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Düstere Welten und Abgründiges Gedichte über düstere Welten, dunkle und abgründige Gedanken.

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Alt 15.03.2015, 07:46   #1
weiblich Isabel Seifried
 
Benutzerbild von Isabel Seifried
 
Dabei seit: 03/2011
Ort: Deutschland
Beiträge: 616

Standard Erinnerung

Ich hab mich so oft umgebracht.
Die Grenze ueberschritten.
Ein Meisterstueck in meiner Hand,
mit Blut ummantelt war der Rand.
So tief ins Fleisch geschnitten.

Ich lag im Blut in jener Nacht.
Da halfen keine Bitten.
Doch irgendwo hielt mich ein Band,
das mich zu jung zum Sterben fand.
Ich sterb in tausend Schritten.

Die Schmerzen quaelen mich so sehr.
Die Narben unvergessen.
Ich sterb im Innern, immer mehr
Die Augen kalt. Der Blick wird leer.
Kein Mensch kann das ermessen.

Ich lieg im Dunkeln. Ganz allein.
Die Qual hat mich zerfressen.
Das Blut laeuft schnell und warm,
kein Ton entkommt den Lippen.
Die Roete streichelt meinen Arm
und wagt mich anzutippen.

Das Ende soll ein Anfang sein.
Die Welt hat mich zerrissen.
Und neues Blut laeuft ueber mich,
so werd ich ganz im Sterben ich,
bin ich auch ganz zerschlissen.

Ich war den Andern nichts mehr wert
und konnt mich selbst nicht spueren.
Nun hab ich Mut zum Leben.
Der Schrei, der in die Nacht entfaehrt,
wird sich im Nichts verlieren,
hab mich ihm uebergeben.

Wollt nur im Sterben leben.
Isabel Seifried ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.03.2015, 14:15   #2
Stachel
 
Benutzerbild von Stachel
 
Dabei seit: 03/2015
Ort: Niederrhein
Beiträge: 955

Hallo Isabel,

es ist ein ausgesprochen interessantes Gedicht, dass viele Fragen aufwirft.

Reimschema:
Du hast sehr unterschiedliche Reimschemata bemüht. Es macht das Werk auf der einen Seite vielseitig und lässt dein Können und dein Wissen um Reimspielarten erkennen.

S1: a b c c b
S2: a b c c b
S3: d e d d e
S4: f g h i h i
S5: f j k k j
S6: l m n l m n
NS: n

Andererseits ergibt sich für mich zunächst keine klare Struktur. Es wirkt wie der Versuch, viele verschiedene Typen einzuweben. Das wiederum ist sehr spielerisch und kontrastiert stark das schwere Thema und die düstere Stimmung.

Gut finde ich z.B. die komplette Wiederholung des Schemas von S1 in S2. Du setzt Körner in S1V1 und S4V1, die in S2V2 bzw. S5V2 aufgehen. Bei S1 und S2 verbindest du somit die Gegenwart des übrigen Gedichtes mit der Vergangenheitsform der S2. Leider bleibt das die einzige erkennbare Verbindung. Dadurch entsteht ein Bruch im Tempus, der keine Notwendigkeit darstellt.
Du schreibst in S2V1 von "jener Nacht", ohne jedoch das Bild vorzubereiten oder wieder aufzunehmen.


Damit sind wir bereits bei den Bildern:
Sehr gelungen finde ich S1V4. Das Bild wirkt zunächst unpassend, erklärt sich aber in S1V5: Das Meisterstück (auf Papier?) hat bis ins Blut geschnitten und sich dabei gefärbt.
S4V5 zeichnet ein fast versöhnliches Bild mit dem Tod ("streichelt"). Das "[...]tippen" in S4V6 scheint dem Reim geschuldet zu sein. Es entsteht zwar bei genauerem Nachdenken das Bild von auf irgendein Körperteil tropfendes Blut (z.B. von Arm auf Fuß), aber es korrespondiert nicht so recht mit "streichelt", "läuft" und "ich lieg" (alles S4).

Woher kommt plötzlich der "Mut zum Leben" (S6V3)? Woher der Schrei (S6V4)? Ist es ein letzter Schrei der Verzweiflung oder der Wut über die Umstände? Und warum übergibt sich ihm das LI in S6V6, wo er sich doch im "Nichts verlieren" wird (S6V5)? Das wiederspricht dem Lebensmut, mündet es doch in Verschwinden, also in Tod.

Auch S5 hält Fragen bereit: Worin genau besteht der "Anfang", außer, dass dort das Wort in V1 steht? Woher kommt "neue Blut" in V3? Es unterstützt zwar irgendwie den Neuanfang, bleibt aber nebulös.


Rhythmus:
Du hast den Rhythmus weitgehend durchgehalten.
Ein starker, aber unerklärlicher Bruch eröffnet sich in S5V3 durch das Fehlen von zwei Silben.
S1V1 hätte ich umgestellt und dadurch "entholpert".
Ein guter Bruch entsteht durch die Verkürzung von S6V3, S6V6 und NS um je eine Silbe. Dadurch entsteht eine Verbindung, die das (von mir oben auch kritisierte) "übergeben" nun an "Leben" bindet, sich das LI also dem Leben übergeben hat. Diesen versteckten Hinweis finde ich ausgesprochen gut. Leider finde ich ihn zu überlagert und versteckt (deshalb obige Kritik).

Unklar bleibt noch, warum S4 und S6 eine andere Verszahl (6 ggü. 5) aufweisen.


Fazit:
Dieses Gedicht spielt für mich auf sehr hohem Niveau. Gerade die ersten vier Strophen sind gut gelungen. S5 und S6 fallen inhaltlich ab. Das kann aber auch an mir Pragmatiker liegen. Sie sind mir nicht deutlich, nicht verständlich genug.

Ich habe nun viel Kritik geschrieben, jedoch nicht, weil ich das Werk abwerten will. Es hat in meinen Augen so viel Potenzial, dass es mir großen Spaß gemacht hat, mich intensiver damit auseinander zu setzen.

Ich danke dir für dieses schöne Gedicht.
Stachel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.03.2015, 23:25   #3
männlich Ex-Lichtsohn
abgemeldet
 
Dabei seit: 03/2015
Beiträge: 1.493

Du hast Dich so oft übertroffen
Das Beste stumm besungen
Ein Meisterstück aus Deiner Hand
Mit Charme und gänzlich ohne Tand
So tief ins Herz gedrungen.
Ex-Lichtsohn ist offline   Mit Zitat antworten
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