: Erzgebirge
Alter: 38
Beiträge: 2.675


Gute Geschichte!

Ich sehe das Kind nicht als Moralverbrecher, sondern als Teil der Erlösung.
Der Tod wird nicht als Bedrohung dargestellt, sondern als jemand der Hilfe sucht.
Finde ich hervorragend, weil dadurch die Dinge, vor die wir uns fürchten, nahbar werden.
Eisenvorhang ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.12.2019, 17:18   #5
männlich Andri
Gast
 
Dabei seit: 12/2019
Ort: Die Erde
Beiträge: 425


Hallo beide,
das Schöne an so einer Geschichte ist doch, dass man sich darauf einlassen kann. Nein, eine Moral braucht eine Geschichte nicht, aber sie ist ja ein wenig so angelegt, einem Märchen gleich, dass sich die Frage nach der "Moral" aufdrängt.
Gewiss sehe ich das Kind auch nicht als Moralverbrecher, allein die Situation gäbe es gar nicht her, da es in gutem Gewissen handelte. Aber dennoch...ich stelle mir das Kind vor, wie es am nächsten Tag erfährt, dass .... gestorben ist. Sie wird das tief beunruhigen, mich würde es beunruhigen und erschüttern. Warum wird das Mädchen zum Todesengel? Warum sollte ich an Erlösung glauben?
Ich bin da so hartnäckig weil für mich von der Geschichte etwas Bedrohliches ausgeht und ich sie nicht deuten kann, wie auch den Titel nicht. Diese seltsame Umkehrung...
Liebe Ilka, versteh es nicht als negative Kritik, ich finde die Geschichte sehr anregend, aber anders als Eisenvorhang halt auch eher bedrohlich.
LG
Andri
Andri ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.12.2019, 17:21   #6
weiblich Ilka-Maria
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Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.076


Zitat:
Zitat von Andri Beitrag anzeigen
Liebe Ilka, versteh es nicht als negative Kritik, ...
Keineswegs. Ich nehme jede Kritik ernst. Jeder Leser hat das Recht, einen Text nach seinen Gesichtspunkten zu werten und Fragen zu stellen.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
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