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Alt 24.07.2016, 20:47   #1
weiblich Taro
 
Benutzerbild von Taro
 
Dabei seit: 07/2016
Alter: 28
Beiträge: 72

Standard Der Feind

Stehe an einer Kreuzung. Die Ampeln sind rot; scheinen in blasse Gesichter - es ist Sommer und es ist schon dunkel.
Die Hände in den Taschen, denn es ist so kalt, dass der heiße Atem in Rauchschwaden emporsteigt und verschwindet.
Die Ampeln bleiben rot.
Es ist eine Reise. Es ist spät. Der Tag ist einfach so vorbeigezogen. Die Stunden fliegen und der Fahrtwind reißt einen manchmal zurück. Momente, in denen man Momente Revue passieren lässt.
Die Nase läuft. Ein schmatzendes Geräusch.
Jeder Tag ist ein Beispiel dessen, was quält. Man sieht es an jedem Ticken einer Uhr, an jedem Herzschlag, am Sonnenstand und an seinen eigenen Atemzügen sogar - die Zeit vergeht. Unaufhörlich rennt sie einem davon.
Und es lässt grübeln - ob man was verpasst, ob man die Zeit irgendwie austricksen kann. Doch sie ist dein schlimmster Feind.
Sie nimmt keine Rücksicht; sie spielt nicht mit fairen Karten.
Wenn du liebst, scheint sie ganze Stunden in Sekunden vergehen zu lassen. Und du bekommst ehrliche Angst vor der Zeit, denn du hast Angst, dass sie nie genug sein wird. Wenn du ehrlich liebst, trägst du mehr Liebe in dir, als du Zeit hast, zu geben. Zeitdruck. Plötzlich überfällt dich ein unberechenbarer Zeitdruck. Fürchtest dich davor, dass es nie genug Zeit gibt. Dass du irgendwann Abschied nehmen musst. Dass das unumgänglich ist. Dass es irgendwann einen letzten Kuss geben wird, eine letzte Umarmung. Das letzte Mal diesen einen Blick sehen, den du so liebst. Das letzte Mal den nackten, unparfümierten Körper am Morgen riechen. Irgendwann werden Hände losgelassen, dann gibt es einen letzten Kuss auf die Stirn oder auch nicht und dann hat die Zeit gewonnen.
Das Rot der Ampeln starrt grell aus seinen Höhlen. Es starrt an; penetrant, durchdringend.
Ein letztes Mal die Konturen des Gesichts streicheln.
Ungewissheit, wie es enden wird. Früh oder spät. Will- oder unwillkürlich. Jung oder alt. Irrelevant - der Schmerz wird kommen.
Und deswegen nachts an der Ampel stehen, die nicht grün wird. Die einem den Weg versperrt. Den Gedanken ausgesetzt sein.
Der Wind pfeift um die Ohren.
An der Tür zu einer weiteren Umarmung zurückrufen, aus Angst, dass es das letzte Mal sein könnte.
Zerstören Gedanken dieser Art das Leben, die Liebe? Verschwendet man damit nicht nur mehr Zeit? Ehrlich zu sich selbst sein - bringt es etwas, sich damit auseinanderzusetzen, bevor es überhaupt von Nöten ist? Wieso lässt man diese Angst überhaupt real werden?
Einer kurzer Moment des Verständnisses. Ein kurzer Moment des klaren Blicks. Denkt, man versteht es nun. Man kann nun besser damit umgehen. Ein kurzer Moment, in dem die Ampel auf grün umspringt. Dann losgehen und auf halbem Weg wieder zerfleischt werden von Gedanken, denn die Zeit ist etwas Subjektives, etwas, das sich immer verändert, etwas, das man sich nicht anmaßt, zu denken, es verstanden zu haben. Auf halbem Weg, den Blick heben und von rotem Licht angestarrt werden. Auf halbem Weg dem wahrhaftigen Feind begegnen - sich selbst.
Taro ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.07.2016, 21:07   #2
männlich Ex-Poesieger
abgemeldet
 
Dabei seit: 11/2009
Beiträge: 7.222

Zwischendrin sah ich den Fahrtwind die Stunden mitnehmen.
Ex-Poesieger ist offline   Mit Zitat antworten
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Stichworte
feind, tod, zeit

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