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Alt 13.12.2018, 20:01   #1
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Standard Irgendwas mit Flugzeugen und Wein

Irgendwo ist irgendein Flugzeug abgestürzt.

Seine Handy klingelte, obwohl er es eigentlich stumm geschaltet hatte. In der Verwirrung achtete er nicht auf die Nummer sondern ging von einer inneren Panik getrieben einfach ran:

„Hallo“ sagte sie augenblicklich, als er das Handy ans Ohr hielt. Er kannte die Stimme irgendwoher, aber es war seltsam ungewohnt sie zu hören. Und es erschien ihm ungewohnt seltsam, dass die Stimme so selbstbewusst klang. Der Regen um ihn herum, dort am kleinen Bahnhof, verstummte. Aber man hörte haltlose Böen am anderen Ende der Leitung. Er grüßte auch zaghaft und fragte dann, wer da sei.

„Ich bin’s.“ Die Antwort reichte ihm irgendwie. Er nickte und als ob sie das abgewartet hätte, sagt sie mit der Stimme einer strengen, liebevollen Mutter „Du musst mir bitte einen Gefallen tun.“ Er nickte abermals. Sie wusste, er stand in ihrer Schuld und im Regen.

Doch noch bevor er fragen konnte, was eigentlich los war, erkundigte sie sich „Ich hoffe ich störe dich nicht. Hast du gerade etwas vor?“ Er hatte das Gefühl ihr süßes Lächeln hören zu können. Dann schaute er sich um. Er saß an diesem Bahnhof, konnte sich aber nicht daran erinnern, warum. Also behauptete er schlicht, er sei nur zu Hause, täte nichts, sei allein. Am Bahnhof waren aber viele Menschen.
Kalt, nass, zitternd blickte er auf die Schienen. „Oh schön. Danke vielmals!“ flüsterte sie. „Das habe ich mir beinahe gedacht.“

Auch wenn das alles sehr merkwürdig war, worüber er sich mehr als klar war, machte er mit, hinterfragte nur in seinem Kopf. Die Erinnerung kam zurück, er war wohl nur ziellos durch diese öde Kleinstadt geschlendert. Also konnte er genauso gut diesem niedlichen Mädchen helfen. Das fühlte sich richtig an.

„Also du kannst es sagen, wenn du es nicht tun willst. Das kann ich verstehen. Es hört sich verrückt an. Als erstes müsstest du Wein kaufen. Hinten im Supermarkt. Zwei Flaschen. Rot, bitte.“ Es war verrückt. Er erwiderte, er habe gar kein Geld dabei. Sein Portemonnaie befand sich normalerweise in seinem Rucksack. Der war nicht auf seinem Rücken, also schien er heute wieder nicht in der Schule gewesen zu sein.

„Klau‘ sie doch“ kicherte sie. „Nein, nein. Ich glaub‘, ich habe meine Tasche in der Gasse neben dem Markt vergessen.“ Sofort hatte er dieses Bild im Kopf, diesen Jutebeutel, wie er dort im Regen liegt. Also ging er in die vermutlich richtige Richtung los. „Ruf mich bitte wieder an, wenn du sie gekauft hast, ok?“ Er nickte nur und ging weiter.

Der Beutel lag da, offensichtlich schon länger. Ein Wunder, dass niemand aufgeräumt hatte. Dass er völlig durchnässt war, war ihm egal. Ohne zu überlegen öffnete er die Tasche und holte ein einfaches, schwarzes Portemonnaie heraus. Außerdem fand er darin eine Streichholzschachtel, die beim Schütteln preisgab, dass sich darin keine Streichhölzer befanden. Als er sah, dass es Tabletten waren, steckte er das Schächtelchen auch schnell ein, ließ den Jutebeutel aber liegen.

Kurz überlegte er, ob er sie anrufen sollte, wollte dann aber lieber schnell den Wein kaufen.

Mit den zwei Flaschen in einer Plastiktüte in der Hand verließ er den Laden wieder. Es klingelte erneut sein Telefon, selbstverständlich war sie es.
„Hat alles geklappt?“ Er nickte. „Gut.“ Stille.

„Jetzt musst du mir gut zuhören. Ich kann gleich nämlich nicht mehr telefonieren. Du gehst bitte dorthin, wo du mich das erste mal getroffen hast.“ Er sagte, er könne sich nicht erinnern. Er traute sich nicht, ihr zu sagen, er könne sich auch nicht an sie erinnern.

„Ach komm schon! Wie kannst du das vergessen? Ich hab’s nicht vergessen. Der kleine Weg neben meinem Haus. Hinter der Bushaltestelle.“ Mehr als alles andere in diesem kleinen Moment interessierte ihn, wohin dieser Weg führt, fragte also danach.
„Na in den Wald. Aber das ist doch eigentlich auch egal. Also dort findest du mich. Versuch gar nicht erst mich anzusprechen. Trag mich einfach ins Haus, leg mich in die Badewanne und füll sie mit dem Wein. Verstanden?“ Sie fragte das zwar, legte aber sofort auf. Er wurde panisch, versuchte zurückzurufen. Natürlich ging sie nicht ran. Also lief er, lief schnell. Immer weiter in die vermutlich falsche Richtung. Ein plötzlicher Schmerz schoss ihm durch den Kopf. Blut tropfte aus seiner Nase. Es war wohl die falsche Richtung.
Einatmen, ausatmen. Dann ging er zu ihr, er kannte den Weg. Verängstigt und nass, zitternd blickte er um sich. Schon seit Ewigkeiten hatte er keinen Menschen mehr gesehen, aber der Regen ließ nach.

Er war überhaupt nicht darauf gefasst, was ihn auf diesem sandigen, so bekannten Weg erwarten würde. Als er das Mädchen, nackt und regungslos, erblickte, dreht er sich noch einmal in Richtung der alten Bushaltestelle. Hier war er früher auch immer eingestiegen. Aber der Schmerz wurde stärker mit jedem Augenblick, in dem er nicht das Mädchen ansah. Schließlich überwindete er jede Hürde seines Verstandes, lief hin und fühlte ihren Puls. Seiner war auf jeden Fall schneller. Sie lag da, als würde sie gleich aufstehen. So kraftvoll, voller Mut. Der völlig unversehrte, weiche, blasse Körper wirkte so unendlich unecht. Sie war perfekt.

In der Angst, jemand könnte kommen, zog er schnell seine durchnässte Jacke aus und hüllte sie darin ein. Nach Sekunden oder Minuten des Zweifels hob er sie vorsichtig hoch und ging wieder in Richtung Straße. Noch immer war niemand zu sehen, es regnete inzwischen nicht mehr.

Die Haustür ihres Hauses, seines Nachbarhauses, stand ein wenig offen. Auf seine Rufe reagierte nicht einmal die Stille. Schnell fand er das Badezimmer, durchsuchte die anderen Räume nicht weiter. Er legte sie behutsam in die Badewanne und platzierte ihre Extremitäten so, als würde sie ein entspannendes Schaumbad nehmen. Er war verrückt. Wie in Trance nahm er die erste der billigen Weinflaschen, öffnete den Schraubverschluss und ließ den Saft in die Wanne laufen.

Die Flasche wurde erst leer als seine Arme schon müde die gesamte Wanne gefüllt hatten. Das Mädchen, sie, war bis zu ihrem Gesicht vom Rotwein umgeben. Ihre blonden Haaren schwebten darauf. Das Warum war für ihn nur noch ein Weshalb.

Noch ein paar Minuten oder Stunden saß er da, starrte sie an. Irgendwann verstand er, dass nicht passieren würde. Sie würde sich nicht regen. Und das war in Ordnung. Er war nicht verrückt. Als er irgendwann gehen wollte, sah er einen kleinen Zettel an der Haustür kleben. „Danke!“ stand darauf.
„Bitte“ flüsterte er, das meinte er auch so.
Er setzte sich in Bushaltestelle. Die Sonne schien und kein Mensch war zu sehen. Er nahm einen Schluck vom Wein, dann schluckte er eine der Pillen aus der Streichholzschachtel, dann nahm er einen Schluck vom Wein, dann schluckte er eine der Pillen aus der Streichholzschachtel, dann nahm er einen Schluck vom Wein, dann schluckte er eine der Pillen aus der Streichholzschachtel. Seine kleine Tradition für die nächsten 11 Minuten.

Irgendwo ist irgendein Flugzeug abgestürzt?
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