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Alt 19.01.2019, 22:06   #1
männlich Ex-Ralfchen
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Standard Zukunft 3

Zukunft 3

Am ersten April des Jahres 2126 hatte ich glücklicherweise ein neues Zuhause gefunden. Eigentlich hatte ich es erzwungen. Ich hatte den letzten Oberdenker im Haus der Enteinigung in die Irre geführt. Seine Fragen kontra-diffizil beantwortet. Was mit meiner Auslieferung aus der Rudimentstadt Hyroglyphopolis endete. Ich war an einen Ort gekommen der viele Spiegelungen hatte. Er war subreal. So wie ich es geworden bin.

Am 1. April 2133 stehe ich wie jedes der vergangenen Jahre am Ende der Allee und blicke hinab zu ihrem Anfang. Es ist als würde ich in eine Narrenschatulle starren. Links und rechts ragen graue blattlose Bäume hoch in den undurchsichtigen Morgenhimmel. Ich denke nie darüber nach, ob er heute ein sonniger oder wolkiger Himmel werden soll. Warum auch - das wäre unverfroren und realitätsentträumt.

Ich habe die kleine grüngelbe Wetter-Amphibie in meiner Rastkammer zurückgelassen und ich werde zunächst für einige Momente in dieser Ungewissheit verharren. Diese kleine Alkaloid-Spenderin wird mein vorsichtiges Lecken an ihr wohl vermissen. Ich blicke nicht mehr nach oben, zu einem Himmel der nicht mehr gesehen werden darf.

Die Bäume haben im Laufe vieler Dekaden ihre blattlosen dorrigen Äste vor dem harschen Wind verbeugt und wie es mir düngt - sanft - da ein wenig mehr und dort etwas weniger, zueinander geneigt. Sie bilden einen leblosen sich öffnenden Dom zum Firmament unseres absterbenden Planeten. Der Wind läßt sie zueinander knisternd raunen.

Es sind Bäume, die den Pappeln aus einer anderen Zeit sehr ähnlich sind. Wir nennen sie nunmehr mit keinem Namen.

Ich stehe also hier, betrachte die tote Allee - und schaue, noch einmal versonnen in die obersten Äste dieser genialen Statiker einer verstorbenen Natur.

Dann fokussiere ich das Ende der Allee und bewundere die Perspektive, welche die Baum-Reihe am unteren Ende zwingend eng aussehen lässt, so als könne man sich dort unten zwischen den Bäumen kaum noch hindurchzwängen.

Stünde ich dort zuunterst, ich nähme - zurückblickend an den dann zum Anfang gewordenen Teil der Allee - den gleichen perspektivischen Effekt wahr. Daraus ergibt sich für mich plötzlich wieder eine vergessene Erkenntnis - kein Naturgesetz, wohlgemerkt:

Diese Allee hat weder ein Ende noch einen Anfang. Jedes ihrer Enden ist auch ihr Anfang, abhängig davon, wo man sich gerade befindet. Diese irrige Erkenntnis – typisch für die verschrobene Denkweise der Menschen aus einer lange vergangenen Epoche – besagt, dass eine Gerade keinen Anfang und kein Ende hat. Wie ein Kreis oder Lichtstrahl.

So wie man sich in einem Kreisverkehr ewig bewegen kann, ohne jemals an einen Anfang oder ein Ende zu gelangen, geht dies auch auf einer Geraden, wie etwa der Allee, an deren oberen Anfang und Ende ich mich nun befinde.

Ich blicke zurück und werfe einen vorletzten Blick auf das Gebäude mit seiner eigenartigen Architektur. Es würde die Menschen der Vergangenheit, der Zeit vor dem Zwischenende wahrscheinlich befremden. Es ist eine Art Mausoleum für überkranke Denker. Wir nennen es ein Insaneum.

Ich selbst wurde gestern als gesund entlassen und musste in symbolischer Art und Weise, die letzte Nacht auf dem harten Boden meiner kleinen Kemenate verbringen. Nun stehe ich hier, mit zwei ziemlich prallen Reisetaschen, die all meine Habseligkeiten, hauptsächlich Unter- und Oberkleidung - enthalten. Was bin ich nun endlich, ein Gesunddenker oder Klarer, wie die meisten auf dieser Welt?

Ein Frage bewegt mich nun und ich beginne zu zaudern, weil mich dabei sofort eine grenzenlose Unsicherheit erfasst: Werde ich das Ende dieser Allee - oder schon ein wenig davor - mit meinen Reisetaschen passieren können? Seit den Jahren meiner ersten Entlassung stehe ich immer wieder vor demselben Problem: Am Ende jedes dieser Jahre wurde ich als Gesund-Denker – also - als Klarer in die Allee geführt um sie durch zu schreiten. Allerdings kehrte ich jedes Mal auf halbem Weg um und schritt zurück zum ewigen Ende, oder Anfang - wie man will. Retour in die Sicherheit meiner kleinen Schlaf-Wabe.

Nein: dieses Mal werde ich die Unsicherheit und Angst nicht auf mich nehmen.

Die rätselvolle Denkerin steht auf der untersten Stufe zum Emporium des Insaneums. Sie trägt ein langes schimmerndes Kleid aus einem feinen glitzernden Material, ähnlich jenen, die Frauen zu Festveranstaltungen in vergangenen Epochen trugen. Die zarte Textur fächelte zitternd in der lauen Morgenströmung. Ihre hellblonden Haarsträhnen flatterten zausig um ihren makellosen Hals und ihre Wangen - und verdecken dabei Teile ihrer schönen Physiognomie. Ich nehme wahr, dass sie lächelt.

Sie winkt mir einladend zu. Ich lasse meinem Rippenkorb ein kurzes Seufzen entweichen: Immerdar werde ich ihr Besitztum sein: Ein gefallener Denker - im Besitz aller Unwahrheiten.
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