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Alt 08.05.2018, 15:35   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Die alte Fabrik. Teil 4: Melanie

Moritz saß auf Theos Couch und hielt den Schuhkarton, der Melanies Briefe enthielt, auf dem Schoß. Als er den Deckel abnahm, hob er die Augenbrauen.

„Da ist aber hübsch was zusammengekommen.“

„Genau dreiundachtzig Briefe.“

Theo stellte Moritz eine Tasse mit dampfendem Kaffee auf den Clubtisch und setzte sich in den Sessel, der rechtwinklig zur Couch stand. Er wollte sich nicht direkt neben Moritz setzen, ihm aber nah genug sein, um in den Karton sehen zu können, falls Moritz sich an einzelnen Briefen zu schaffen machen sollte. Sein Innerstes begann zu rebellieren, als Moritz tatsächlich, und scheinbar wahllos, Briefe aus dem Karton griff und vor sich auf den Tisch legte. Warum hatte Theo nicht daran gedacht, auf den Umschlägen das Datum oder eine laufende Nummer zu notieren, um sie jederzeit wieder chronologisch ordnen zu können, ohne dazu die Briefe herausziehen zu müssen?

„Dreiundachtzig. Eine ungewöhnliche Menge für zwei Jahre, finden Sie nicht, Herr Neumann?“

Theo sah Moritz verständnislos an.

„Ich meine, wenn das Liebesbriefe wären, könnte ich ja …“

Theo ließ ihn nicht aussprechen. „Wenn jemand zwei Jahre lang Liebesbriefe schreibt, sind das zweimal dreihundertfünfundsechzig Briefe, also mehr als siebenhundert. Für gewöhnlich sind sie mit Schleifchen umwickelt und liegen gebündelt neben- oder übereinander. Dreiundachtzig Briefe in zwei Jahren sind dagegen …“

„… für Sie völlig normal, ich verstehe.“ Moritz konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Sie sind ja ein Romantiker, Herr Neumann.“

Theo war nicht zum Scherzen zumute. „Hören Sie, Herr Fuchs. Ich bin nicht Melanies Liebhaber, sondern ihr Vater. Wir haben ein gutes Verhältnis seit dem Tag, an dem sie mich zum ersten Mal „Papa“ nannte. Warum sollte sie mir nicht regelmäßig schreiben? Ihre Briefe beruhigen mich. Sie beweisen mir, dass sie das Richtige tut, weil …“

Moritz entging nicht, dass Theos Stimme bei seinen letzten Worten flacher wurde. Sie klangen nicht überzeugend. Als das Ende des Satzes in der Schwebe blieb und Theos Mimik zu arbeiten begann, hakte Moritz ein.

„Herr Neumann, Sie haben Zweifel. Sie haben Angst, dass etwas mit den Briefen nicht stimmen könnte. Seit zwei Jahren haben Sie zu Ihrer Tochter keinen persönlichen Kontakt. Sie haben nur diese Briefe erhalten, die nicht handgeschrieben sind …“

„Aber von ihr unterzeichnet.“

„Können Sie sich vorstellen, Herr Neumann, wie lange ein Mensch braucht, um einen Schriftzug von fünf Buchstaben so einzuüben, dass er vom Original nicht mehr zu unterscheiden ist?“

Moritz entfaltete einen von Melanies Briefen, schlug seinen Notizblock auf, nahm seinen Kugelschreiber und kopierte dreimal „Melly“ auf eine freie Seite. Theo starrte auf das Ergebnis. Als er aufblickte und Moritz ansah, signalisierten seine Augen einen Anflug von Hass.

„Warum willst du mich fertigmachen, Fuchs? Was hast du davon?“

Moritz ging darüber hinweg, dass Theo von der Sie- zur Du-Ebene übergegangen war.

„Nichts, Herr Neumann. Sie müssen mir helfen. Alles, was ich will, ist, einen Fall aufzuklären und einen Täter dingfest zu machen.“

„Nein, das wollen Sie nicht. Sie wollen, dass ich glaube, die Knochen in dem alten Gemäuer gehören zu meiner Melly! Aber das stimmt nicht. Ich weiß, dass sie lebt.“

„Was macht Sie so sicher?“

„Ich habe sie gesucht. Ich war bei ihr.“

Moritz ließ sich in die Rückenlehne der Couch fallen. „Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Wo und wann war das?“

„Vor ungefähr einem Jahr. Ich hatte Melly in Paris vermutet, wohin sonst geht ein junger Künstler in Frankreich. Ich klapperte die Künstlerszenen ab und zeigte Fotos von ihr herum. Zwei Typen erkannten sie.“

„Und weiter?“

„Sie kannten ihre Adresse nicht.“

„Haben Sie die Namen dieser Leute - Visitenkarten?“

Theo schüttelte den Kopf. „Ich kann kein Französisch. Wie hätte ich denn genauer nachfragen können? Sie guckten auf Melanies Foto, nickten, gaben mir Drinks aus, klopften mir auf den Rücken und sagten etwas Freundliches, irgendwas mit ‚bonheur‘“.

„Sie haben Melanie also nicht gefunden, und Ihnen ist auch nicht die Idee gekommen, dass diese Leute vielleicht gar nicht verstanden, was Sie von ihnen wollten. Dass Sie zum Beispiel stolz auf ihre neue hübsche Eroberung sein könnten, was durchaus ein ‚bonheur‘ wert gewesen wäre?“

Theo blickte ins Leere und gab keine Antwort.

Während des Gesprächs hatte Moritz immer mal einen der ausgesuchten Briefe aus den Umschlägen gezogen und auf jeden einen kurzen Blick geworfen, um sich zu überzeugen, dass keiner davon handgeschrieben war. Mehr jedoch interessierte ihn, ob die Briefe datiert waren, und er stellte zufrieden fest, dass dies der Fall war. Er legte sie in den Karton zurück und drückte den Deckel drauf. Dann stellte er eine Quittung aus und reichte sie Theo.

„Herr Neumann, ich muss den Karton mitnehmen, damit wir den Inhalt der Briefe auswerten können. Er könnte wichtige Hinweise enthalten, die uns vielleicht helfen, Ihre Tochter zu finden. Sie bekommen die Briefe selbstverständlich zurück.“

Theo ließ es wortlos geschehen.

„Sie sind nicht einmal sicher, ob Melanie Paris oder eine andere Stadt in Frankreich zum Ziel nahm. Sie hatten ein gutes Verhältnis zu ihr, aber solange ihre Mutter lebte, konnte sie zu Ihnen nicht restlos offen sein, weil sie wusste, dass Sie zwischen zwei Stühlen saßen.“

Die Worte, die Moritz beim Gehen hinterließ, hallten in Theo nach. Er versuchte, sich mit einer Flasche Bier und ein paar Schnäpsen zu beruhigen, und als das nicht half, mit einer weiteren Flasche Bier und noch mehr Schnäpsen. Als er gegen zwei Uhr morgens genug hatte, taumelte er ins Schlafzimmer und fiel, ohne sich entkleidet zu haben, ins Bett.

Am nächsten Morgen machte er sich drei Humpen starken Kaffees, schluckte zwei Aspirin gegen seine Kopfschmerzen, duschte, putzte sich die Zähne, rief die Personalabteilung seines Arbeitgebers an, um sich Sonderurlaub genehmigen zu lassen, und buchte im Internet ein TGV-Ticket nach Paris.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.05.2018, 18:24   #2
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Zitat:
.Können Sie sich vorstellen, Herr Neumann, wie lange ein Mensch braucht, um einen Schriftzug von fünf Buchstaben so einzuüben, dass er vom Original nicht mehr zu unterscheiden ist?“

Moritz entfaltete einen von Melanies Briefen, schlug seinen Notizblock auf, nahm seinen Kugelschreiber und kopierte dreimal „Melly“ auf eine freie Seite. Theo starrte auf das Ergebnis. Als er aufblickte und Moritz ansah, signalisierten seine Augen einen Anflug von Hass.
Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, dass es so einfach sein soll mit der Unterschrift.

Der letzte Abschnitt lässt mich etwas ratlos zurück. Was will Theo nochmal in Paris, wenn er doch schon da war und nichts herausgefunden hat? Er hat keinen neuen Anhaltspunkt, keine neue Hoffnung oder einen Lichtblick, zumindest kommt das in der Geschichte nicht rüber. Das fehlt, um glaubhaft zu vermitteln, warum er nochmal nach Paris fährt. Besser französisch wird er inzwischen auch nicht können, hier könnte man einen Dolmetscher erfinden (Bekannter, Verwandter, Freund, Arbeitskollege), der mitfaehrt. Damit die erneute Fahrt einen Sinn macht.

Oder Theo weiß etwas, was er Moritz nicht gesagt hat. Aber auch das kommt in der Geschichte nicht zum Ausdruck.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.05.2018, 20:30   #3
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, dass es so einfach sein soll mit der Unterschrift.
Das bekäme ich nach max. drei Minuten Übungen hin.
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Alt 17.05.2018, 18:25   #4
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Ich habe noch etwas zu bemängeln.

Was mir außerdem noch aufgefallen ist:

Dieser Teil wird gar nicht aus Melanies Sicht erzählt, obwohl der Titel das nach den ersten drei Teilen so suggeriert.
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.05.2018, 19:25   #5
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Dieser Teil wird gar nicht aus Melanies Sicht erzählt, obwohl der Titel das nach den ersten drei Teilen so suggeriert.
Eine Überschrift besagt nichts über die Sichtweise einer Figur, sondern dass sich das Kapitel um diese Figur dreht. Der Erzähler bleibt immer derselbe. Hier handelt es sich um einen auktorial Erzählenden. Die Überschriften sind allein der Struktur geschuldet. Man könnte sie weglassen.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
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