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Alt 05.08.2013, 14:17   #1
Hans Werner
 
Dabei seit: 03/2008
Beiträge: 84


Standard Der Landstreicher

Der Landstreicher

Erzählung von
Hans Werner



Wir befinden uns in dem Städtischen Kurpark einer süddeutschen Kleinstadt. Die Sonne sendet gerade ihre ersten Strahlen durch das Geäst der Kiefern, Tannen und Zypressen, die in botanischer Vielfalt die verschlungenen Wege umstehen. Einige muntere Vögel hüpfen über die Zweige und zwitschern fröhlich ihr Morgenlied in die Luft, auch Eichhörnchen huschen die Stämme empor, verschwinden ruckartig dahinter und lugen dann wieder mit ihren Köpfchen hervor, als wollten sie die Menschen verschmitzt verspotten. Von unten ertönt das durchdringende Kreischen der beiden Schwäne, die auf dem länglichen Teich ihre Kreise drehen.
In mehreren Sträßchen, Spazierwegen, schmalen Pfaden windet sich der Park den Berg hinauf, welcher hier, wie aus der Mitte der Stadt emporwachsend, sehr steil hinauf ragt und vom Wanderer einiges an Atem abverlangt. Im oberen Bereich, künstlich angelegt, erstreckt sich vor einer Konzertmuschel ein weiter ebener Platz, von wo zuweilen, wenn das Kurprogramm es vorsieht, die Stadtkapelle ihre Märsche bläst. Am vorderen Ende des Platzes erhebt sich stolz und großartig das Parkhotel, im reichverzierten, überladenen Baustil des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts errichtet, das heutzutage für wohlhabende Bürger das geeignete Ambiente liefert, um sich von der Schicht der Minderbemittelten effektvoll abzuheben.

So etwa muss man sich den Schauplatz vorstellen, an dem sich die Geschehnisse zutrugen, von denen im Folgenden berichtet werden soll.
Hinter einer Parkbank, ein wenig versteckt durch hohe und dichte Rhododendron-Büsche, lagen zwei seltsame Gestalten, in abgetragener, mehrfach geflickter Kleidung, die in allen Farben schillerte. Ihre unrasierten Köpfe, von dunklem Haar dicht umwallt, ruhten auf einem tornisterartigen Rucksack, an dem Kochgeschirr baumelte. Sie lagen in tiefem Schlummer, schnarchten vernehmlich. Doch plötzlich, wie auf ein verabredetes Zeichen, öffneten sie beide, mit verschämtem Blinzeln, ihre Augen, ganz vorsichtig, als ob sie das Sonnenlicht scheuen müssten. Ein Igel raschelte dicht hinter ihren Ohren vorbei, oder vielleicht war es doch eine Ratte, die sich, wie schon oft, an ihre Essensreste herangeschlichen hatte, welche für die feinen Spürnasen dieser Nager überdeutlich aus den Plastiktüten rochen, welche sich neben den Stadtstreicheln mehrfach übereinander türmten.

„Hallo, Kobs“, sagte einer der beiden Gesellen mit leichtem Gähnen. „Auch schon wach?“
„Lass mich in Ruh und penn weiter, ich will gar nicht aufwachen“, erwiderte der andere.
„Du hast es gerade nötig, hast gestern Nacht die ganze Flasche Rotwein ausgesoffen.“
„Fritz, wenn Du wüsstest… ich brauch den Saft zur Betäubung und Ablenkung.“
„Wer braucht das nicht. Leute wie wir sind immer ein wenig zu viel auf der Welt“, sagte Fritz und plötzlich glänzten seine Augen wässerig.
„Ach, weißt du, manchmal möchte man sich einfach umbringen. Doch meiner Mutter bin ich’s schuldig, dass ich mein karges Leben weiter friste.“
„Aber schau doch“, erwiderte Kobs, „ die Sonne strahlt doch auch für uns beide. Sie wärmt auch den schuldigen Scheitel“.
„Mensch, Kobs, du redest wieder einmal geschwollen.“
„Weißt Du, Armut macht philosophisch. Und zu tun haben wir ja nichts, uns kann man zu nichts brauchen.“
„Ja, dieses Leben bringt uns immer wieder auf Gedanken über Gott und die Welt. Früher hatten wir dazu keine Zeit. Vor allem du, mein lieber Kobs, bist mein philosophischer Freund und so etwas wie eine geistige Hausapotheke.“
Und plötzlich gaben sich beide einen tüchtigen Boxhieb gegen die Schultern und lachten schallend und dröhnend, dass die Eichhörnchen erschrocken die Flucht ergriffen.

Dann reckten sie sich, dehnten sich und begaben sich danach wieder in ihre Schlafposition. Aber an neuen Schlummer war nicht zu denken.
„Mein Magen knurrt“, sagte Fritz, „Wann kommt Ulle mit ihrem Fresspaket?“
„Immer um diese Zeit, nur hat heute vielleicht die Tafel noch nicht offen.“
Es war an dem, dass die beiden Männer von einer gutmütigen alten Frau, die aus Mülleimern Leergut sammelte und dafür billige Esswaren kaufte, die wegen abgelaufenen Verfallsdatums von einer Tafel billig veräußert wurde, regelmäßig mit dem Nötigsten versorgt wurden. Ulle, Fritz und Kobs, hatten sich ins Herz geschlossen. Sie bildeten eine verschworene Gemeinschaft gegen den Rest der Welt. Denn auch Ulle war allein und schätzte die tiefsinnigen Gedanken der beiden alten Männer, die sie immer wieder aufmuntern konnten, wenn sie selbst, was oft genug vorkam, am Boden der Verzweiflung war.

„Da kommt Ulle!“
Eine alte Frau tappte das Parksträßchen herauf, eine gefüllte Plastiktüte in der Hand, aus der ein Baguette herausragte.
„Unser guter Engel! Sei gegrüßt, du mildtätige Schönheit!“, flötete Kobs mit gewinnendem Lächeln.
Ulle breitete ihre Schätze aus: Weißbrot, Butter, Erdbeer-Marmelade, Schinkenwurst und Camembert-Käse.
„Komm, lass dich drücken, du guter Mensch!“, Fritz umspannte mit seinen runzligen Händen die breiten Hüften Ulles, zog sie zu sich heran und bedeckte ihr Altweibergesicht mit schmatzenden Küssen.
„Ihr lieben, alten Knacker“, sagte sie lächelnd, wobei ihre gelben Zahnstummel hervor lugten, „ihr müsst mir dafür versprechen, ehrlich zu bleiben und nicht zu klauen. Ich denk, ihr habt mich schon verstanden.“
Die beiden nickten ein wenig schuldbewusst. Die Ermahnung war wohl angebracht, denn nur wenige Tage zuvor waren sie mit knapper Not einer Anzeige und Festnahme entgangen. Sie hatten nämlich in einem Supermarkt Rauchwaren und Schokolade in ihren Mantelsack verschwinden lassen und an der Kasse bloß ein Päckchen Kaugummi bezahlen wollen. Zufällig war die alte Frau auch anwesend und hatte die ganze Sache mitbekommen. Sie war hinter den beiden Landstreichern her gehuscht, hatte sie am Rockzipfel gepackt und dazu bewogen, noch vor der Kasse die gestohlenen Waren ins Regal zurückzulegen. Und so war Ulle für die beiden Männer wahrlich ein Schutzengel, der sie sozusagen moralisch am Leben erhielt. Denn oft genug schienen die Männer unter der Bürde ihres Lebens fast zu zerbrechen.
Und in zahlreichen Gesprächen war es Ulle gelungen, sich das Vertrauen der Männer zu erwerben, ja vor allem Kobs hatte ein offensichtliches Bedürfnis, Ulle ins Vertrauen zu ziehen, und ihr vieles aus seiner Vergangenheit mitzuteilen. So kam zum Beispiel zur Sprache, dass er früher in der Städtischen Volksbibliothek arbeitete und sich dort während seiner Dienststunden durch wahre Berge von Literatur durchlas. Vor allem die Klassiker hatten es ihm angetan, er konnte sich mit der gehobenen Sprache jener Dichter identifizieren, sich daran erbauen und sich sozusagen sittlich aufrichten.

Aber bei sich zuhause hatte das Unglück mit harter Faust zugeschlagen. Seine Ehe war bald zerrüttet, denn seine etwas leichtlebige Frau hatte immer wieder Verhältnisse mit anderen Liebhabern. Und der einzige Sohn, den er abgöttisch liebte und auf den er alle Hoffnungen gesetzt hatte, kam bei einem tragischen Motorradunfall ums Leben. Schließlich konnte er, mit seinem kargen Gehalt die Mietkosten der teuren Wohnung nicht mehr bezahlen, und Sparsamkeit war ja nun die Sache seiner Frau auch nicht. Wegen dieser wiederholten finanziellen Engpässen kam es zu dauerndem Streit in seiner Ehe, bis schließlich die Frau kurzerhand auszog und ihn allein sitzen ließ. Der unglückliche Kobs wurde durch diese Ereignisse immer nervöser, unruhiger, fahriger und hatte sich nicht mehr in der Gewalt. Kunden gegenüber konnte er oft grundlos aufbrausen und erregte durch dieses befremdende Verhalten immer wieder Kopfschütteln und Verstimmung. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis man ihn schließlich entließ.
Da er noch von seiner Bundeswehrzeit einen Führerschein gehobener Klasse besaß, ließ er sich bei einem örtlichen Reiseunternehmen als Busfahrer anstellen und kutschierte regelmäßig schwatzende Passagiere durch aller Herren Länder Europas, vor allem aber nach Italien, dem begehrten Reiseziel des bürgerlichen Mittelstandes. In den Mußestunden seiner privaten Einsamkeit begann er zu schreiben und verfasste gefühlvolle Gedichte, die dem Stil der von ihm geliebten Klassiker nachempfunden waren. Es bildete für ihn ein vollendeter Genuss, wenn ihm gute stilistische Ergüsse gelangen, Verse von wohlklingender Geschmeidigkeit. Soviel zu den Einzelheiten von Kobs früherem Leben, über welche Ulle, wie gesagt, genauestens Bescheid wusste.

Einige Wochen waren verstrichen, es war mittlerweile Spätsommer geworden. An einem Morgen nun erwachte Fritz neben seinem Freund Kobs, der seinerseits nicht mehr aufwachen wollte. Fritz wunderte sich zunächst, dass sein Kumpel nicht reagierte, als er ihn derb an den Schultern anfasste und heftig rüttelte. Plötzlich begriff er mit tiefem Erschrecken die Realität, dass dieser Mensch, der seit vielen Monaten an seiner Seite gelebt hatte, nicht mehr am Leben sein könnte. Er sprang auf und schrie, wie ein waidwund getroffenes Tier: „Um Gottes willen! Kobs! Wach auf. Verlass mich nicht!“ Dabei vollführte er einen wilden Tanz um sich selbst, und schrie immer wieder:„Was ist mit Dir, Kobs? Du kannst mich doch nicht allein lassen? Bitte, wach auf, wach wieder auf!“ Doch der Tote gab kein Lebenszeichen mehr. Er war unbeweglich und ganz einfach tot. Ein Gärtner, der gerade Blumenbeete von Unkraut säuberte, alarmierte, vom Geschrei des verzweifelten Fritz aufmerksam geworden, die Polizei. Diese traf kurze Zeit später ein. Es waren der Kommissar Jöhle von der Mordkommission und sein Adjutant, Wachtmeister Müller.

Mit sachlicher, gefühlloser Kennermiene begutachtete Jöhle den Tatbestand, während Müller einige Aufnahmen machte und im Notizbuch wichtige Fakten festhielt. Dann stellte er mit Fritz, dem Überlebenden, das übliche Verhör an.
„In welchem Verhältnis standen Sie zu dem Verstorbenen?“
„Er war mein Kumpel, mein bester Freund.“
„Können Sie sich erklären, warum und woran er gestorben ist?“
„Nein, Herr Kommissar, überhaupt nicht. Er war eigentlich immer ausgeglichen und froh gelaunt und hatte mit keiner Menschenseele etwas.“
„Nun, die Obduktion wird ergeben, was die Todesursache war. – Wir werden sehen. Kommen Sie auf jeden Fall mit aufs Revier. Vielleicht ergeben sich noch weitere Gesichtspunkte, zu denen Sie Aussagen machen können.“
Fritz‘ Miene verdüsterte sich. Mit der Polizei wollte er nichts zu tun haben. Bleischwer lastete die Erkenntnis auf seiner Seele, dass sein Kobs, sein Kumpel, nicht mehr da sein sollte. Irgendwie schien sein ganzes Leben aus allen Fugen geraten zu sein. ---

Jakob Sengler war Kobs vollständiger Name. Mit den Mitteln der modernen Computertechnik war es für Kommissar Jöhle kein Problem, auf Senglers Namen zu stoßen und vor allem die Gründe zu ermitteln, weshalb er vor einigen Jahren als Busfahrer entlassen worden war. Er hatte eine Reisegruppe, die einige Tage in Capri weilte, mit dem Bus abholen müssen, war trotz einer schweren Fußverletzung, die er sich bei einem kleinen unbedeutenden Unfall in Bellinzona zugezogen hatte, mit seinem Bus nach Hause unterwegs. Da aber in Konstanz, im abendlichen Berufsverkehr, die Betäubung, die ihm die schweizerische Ambulanz verabreicht hatte, zu wirken aufhörte, begann er, immer heftigere und geradezu fürchterliche Schmerzen zu erleiden, und zwar dummerweise in dem Fußgelenk, mit dem er die Kupplung zu bedienen hatte. Es kam zu einem schweren Auffahrunfall, bei dem nicht nur der Bus stark beschädigt wurde, sondern auch einige Fahrgäste schwere Verletzungen davontrugen. Die Firma, ein kleineres süddeutsches Unternehmen, hatte ihm darauf fristlos gekündigt.

Herr Jöhle wandte sich an Fritz.
„ Hat Ihnen Ihr Kumpel etwas von jenem Unfall erzählt?“
„Und ob, das können Sie mir glauben. Allerdings kam in seiner Schilderung die Sache ganz anders heraus. – Wenn er davon sprach, wurde er bitter und gallig. Er hat es wohl niemals verwunden.“
„Na dann, erzählen Sie“, forderte der Kriminaler den Landstreicher auf.
„Also, es war so. Kobs war mit dem Reisebus unterwegs. Die Fahrt von Capri bis in die Südschweiz verlief problemlos, obwohl in der sommerlichen Hitze, selbst bei Klimaanlage im Bus, das Fahren doch an den Nerven zerrte. Aber mein Kumpel war ein guter Fahrer und auch ehrgeizig. Immer wollte er es allen recht machen, den Passagieren und auch seiner Firma. Niemals wollte er vor einer Aufgabe klein beigeben. Ja, und alles war gut gegangen, bis zu jenem Zwischenstopp auf der Raststätte in Bellinzona.“
Fritz atmete schwer. Der Polizist sah ihn gespannt an.
„Na, und was war in Bellinzona? Mensch, Mann, spannen Sie uns doch nicht so sehr auf die Folter! Was geschah dort beim Zwischenstopp auf der Raststätte?“
„Was dort geschah, auf der Raststätte? Ja, das ist nun so, wie soll ich sagen, eigentlich ist es eine lächerliche Kleinigkeit. Ein dummes Missgeschick. Ein kleiner Ausrutscher, wie er auch im Haushalt passieren könnte, wenn man die Treppe hinunter fällt. Kobs konnte es hinterher selbst nicht begreifen, wie ihm das passiert konnte.“
„Mensch“, Kommissar Jöhle hatte einen schärferen Ton angenommen, „Mensch, Mann, sagen Sie es, spucken Sie es aus. Sonst werden wir ungemütlich.“

„Nur sachte, nur sachte, Herr Kriminaler. Ich erzähl ja schon. Also die Sache war die. Wenn die Fahrgäste in der Raststätte sind und es sich bei Bier, Wein, Schnaps und gutem Essen gut gehen lassen, dann dürfen die Busfahrer die Gelegenheit dazu nutzen, Abfälle zu entsorgen und den Bus wieder in Ordnung zu bringen. Und so hatte Kobs gerade eine Plastikkiste mit Leergut gefüllt, Cola-Flaschen, Flaschen von Mineralwasser, Sekt, Bier usw. Er wollte die Kiste hinaustragen und im Kofferraum verstauen, als er über die Stufen des Buseingangs so ungeschickt stolperte, dass ihm die Kiste aus den Armen glitt, die Flaschen in tausend Scherben zerdepperten und verstreut auf dem Boden herum lagen. Mit seinem ganzen Körpergewicht fiel Kobs durch das Stolpern mit voller Wucht auf die zerstörten Flaschen und geriet dabei mit einem Fuß in eine spitz nach oben stehende Glasscherbe, die sich scharf und tief in seine Ferse bohrte, so dass in hellem Strahl das Blut herausschoss. Kobs war immer hart im Nehmen, muss man wissen. Er biss die Zähne zusammen und rief einem älteren Ehepaar, welches zur Reisegruppe gehörte, zu, man möge ihm ein Pflaster besorgen. Er wolle den Fuß verbinden. Die Frau reagierte ganz entsetzt und redete auf ihn ein: Sie müssen ins Krankenhaus und die Wunde behandeln lassen. So können Sie doch nicht fahren. Ach was, soll Kobs gesagt haben, das ist doch nur eine Kleinigkeit. Das stecke ich weg. Nach Deutschland komme ich mit dem Bus. Der Mann der Frau, ein älterer Gymnasiallehrer, konnte ein wenig italienisch und telefonierte der Ambulanza. Diese war dann auch schnell eingetroffen und brachte Kobs in ein naheliegendes Krankenhaus, wo er ärztlich versorgt wurde und wenig später mit einem verbundenen Fuß zurückkehrte. Man hatte ihm vorsorglich eine Betäubung gegeben, sodass er sich relativ schmerzfrei fühlte.“
Jöhle und der assistierende Wachtmeister hatten dieser Schilderung mit zunehmender Spannung zugehört und konnten ihre Erregung nicht mehr zurückhalten.

„Ja, aber, damit hätte doch Kobs nie und nimmer weiterfahren dürfen. Er hätte doch bei der Busfirma anrufen können und einen Ersatzbus mit einem anderen Chauffeur bestellen können.“
„Ja, das sagen Sie so leicht. Erstens handelte es sich um eine kleine Firma, für die eine solche Maßnahme einen herben Verlust bedeutet haben würde, und außerdem fürchtete Kobs die Unzufriedenheit der Fahrgäste, die alle schleunigst heim wollten und mit Sicherheit nicht bereitwillig lange Stunden Wartezeit auf sich nehmen würden. Was glauben Sie, wie egoistisch vergnügungssüchtige Menschen sein können! Schon im voraus konnte sich Kobs das Murren und Schimpfen der Fahrgäste lebhaft ausmalen. Und so wollte er den Helden spielen und gegen alle Schmerzen den Bus nach Süddeutschland heimbringen. Im Augenblick zwar hatte ihm die Betäubung die Schmerzen stark gedämpft, aber es war eben doch der Fuß, mit dem er die Kupplung bedienen musste. Und jedesmal spürte er beim Aufsetzen auf das Pedal ein scharfes Brennen. Und schließlich, den Rest kennen Sie ja. In Konstanz herrschte gerade Berufsverkehr, ständig musste er abbremsen und wieder anfahren. Nun hatte mittlerweile die Betäubung vollends ihre Wirkung verloren und Kobs stand unter einer wahren Flutwelle von Schmerzen. Er war schweißgebadet, wollte aber alles mit Heldenmut durchstehen. Und da kam es dann schließlich zu diesem Auffahrunfall auf den Tanklaster. Bei allem hatten sie noch Glück im Unglück. Wie leicht hätte es zu einer Explosion kommen können. Aber auch so war der Schaden groß genug, und mehrere Fahrgäste, die übrigens nicht angeschnallt waren, erlitten durch den Aufprall schwere Kopfverletzungen.“

Fritz musste tief durchatmen. Die ganze Erzählung hatte ihn erregt und sichtlich mitgenommen. „Ja, damit war dann auch Kobs Karriere als Busfahrer beendet. Er musste froh sein, noch an einer Gefängnisstrafe vorbei zu rutschen. Man rechnete ihm sein Pflichtgefühl und auch seinen Heldenmut hoch an. Aber schwerer wog eben doch der Hauptvorwurf grober Fahrlässigkeit. – Und so stand Kobs kurz danach arbeitslos auf der Straße. Seine Ersparnisse waren bald aufgebraucht, er schlitterte die abschüssige Bahn des gesellschaftlichen Abstiegs hinunter und landete auf der untersten Ebene, der Welt der Stadtstreicher und Obdachlosen. So lebte er nun schon einige Monate mit mir zusammen, und wir wurden gute Kumpels. Ach…“ Fritz verfiel nun in schniefendes Weinen, „ich kann es nicht verwinden, dass Kobs tot ist.“

Seine Schultern waren nach vorne gefallen, den Kopf hielt er mit beiden Händen, alles an ihm zuckte vor krampfartigem Weinen. Dann plötzlich richtete er seinen tränennassen Blick auf die Polizisten.
„Übrigens, warum ist Kobs überhaupt tot? Woran ist er denn gestorben? Weiß man das schon?“
„Ja“, sagte Jöhle mit langgezogenem Tonfall, schaute Fritz durchdringend an und sprach eindringlich weiter. „Das kommt auf die Ergebnisse der Obduktion an, die wir stündlich erwarten. Sie können sich vorstellen, wenn der Tod durch Fremdeinwirkung eingetreten ist, dann fällt natürlich der dringendste Tatverdacht auf den Menschen, der ganz zuletzt mit dem Toten zusammen war.“
Es herrschte Stille. Nach längerer Pause drang es aus Fritz heraus:
„Ich habe nichts gemacht. Wie sollte ich auch. Kobs war mein bester Freund. Das müssen Sie mir glauben.“
„Noch wissen wir nichts. Aber in jedem Augenblick wird uns die Gerichtsmedizin anrufen. Warten wir es ab.“

Da klingelte auch schon das Telefon.
Jöhle nahm den Hörer ab und lauschte gebannt. Dann, nach einem kurzen Gespräch, schaute er bohrend auf Fritz.
„Man hat Spuren von Strychnin in Kobs Körper gefunden. Er ist an einer tödlichen Blutung im Magen-Darmbereich gestorben, auch im Gehirn soll es Blutungen gegeben haben. Eigentlich müsste er vor seinem Sterben gelitten haben.“
„Strychnin, Strychnin… aber das ist doch Rattengift. Ach, ich weiß ja nichts davon. Aber ich habe schon davon gehört. Und das also soll er genommen haben. Es ist nicht vorstellbar.“
„Oder“, erwiderte Jöhle langsam, „man hat es ihm gegeben.“
„Ich kann es mir nicht vorstellen“, sagte Fritz, „Bitte, erklären Sie mir, wie dieses Gift wirkt.“
„Ja, dann wollen wir mal sehen, ob uns das Internet schlau machen kann.“ Jöhle gab in der Suchmaschine seines PC das Wort „Strychnin“ ein und erhielt kurz danach ausführliche Auskunft. Er druckte das Blatt aus und reichte es Fritz. Dieser vertiefte sich ins Lesen.

„Strychnin als Rauschmittel - In Dosen von 0,5 bis 5 mg führt Strychnin zu starker Erregung mit Euphorie und intensivierter Wahrnehmung von Farben. Strychnin wird seit etwa 1920 vorwiegend im asiatischen Raum dem zum Rauchen verwendeten Heroin beigemischt; dieses versetzte Heroin taucht seit 1973/1974 auch in Europa (Niederlande und Italien) auf. Das Strychnin dient hier dazu, die durch das Heroin bedingte Atemdepression auszugleichen, und ermöglicht dadurch höhere Dosen. Strychnin als Medikament -In der ayurvedischen Medizin spielt Strychnin eine bedeutende Rolle und wird zum Beispiel bei Appetitlosigkeit, Fieber, Anämie, Hexenschuss und zur Anregung der Darmperistaltik angewendet. Früher wurde es oft auch als Aphrodisiakum eingesetzt. Volkstümlich wurde es bei vielerlei Erkrankungen wie Magen-Darm- und Herz-Kreislauf-Beschwerden sowie Nervosität, Depressionen und Migräne angewendet. Adolf Hitler soll von 1936 bis 1943 täglich Strychnin gegen Blähungen eingenommen haben. „

„Also sogar Adolf hat es genommen. Unglaublich. Hätte man ihm nicht eine stärkere Dosis verabreichen können, dann wär uns viel erspart geblieben. --- Und mein Freund Kobs hat es also auch genommen.“
„Können Sie sich vorstellen, wer ihm das Gift gegeben hat“, fragte Jöhle.
„Keine Ahnung. Oder, warten Sie, da war doch einmal was. Er hatte dem Gärtner oft beim Unkrautjäten geholfen, und einmal schenkte ihm dieser ein Fläschchen. Es sei ein Stimmungsaufheller, ein psychischer Muntermacher, oder so etwas, soll er gesagt haben. Und ich sah auch, wie sich danach Kobs oft ein paar Tropfen von dem Fläschchen in den Rotwein schüttete. Das würde den Geschmack veredeln, meinte er. Und hinterher, wenn er es getrunken hatte, wirkte er oft wie aufgekratzt. Er sagte, er könne nun alles viel klarer und deutlicher sehen. Die Bäume und Büsche seien scharf konturiert, wie in einem optimal belichteten Naturfilm. Und auch die Vogelstimmen würde er schärfer hören, wie aus allergrößter Nähe. Ich glaube, er brauchte diesen Kick immer wieder. Denn, wissen Sie, in Wirklichkeit litt Kobs unter Depressionen. Diese konnten ihn immer wieder anfallartig heimsuchen. Und in einem solchen Zustand war er übellaunig, grätig, nervös und gereizt. Manchmal auch weinerlich und verdrossen, und es schien, als könne er sich an nichts mehr freuen. Ach, das waren fürchterliche Tage. Und gerade in solchen Zeiten nahm er gerne nicht nur einen Schluck aus der Pulle. Da segnete mancher Liter Rotwein das Zeitliche. Natürlich war er danach betrunken, aber auch irgendwie aufgekratzt. Allerdings konnte ihn plötzlich ein Zittern und Zucken der Glieder überfallen, manchmal litt er plötzlich unter Atemnot und wurde von schweren Krämpfen geschüttelt. Oft packte ich ihn dann und herrschte ihn an: Mensch, Kobs, was ist mit Dir? Komm zu Dir. Und wenn ich ihn dann so aufrüttelte, wurde er langsam ruhiger und blickte mich dankbar an.“

„Ja, sagte Jöhle, das erklärt dann wohl einiges. Jetzt müssen wir nur noch den Gärtner vernehmen, denn was dieser getan hat, ist zumindest grob fahrlässig. Er kann doch nicht ohne weiteres Giftfläschchen verschenken. – Glauben Sie, dass Ihr Freund in der fraglichen Zeit unter dem Eindruck einer solchen Depression stand?“
„Ach“, sagte Fritz, „daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Aber vor wenigen Tagen hatte er mir ein Blatt gegeben mit einem seiner letzten Gedichte. Sie müssen wissen, er blieb seit seiner Tätigkeit in der Bibliothek ein Schöngeist, der für sich, ganz für sich allein, immer wieder Verse machte. Gelungene, schöne Verse, kann ich Ihnen sagen, die einem Goethe oder Schiller sogar zur Ehre gereichen würden.“
„Na, nun übertreiben Sie mal nicht. Aber lassen Sie uns das Blatt doch sehen. Vielleicht gibt es Aufschluss über seinen Selbstmord, denn darum handelt es sich doch wohl.“
Und Fritz kramte aus seiner Jackentasche ein vergilbtes Blatt heraus, das mit bläulicher Kugelschreibertinte beschrieben war, die, vielleicht vom Regen oder von Tränen, halb verwischt war. Es hatte folgenden Wortlaut:

Heut ist dir schwer,
du trägst dich kaum,
der Tag so leer,
kein Mensch im Raum.

Wozu du lebst,
du weißt es nicht,
wonach du strebst,
hat kein Gesicht.

Musik wird stumm,
das Auge blind,
das Denken dumm,
des Zweifels Kind.

Du suchst Kontakt
lädst jemand ein,
doch zugehakt
sagt er nur nein.

Dein müder Leib
sehnt sich nach Lust,
kein willig Weib
reicht dir die Brust.

Dein alter Gott,
dem du vertraut,
hängt am Schafott,
das du gebaut.

Dich lockt der Tod
zu stiller Ruh,
er reicht dir Brot
und deckt dich zu.


Als der Kommissar den Text laut vorgelesen hatte, hatte sich im Raum eine feierliche Stille verbreitet. Alle, auch der Wachtmeister und die Sekretärin, welche zugehört und mitgelesen hatten, schienen von diesem Text sichtlich ergriffen. Es dauerte sehr lange, bis Jöhle leise vor sich hin sprach:
„Da lebt nun ein Mensch voller Verzweiflung, und niemand nimmt ihn wahr. Das ist ein erschütterndes Dokument einer grenzenlos vereinsamten Seele. Und dabei muss er so viel Gutes in sich gehabt haben, Liebe zur Musik, zur Kunst und auch eine tiefe Sehnsucht nach Geselligkeit, Gemeinschaft und Freundschaft. Es ist doch traurig, dass ein Mensch mit solch wertvoller innerer Substanz so völlig unbemerkt zugrunde gehen kann. Wie ein Käfer, der von der gefühllosen Welt zertreten wird. Vielleicht war er früher sogar sehr religiös, ist aber an dem Glauben verzweifelt. Das Bild vom Schafott, an dem Gott hängt, ist so rührend, so packend, so ergreifend.“
Auch Fritz konnte nicht an sich halten. Er schluchzte vor sich hin. Und sagte immer wieder. „Ich habe ihn nicht ernst genommen. Nicht genug ernst genommen. Ich bin schuld an seinem Tod.“
„Nein“, sagte Jöhle, „Sie nicht, wenn jemand schuld ist an diesem Tod, dann wir alle.“
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