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Alt 02.12.2012, 13:02   #1
weiblich MuschelIch
 
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Standard Milchholen im Gutshof

Milchholen im Gutshof

Die Milchkanne war weiß und schön bauchig. Der Deckel orange. Jeden Abend oder doch zumindest häufig mußten wir darin die Milch aus dem Gutshof holen.
Der Weg führte entlang des Krankenhauses und dann diese alte Treppe hinunter, die ebenso altersschwach wie gewunden war. Das Geländer nicht im besten Zustand; der ergonomische Winkel unmöglich und die Stufen abgewetzt und ungleich lang und hoch: so eine Treppe hätte heutzutage keinerlei Chance! Sie wäre nicht zertifiziert, nicht erfaßbar und hochgefährdend.

Es würden sich Elterninitiativen gründen dagegen und der TÜV käme und würde die Treppe mit einem vernichtenden Urteil ins Aus katapultieren.

Soweit ich mich erinnere ist nie irgendetwas passiert damals im letzten Jahrtausend, wo ich meine Lungen auffächerte und meine Füsse sich mit den irdischen Verhältnissen vertraut machen durften. Und dies, obwohl wir im Schneetreiben, im strömenden Regen und auch bei Eisglätte dort hinunter stiegen in den Gutshof - es waren wohl gut neun bis elf Meter Höhenunterschied zu bewältigen.

Vielleicht waren wir noch lebendiger als die heutigen - ? Und konnten mit nicht-zertifizierten und unergonomischen Winkeln umgehen? Mit Unmöglichkeiten und nicht-erfaßten Bakterienstämmen auch?

Vielleicht lag es auch daran, daß diese Treppe direkt neben dem großen dreistöckigen Haus hinablief, wo die Familie Siebenhaar wohnte ?

Eine der Töchter, die diesen märchenhaften Namen trug, hatte lange dunkelbraune wunderschöne Haare und machte so diesem Elfennamen alle Ehre. Vielleicht beschützte der Zauber der Siebenhaars diese Treppe ?

Ich trank Cola oder was man damals so trank mit anderen aus der gleichen Flasche . Sinalco auch. Und es gab gar die völlige Unmöglichkeit, angelutschte Bonbons der Lieblingsfreundin aus dem Mund zu klauen (mit deren Einverständnis natürlich) - ob das die Vorfelder des Küssens waren oder es doch nur um die Süße des Campiono-Bonbons ging, das weiß ich nicht mehr. Außerdem waren Bonbons Mangelware damals.

Warum ich eigentlich hier versammelt bin,
ist es um Reflex Ionen zu schreiben, Reflex Ionen über die Werbung.

Denn ich fühle mich von Werbung umzingelt. Sie lauert überall . Will mir was verkaufen zB. 250 Visitenkarten wie gerade eben hier im Pop-up.

Diese ist eine der getarnten Werbungen, nämlich eine, die mir erst was schenkt. Eben die besagten Visitenkarten.
Weil ich ja schon groß bin und einigermaßen bei Verstand, weiß ich, daß da was auf dem Fuße folgt. Also zum Beispiel ab dem Zeitpunkt wo ich diese - nicht benötigten - Teile in meinem Briefkasten habe und die Firma, die mir diese schickt meine Anschrift in dem ihrigen , ein Bombardement mit Postwurfsendungen.

Ich soll an Kursen teilnehmen um mein Fett zu reduzieren oder um meine Innere Ruhe zu finden. Ich könnte auch mal endlich lernen, arbeitstechnisch effektiver zu sein oder wie ich Flecken ökonomisch und ökologisch sinnvoll entferne.
Ich könnte die Zeit, die ja nun doch schon etwas reduzierter zur Verfügung steht, wieder weiten
indem ich sie systematischer verwalte.

Dazu würde ich mich von Kursleitern anleiten lassen, die aus einer anderen Zeit stammen . Ich stelle sie mir irgendwie mit schicken Zähnen vor und wie auf einer Kaffeefahrt oder wie diese Dinger für ältere Herrschaften heißen. Also mit einem kleinen Micro umgeschnallt und da sprechen sie dann ihre Slogans hinein und machen mir ein schlechtes Gewissen.

Sie würden vielleicht aussehen wie dieser Dr. Best, der mit einer Zahnbürste an einem Apfel (oder einer Tomate ) rumschrubbt und den ich schon, als er vor sieben oder fünf Jahren im Fernsehen auftauchte, sofort als Vampir identifizierte.

Schließlich würde ich ihnen fünf Euro in ihren Werbehut schmeißen und irgendeinen Mist mit nehmen.

Im eigentlich geht es mir aber darum, wie es kommen konnte, daß dieses Land so vollgemüllt ist mit Werbung. Kürzlich fand ich sogar welche an den Haltegrifffen im Bus.

Der Bus kriegt eine Kurve grade nicht gut und bremst ab und mensch greift hilfesuchend in letzter Not nach einem der herabbaumelnden gelben Plastikgurte . Diesen hilflosen hochempfindsamen Moment, wo man also in größter Not nach oben schaut umd sich das Schienbein vor einem Bluterguß oder gar schlimmeren zu retten, nutzt die Werbung schamlos aus.

Dieser besonders hinterhältige Stamm der Werbung hat sich nämlich an den Haltegurten versteckt und ich komme nicht umhin, ihn und sein penetrantes Getrommele wahrzunehmen.
Vielleicht brennt er sich gar durch diese traumatische Situation aus Fast-Sturz und Schnell-Gerettet in meine Hardware ein ? Umgeht mein Immunsystem, indem er mich erinnert an frühe Kindheitssituationen als Vaters starke Arme mich gerettet haben vor dem Fast-Absturz ? So bin ich also - ungewollt - infiziert mit dem Produkt - angefixt sozusagen - und muß es kaufen, wenn es mich dann in echt anspringt aus den Schaufenstern.

Vielleicht bin ich selber Schuld, daß mich die Werbung so hetzt ? Wie konnte es geschehen, daß ich von dieser alten, soliden Treppe in der Nähe der Siebenhaars und mit meiner echten Plastikmilchkanne in der Hand, mit dem Dunst der Kuhställe im Hintergrund,
daß ich nun, vierzig Jahre später , von Werbung verfolgt werde ?

Geändert von MuschelIch (02.12.2012 um 17:52 Uhr)
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Alt 03.12.2012, 11:53   #2
weiblich Poetibus
 
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Hallo, MuschelIch,

oh je - die Werbung. Ich kann deinem Text nur voll und ganz zustimmen, es ist nicht mehr zu fassen, dass man der ständigen Reklameflut einfach nirgends mehr entkommen kann. Jeden Tag muss ich an die 10 Reklame-Mails in meinem E-Mail-Konto löschen. Wie zum Geier kommen diese Reklamefritzen an meine E-Mail-Adresse? Ich nahm nie online an irgendwelchen Gewinnspielen teil, habe kein Konto in irgendeinem der sogenannten "sozialen Netzwerke", mache kein Online-Banking oder sonst irgendwas - nichts außer Lyrikforen und einem E-Mail-Account. Nein, auch kein Konto bei Google und kein Online-Shopping. Aber wir sind eben nicht weit entfernt vom "gläsernen Menschen", fürchte ich.

Mir gefällt die Einleitung, die Erinnerung an "damals". Nicht alles perfekt genormt, keine Panik vor irgendwelchen Keimen (ich war häufig im Kuhstall zu finden - und, na ja, da habe ich z. B. auch mal einen Apfel gegessen, ohne mir die Hände zu waschen, trank Milch, die lediglich durch ein Tuch gefiltert, also nur vom "sichtbaren Dreck" befreit war. Krank wurde ich als Kind nie davon.) Ich erinnere mich an Fasching, wenn eine Nachbarin immer selbstgebackene Krapfen aus dem Fenster warf, die wir Kinder fingen - oder vom Boden aufklaubten, wenn sie danebenfielen. Die aßen wir dann, nachdem wir einmal alibimäßig darüberpusteten.

Und heute? Je agressiver die Putzmittel, desto besser? Natürlich werbesuggeriert ...

Lebt man alleine, so wie ich, dann putzt man auch alleine. Bei mir gibt's nur zwei Putzmittel - einen Essig-Universalreiniger und ein Fensterputzmittel (geht mit dem Reiniger nicht, es sei denn, ich möchte "Milchglasscheiben" , hab's probiert). Zeitungspapier kann man auch nicht mehr nehmen, da die Druckerschwärze heute anders hergestellt wird.

Außerdem, da stimme ich dir genauso zu, ist die Werbung reine Verarsche, ich sag's mal deutlich. Da mutiert ein "Dr. phil." zum suggerierten "Dr. med.". Da werden Kinderquark und Kinderschokolade als "gesund" und "etwas Gutes" angeboten, die größtenteils aus nichts als Fett und Zucker bestehen, nur als ein Beispiel.

Was das Popup-Fenster hier betrifft: Adblock +. Ich bin fast völlig reklamefrei im Web unterwegs.

Meiner Meinung nach liegt das Problem vor allem darin, dass die Werbung funktioniert, die Leute kaufen, wenn ein Produkt beworben wird. Wäre dem nicht so, würden sich die Marketing-Experten brotlos wiederfinden. Ist leider so, denn in der freien Marktwirtschaft regelt die Nachfrage das Angebot. Ich kann mich noch erinnern, dass es früher nur 3 Fernsehprogramme gab und einen Reklameblock, der zwischen den Nachrichten und dem Film um 20.15 platziert war. Ich habe zwar keinen Fernseher mehr, aber ich weiß noch gut, dass heute nicht nur jede Sendung mehrfach von Reklame unterbrochen wird, sondern seit einer Weile sogar irgendwo (dann im "Kleinformat") irgendwelche Reklame auftaucht, so "nebenher".

Und Kurse - klar, die gibt es, genauso wie Bücherratgeber (denen ich mal ein Gedicht "widmete") in "unbegrenzter" Menge.

Wie hat die Menschheit nur ohne all das jahrzehntausendelang überlebt?

Kurz zum Formalen:

Zitat:
Vielleicht lag es auch daran, daß diese Treppe direkt neben dem großen dreistöckigen Haus hinablief, wo die Familie Siebenhaar wohnte ?
Ab diesem Satz gibt es Leerzeichen zwischen Interpunktionsszeichen und Wort, manchmal ist ein Satz "verschoben" bzw. der Zeilenumbruch an der falschen Stelle - liegt wahrscheinlich an der Formatierung, denke ich. Ich kopiere meine Texte mittlerweile von Word erst mal in meinen Texteditor, damit ich die Formatierung "loswerde"; nur so als Tipp. (Sind auch ein paar Tippfehlerchen drin, nicht so "wild", ich erwähne es nur.)

Die Geschichte habe ich gerne gelesen, halb amüsiert und halb seufzend. Besonders den Schluss finde ich treffend - "von der Werbung verfolgt". Besser kann man's nicht ausdrücken.

Freundlichen Gruß,

Poetibus
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