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Alt 27.02.2016, 22:04   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Wie ich die Sommerferien erlebte ...

10:30 Uhr. Deutsch. Der Lehrer schreibt das Aufsatzthema an die Tafel, und durch die Klasse geht ein Stöhnen. „Das hatten wir doch schon im letzten Jahr – und im Jahr davor!“ traut sich Karsten zu protestieren. Dr. Seibold ist nicht beeindruckt. „Ich bezweifle, dass eure Ferienerlebnisse jedes Jahr die gleichen sind. Also bitte, ab sofort keinen Mucks mehr und anfangen.“

Ich sitze vor meinem Entwurfspapier, starre auf das Thema an der Tafel und drehe meinen Füller solange um seine Achse, bis mir Dr. Seibold einen tadelnden Blick zuwirft. Also ziehe ich lautlos fluchend die Hülse vom Füller und beuge mich über das Papier. Doch meine Hand will sich nicht bewegen, nicht mal einen Punkt zu setzen ist sie imstande. In mir sträubt sich alles gegen diesen Aufsatz, und dann schießt mir durch den Kopf, weshalb: „Was ich erlebt habe, geht niemanden in der Klasse etwas an!“

Und während über dem Lehrerpult der Sekundenzeiger der Wanduhr voranschreitet, fliegen meine Gedanken zurück zu jenem Juli-Tag, an dem ich mit Mama stritt und den Kürzeren zog.
Eine Woche vor Beginn der Schulferien hatten meine Eltern bereits alle Reisevorbereitungen getroffen, was keine Meisterleistung, sondern reine Routine war, denn wir verbrachten den Sommerurlaub immer am selben Ort.

„Mama, kann ich diesmal nicht zu Hause bleiben? Evelyn hat gesagt, ich könne bei ihr wohnen.“

„Kommt nicht in Frage. Du bist erst sechzehn, und solange dein Vater und ich die Verantwortung für dich haben, hast du dich an die Regeln zu halten. Evelyns Elternhaus ist für meinen Geschmack zu liberal - um es harmlos auszudrücken.“

„Ihr Vater ist Künstler – na und?“

„Und die Mutter schlägt sich die Nächte in einer Bar um die Ohren.“

„Mama! Sie arbeitet dort! Mit Evelyns Eltern ist alles in Ordnung.“

„Sie führen ein Lotterleben, und damit Ende der Diskussion. Außerdem freut sich Tante Babette auf deinen Besuch.“

„Ich hasse Tante Babette!“

Das kostete Mama ein mitleidiges Lächeln, denn sie wusste, wie sehr ich Tante Babette liebte. Mit anderen Worten: Ich hatte die schwächeren Argumente und musste mitfahren. Während der Fahrt fielen mir mindestens hundert Synonyme für „Langeweile“ ein.

Tante Babette lebte in einem alten Bauernhaus in einem kleinen Dorf im Bayerischen Wald, in dem jeder jeden kannte und sich niemand traute, sonntags der Kirche fernzubleiben. Sie empfing uns gutgelaunt wie immer, und auf dem Kaffeetisch erwartete uns der obligatorische, eigenhändig gebackene Blaubeerkuchen (sogar die Beeren waren selbstgepflückt) und frische Milch direkt vom Bauer. Auch Katze Minette hielt sich an die Tradition und begrüßte uns mit Mauzen, während sie mit ihrem Körper unsere Beine streifte.

Eigentlich hieß Tante Babette gar nicht Babette, sondern Josefine. Da sie aber streng gläubig war und jedes Jahr einmal nach Lourdes fuhr, um am Ort der marienbegnadeten Bernadette Soubirous die neuesten Wunder mit eigenen Augen zu schauen, nannte mein Vater sie Babette, und allmählich hatten wir uns alle an diesen Spitznamen gewöhnt.

Tante Babette schenkte gerade Kaffee nach, als die Haustür aufgeschlossen wurde und ein junger Mann ins Zimmer stürmte, der sie herzlich umarmte. Er war in Begleitung eines etwa achtzehnjährigen Mädchens, das auf der Türschwelle stehen geblieben war.

„Komm herein, Franzi. Wie war euer Ausflug? Beichtet mal gleich eure Dummheiten, bevor die Gerüchteküche zu kochen beginnt!“

Patrick lachte. „Wir waren ganz brav, Tante.“ Er sprach mit einem britischen Akzent.

Franzi war leicht errötet: „Ich gehe dann mal. Wie ich sehe, haben Sie Besuch.“

„Nein, bleib nur, du kannst mit uns Kaffee trinken.“

„Danke, aber ich muss noch im Laden helfen.“ Und zu Patrick gewandt: „Komm vorbei, wenn du etwas brauchst, unser Laden ist gut sortiert. Und wenn du Lust hast, können wir am Wochenende zusammen zum Richtfest des neuen Gemeindehauses gehen.“

Damit drehte sich Franzi auf dem Absatz um und verließ das Haus. Tante Bernadette sah ihr anerkennend nach.

„Franziska ist die Tochter vom Horst Wagner, ihr wisst doch, der mit dem Schreibwarenladen gegenüber der Schule. Ein nettes, gut erzogenes Ding - und außerdem das hübscheste Mädchen im Dorf. Ihr Vater platzt vor Stolz, wenn sie zusammen in die Kirche gehen.“

Dann wandte sie sich meinen Eltern zu.

„Darf ich vorstellen: Patrick, der Sohn meiner Freundin Alberta. Er ist vor einer Woche angekommen und bleibt bis Ende August, um Deutschland kennenzulernen, wenngleich unser Dorf nicht unbedingt repräsentativ für das ganze Land ist.“ Sie zwinkerte mir zu. „Vielleicht werden deine Ferien diesmal nicht so langweilig ausfallen wie in den letzten Jahren.“

Dann stellte Tante Babette meine Eltern und mich vor: Manfred, Hannah und Jutta. Patrick begrüßte jeden einzelnen von uns, abermals in einwandfreiem Deutsch, was meine Eltern aufatmen ließ. Als er meine Hand drückte, brachte ich kein Wort heraus.

Von Tante Bernadettes Freundin hatte ich ab und zu gehört, aber nur vage. Sie waren zusammen zur Schule gegangen, von der ersten Klasse bis zum Abschluss. Alberta war, kaum volljährig geworden, nach England ausgewandert, lebte in Birmingham und arbeitete als Lehrerin für Deutsch und Englisch. Viel mehr wusste ich nicht, geschweige denn hatte ich jemals von der Existenz eines Sohnes namens Patrick gehört. Jetzt stand dieser Sohn vor mir, ein unerhört gutaussehender Mann, groß, schlank, kräftig, schwarzbraunes, leicht gewelltes Haar, tiefgrüne Augen, breites Kinn mit einem angedeuteten Grübchen, fast klassisch-griechischer Nase und einem markanten, stark konturierten Mund. Selbst nach Jahren hätte ich, ohne ihn jemals wiedergesehen zu haben, eine exakte Personenbeschreibung liefern können.

Eine Stunde später stellte ich mich in meinem Zimmer vor den Kommodenspiegel und inspizierte mein Gesicht, was sich lohnte, denn diese Inspektion tötete schonungslos alle meine Illusionen: Kopf zu breit, Kinn zu schmal, Nase zu lang, Mund zu klein, Hals zu kurz … Ich war ein Freak mit der Anwartschaft auf die Hauptrolle in einem Horrorfilm! Niemals könnte ich einer Dorfschönheit wie Franzi das Wasser reichen. Mit Schrecken entdeckte ich, dass sich obendrein ein Pickel auf meiner Stirn zu wölben und zu röten begann. Ich riss eine Schere aus meinem Nageletui und begann, mir einen Pony zu schneiden, der, weil er jedes Mal schief wurde, immer kürzer geriet. Ich hätte abwechselnd schreien und heulen können!

Da klopfte es an die Tür und die Stimme meiner Mutter erklang. „Jutta, was lungerst du in deinem Zimmer herum? Komm runter zu uns in den Hof, es ist noch so schön draußen.“

Im Hof waren Papa und Patrick dabei, mit Holzklötzen Markierungen anzubringen, die als Ersatz für Tore dienen sollten. Als Papa mich sah, grinste er über das ganze Gesicht. „Was hast du mit deinen Haaren gemacht? Na, egal, komm her und spiel mit uns eine Runde Fußball.“

Im nächsten Moment war mein Kummer vergessen. Wir kickten mit der Energie von Weltmeistern, und zu meiner Genugtuung stellte ich fest, dass die beiden gestandenen Männer gegen mich kaum eine Chance hatten, an den Ball zu kommen. Patrick war verblüfft.

„Wieso kannst du so gut mit dem Ball umgehen?“

Papa legte ihm die Hand auf die Schulter. „Mach dir nichts draus, Patrick, mein Mädel spielt seit drei Jahren in einer Damenfußballmannschaft – offensives Mittelfeld. Da hast du keine Chance. So, und jetzt gehen wir rein und trinken noch ein Glas Rotwein, das haben wir uns verdient.“

Der Rotwein machte mich müde, so dass meine Eltern nichts dagegen hatten, dass ich mich auf mein Zimmer zurückzog. Mit wirren Gedanken im Kopf legte ich mich in voller Montur auf das Bett und schlief erschöpft ein.

Am nächsten Morgen erwachte ich spät. Als ich in die Küche kam, war Tante Babette schon dabei, das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine zu räumen. „Sie sind alle draußen,“ sagte sie und drückte mir einen Becher Kaffee und ein Croissant in die Hände. Papa saß auf einer Bank und las Zeitung, während Mama die Gießkanne über den Rosenstöcken schwenkte und dazu eine Walzermelodie summte.

Patrick saß etwas abseits auf einem Küchenstuhl. Auf dem Schoß hielt er einen großen Block und zeichnete. Ich ging hin und sah ihm über die Schulter. Unschwer erkannte ich in der Zeichnung Tante Babettes Haus und den offenen Schuppen mit den Gerätschaften.

„Hobby oder Studium?“

„Hobby. Nichts zum Geldverdienen. Mom nennt es „brotlose Kunst“. Sie meint, wer etwas werden wolle, müsse Betriebswirtschaft oder Jura studieren. Ich habe mich für Jura entschieden.“

„Wie lange studierst du schon?“

„Noch gar nicht, ich bin ja erst zwanzig. Bisher habe ich nur Praktika gemacht, weil ich mich in Berkeley beworben habe. Vor einem Monat kam die Zusage, und nach den Ferien reise ich ab nach Kalifornien.“

Mir sank das Herz.

„Hol dir auch einen Stuhl und setz dich mir gegenüber, ich will dich zeichnen.“

Ich fühlte mich wie eine Schlafwandlerin und folgte ohne Widerwort. Kalifornien! Ein ganzes Studium lang!

„Muss ich jetzt stillhalten?“

„Soweit möglich. Aber deinen Kaffee kannst du trinken.“

„Weshalb sitzt du auf einem Küchenstuhl statt auf der Bank?“

„Weil er leicht ist und ich ihn ohne Mühe bewegen kann. So kann ich mit der Sonne und dem Licht gehen, das sich permanent verändert.“

Patrick holte weit aus und setzte schwungvoll einige Striche, aber dann wurden seine Arm- und Handbewegungen immer langsamer und enger.

„Hm,“ sagte er, während er immer wieder aufschaute und mein Gesicht studierte. „Du hast eine hohe Stirn … eine fein geschnittene Nase … die Wangenknochen sind beinahe slawisch … der Schwung deiner Lippen ist ein Traum für jeden Künstler … der Hals …“

„Hör auf damit - du machst dir einen Spaß daraus!“

„Nein, ich meine es ernst.“

Papa kam zu uns und betrachtete die Zeichnung. „Ja, so sieht mein Juttchen aus. Wirklich gut getroffen. Ist sie nicht bildhübsch?“

Mein Gesicht begann zu glühen, und ich war sicher, feuerrot wie Klatschmohn geworden zu sein.

„Du sollst nicht immer ‘Juttchen‘ sagen,“ fauchte ich Papa an, um meine Verlegenheit zu überspielen.

Patrick war aufgestanden und zu mir getreten. „Ich finde ‘Juttchen‘ reizend. Hier, schau!“

Auf dem Block erblickte ich ein Gesicht, dass mir fremd und vertraut zugleich war.

„Ich bitte darum, die Zeichnung behalten zu dürfen. Nicht immer gelingt mir ein Porträt so gut, außerdem wäre es eine schöne Erinnerung.“

Ich nickte sprachlos.

„Der Künstler bedankt sich bei seinem hinreißenden Modell,“ sagte Patrick, neigte sich vor und küsste mich auf die Wange.

Eine Bewegung am Hofeingang weckte meine Aufmerksamkeit. Dort stand Franzi, in der linken Hand einen Korb mit Äpfeln, den sie langsam auf den Boden setzte, ohne die Augen von uns zu wenden. Als sich unsere Blicke trafen, drehte sie sich wortlos um und ging davon.

Am Freitag bat mich Tante Babette, nach dem Frühstück zu ihr ins Schlafzimmer zu kommen.

„Du brauchst etwas Angemessenes für morgen zum Richtfest,“ meinte sie, indem sie ein Prachtstück von einem Kleid aus dem Schrank holte. „Das hier müsste passen.“

„Was ist das? Ein Dirndl?“

„Nein, kein Dirndl, es hat keine Schürze. Es ist ein Landhauskleid, aber ein ganz besonderes. Sieh her: Die Spitzen und Rüschen und die Perlenstickerei … das ist ein Kleid für festliche Anlässe.“

„Es ist wunderschön!“

„Du willst doch hübsch aussehen, wenn du mit Patrick zum Richtfest gehst …“

„Mit Patrick?“

„Hat er’s dir noch nicht gesagt?“

„Aber die Franzi hat ihn doch eingeladen, mit ihr zu gehen.“

„Papperlapapp! Männer laden Frauen ein, nicht umgekehrt. Los, probier’s an!“

„Der Ausschnitt ist zu tief. Das wird Mama nicht gefallen.“

„Überlass das mir, gegen Traditionen kann auch deine Mutter nichts ausrichten.“

Samstag, zwanzig nach drei. Rausgeputzt wie eine Prinzessin stand ich am offenen Küchenfenster und kraulte die Katze, die auf dem Sims in der Sonne lag.

„Er wird nicht kommen.“

„Er kommt,“ erwiderte Tante Babette mit fester Stimme.

„Er hat ja nicht mal gefragt, ob ich mit ihm gehen will.“

„Vertrau mir, er wird kommen.“

„Ich glaube, ich höre Pferdehufe.“

„Schon möglich.“

Patrick! In einem tiefblauen Wagen, gezogen von zwei prachtvollen Schimmeln, fuhr er in den Hof ein, drehte eine Runde und hielt vor meinem Fenster.

„Mylady, erweisen Sie mir die Ehre, mich zu begleiten?“

„Wo hast du das Gespann aufgetrieben? Es ist wundervoll!“

Er grinste verschmitzt. „Königliche Verbindungen …“.

Als wir beim neuen Gemeindehaus ankamen, herrschte bereits Ausgelassenheit. Auf einer Bühne spielte eine Band abwechselnd Stimmungs- und Popmusik, um jedem Geschmack gerecht zu werden.

„Wollen wir etwas trinken? Bei der Hitze könne ich ein Bier vertragen.“

Ich willigte ein und setzte mich an einen der langen Tische, während Patrick zum Ausschank ging, um Bier zu holen.

„Guck mal, Franzi, da sitzt die Jutta und macht auf Edelfräulein. Tut vornehm und unschuldig, dabei hat sie dir den Freier ausgespannt, das niederträchtige Aas!“

Ich drehte mich zum Tisch hinter mir um und sah in das feiste Gesicht von Ursula Baumgart, die wie im Krampf den Stiel ihres Glases umklammerte, in das sie aus einer Flasche Rotwein nachgoss. Neben ihr saß Franzi, die ihr die Hand auf den Unterarm legte und leise sagte: „Lass gut sein, Ursel.“

Aber Ursel ließ sich nicht aufhalten. „Gut? Nichts ist gut!“ keifte sie. „So sind sie alle, die aus der Stadt kommen: Putzen sich raus wie die Paradiesvögel, zwitschern wie die Nachtigallen und hypnotisieren mit ihren Rehaugen die Männer, bis sie den Verstand verlieren. Seht euch doch die Großstadtschnepfe hier an - die mit dem Ausschnitt bis zum Bauchnabel! Die ist mit ihren sechzehn Jahren schon so versaut, aus der wird mal ein erstklassiges Flittchen!“

Franzi stieg die Schamröte ins Gesicht. „Ursel, bitte, hör auf. Zwischen mir und dem Patrick war nichts, und mit der Jutta hat er bestimmt genauso wenig. Die beiden sind nur im selben Haus zu Besuch.“

„Warum nimmst du sie in Schutz? Bevor sie kam, herrschten hier Zucht und Ordnung!“

„Es herrschen auch jetzt Zucht und Ordnung, Ursel.“

„Sag mal, bist du so blöd, oder tust du nur so? Die aus der Stadt halten sich alle für etwas Besseres, die setzen sich nur mit dir an einen Tisch, wenn du ihnen goldene Löffel hinlegen kannst. Ich hasse dieses arrogante Pack!“

Beim letzten Satz sprang sie auf, beugte sich über den Tisch und versuchte, nach meiner Perlenkette zu greifen, aber ich saß zu weit diagonal, so dass sie mich nicht erreichen konnte.

„Ursel, du hast zu viel getrunken,“ sagte ich, so ruhig ich konnte. „Du solltest heimgehen, du hast genug.“

„Und ob ich genug habe,“ schrie sich mich an, „vor allem von dir!“ Dabei hob sie ihr volles Weinglas und schleuderte es mir entgegen. Es traf mich auf der Brust, und der Wein ergoss sich mir bis auf den Schoß. Mit Mühe hielt ich die Tränen zurück. Tante Babettes lang gehütetes Kleid – völlig verdorben!

Franzi packte Ursel fest am Oberarm und sah sich suchend um. „Annette, komm und hilf mir. Die Ursel ist betrunken, sie muss nach Hause.“ Zu mir gewandt sagte sie: „Jutta, es tut mir wirklich sehr leid.“

Ich glaubte ihr, konnte aber nichts sagen, weil mir die Kehle brannte.

„Was ist hier los?“ Patrick stand mit zwei Maß Bier am Tisch und musterte mein Kleid. Da ich den Mund nicht aufbekam, stellte er das Bier ab und eilte hinter Franzi her. Von weitem sah ich, wie Ursel jetzt Patrick beschimpfte und Franzi Mühe hatte, sie mit Annettes Hilfe weiterzuschieben.

Er kam zurück und schnappte wütend die beiden Maß. „Komm, Jutta, wir gehen zum Wagen. Hier ist die Sache gelaufen.“

Zum See vor dem Dorf dauerte die Fahrt knapp zehn Minuten. Wir ließen uns am Ufer nieder, tranken schweigend unser Bier und sahen dabei zu, wie die Schatten länger wurden. So saßen wir eine Viertelstunde, als Patrick wieder zu sprechen begann: „Das mit dem Kleid ist keine Katastrophe. Es gibt heutzutage sehr wirksame Reinigungsmittel.“

Ich traute meinen Ohren nicht. „Typisch Mann,“ dachte ich, „immer sachlich und pragmatisch. Der weiß überhaupt nicht, wie es in mir aussieht.“ Und da verlor ich die Selbstbeherrschung und fing hemmungslos an zu schluchzen.

„Ich weiß, ich weiß,“ beschwichtigte mich Patrick, legte den Arm um mich und zog mich an sich, „wenn diese Frau nur halb so schlimme Sachen zu dir gesagt hat wie zu mir, kann ich mir vorstellen, wie du dich fühlst.“

„Ich fühl mich dreckig. Im Dorf kann ich mich nie wieder sehen lassen.“

„Unsinn! Du wirst wieder ins Dorf gehen, und ich auch. Wir werden zusammen gehen.“

Dann beugte er sich zu mir herab, küsste mir die Tränen von den Augen und drückte mir sanft seine Lippen auf den Mund. Mir war, als hörte ich meine Schläfen pochen, aber später war ich mir nicht mehr sicher, ob das Geräusch nicht doch aus dem nahegelegenen Wald kam. Patrick lächelte mich an, dann küsste er mich wieder, intensiver, dringender, verlangender …

„Du willst doch nicht …?“

„Nein, Juttchen, nein. Aber streicheln und küssen, küssen und streicheln, das dürfen wir doch, oder?“

Es wurde der aufregendste Abend meines Lebens.

„Jutta!“

Ich schrecke auf.

„Fang endlich mit deinem Aufsatz an! Was ist los mit dir?“

„Äh … nichts. Schon gut.“

Ich schlage mein Heft auf, setze die Federspitze auf das Papier und schreibe:
Eine Woche vor Beginn der Schulferien hatten meine Eltern bereits alle Reisevorbereitungen getroffen, …
„Jutta,“ unterbricht mich Dr. Seibold, „willst du nicht erst einen Entwurf schreiben?“

„Nicht nötig, Dr. Seibold,“ antworte ich und tippe mit dem Zeigefinger an meine Stirn, „den Entwurf habe ich bereits fertig – hier oben drin.“

27.02.2016
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.02.2016, 22:32   #2
männlich Gylon
 
Dabei seit: 07/2014
Beiträge: 4.269


Liebe Ilka-Maria,
deine schöne Geschichte hat mich heute Abend wesentlich besser unterhalten als das Fernsehprogramm. Daumen hoch!

Liebe Grüße Gylon
Gylon ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.02.2016, 23:49   #3
weiblich Ilka-Maria
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Ort: Arrival City
Beiträge: 31.111


Dann war es die Arbeit schon wert.

Lieben Gruß
Ilka
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.02.2016, 16:00   #4
männlich Nöck
 
Benutzerbild von Nöck
 
Dabei seit: 12/2009
Ort: In den Auen des Niederrheins
Beiträge: 2.662


Da ist dir eine interessante und kurzweilige Geschichte mit einem schönen Spannungsboden gelungen. Ich gratuliere.

LG
Nöck
Nöck ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.02.2016, 17:23   #5
weiblich Ilka-Maria
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Danke schön, lieber Nöck.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
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