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Alt 01.08.2017, 13:27   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Spieglein, Spieglein ...

Vanessa sieht in den Kommodenspiegel, streicht ein Haar aus dem Gesicht und prüft, ob die Ohrstecker richtig sitzen. Sie nimmt einen Lippenstift und zieht die Konturen ihres Mundes nach. Nachdem sie die Lippen aufeinander gepresst hat, prüft sie nochmal ihr Spiegelbild und ist derart von sich angetan, dass sie nach ihrem Smartphone greift und ein Selfie von sich macht. Seufzend legt sie das Smartphone zurück auf die Kommode. Tausend Gedanken geistern ihr durch den Kopf.

Ich sehe toll aus. Wie lange ist es eigentlich her, seit ich zur „Miss“ an meiner Schule gekürt wurde? Schon über zwanzig Jahre? Was soll’s, niemand sieht mir mein Alter an. Oliver war damals hin und weg von mir. Alle Mädchen wollten ihn haben, vor allem diese Ursel, die sich schon mit dreizehn die Haare blond färbte und auf Marilyn Monroe machte. Den Oliver kriegte sie nicht, aber vom Englischlehrer immer eine Note besser als sie verdient hätte. Das fiel zuletzt selbst dem Dümmsten in der Klasse auf, der seine Witze über ihre tiefen Ausschnitte und das „Holz vor der Hütte“ machte. Dafür bekam er seitdem eine Note schlechter als er verdient hätte, was ihm egal war, weil er wusste, dass er sowieso sitzen bleiben würde.

Als Oliver mir den Hof zu machen begann, war ich bei den Mädels unten durch. Nur bei einer nicht, der dicken Hanne, diesem hässlichen Trampel. Die konnte aus der Not eine Tugend machen, weil sich nach ihr kein Junge den Hals verrenkt hätte. Nicht mal diejenigen, die sie abschreiben ließ, denn Hanne war die Klassenbeste. Die Ungerechtigkeit der Natur konnte einen jungen Menschen vor Gram umbringen!

Oliver hätte sich lieber eine Glatze rasieren lassen, als sich von Hanne abhängig zu machen. Abzuschreiben wäre ihm gegen die Ehre gegangen. Dabei hätte er es auf mehr als den Durchschnitt bringen können, wenn er nicht stinkefaul gewesen wäre. Er verließ sich einfach auf die Gunst des Augenblicks und kam damit recht gut durch.

Olivers größter Vorzug war, dass er umwerfend aussah: großer Schlacks, sportliche Figur (Note 1 am Barren!), weit auseinanderstehende, tiefblaue Augen, dichte Wimpern, blondes, dickes Haar, das ihm in die Stirn fiel, hohe Wangenknochen, Grübchen im Kinn – ein Traum! Als er mich zum ersten Mal küsste – womit er mich solange warten ließ, dass ich ihm in der Eisdiele eine Szene machte, um ihm auf die Sprünge zu helfen -, gingen für mich tausend Türen auf.

Zu Beginn des letzten Schuljahres packte Oliver der Ehrgeiz, denn er hatte es sich in den Kopf gesetzt, Arzt zu werden. Das verhalf ihm zu einem guten Abgangszeugnis, reichte aber nur noch für eine Bankenlehre. Als er mit der Ausbildung fertig war, gingen wir seit vier Jahren miteinander. Dann wurde ich schwanger.

Wir heirateten im zweiten Monat meiner Schwangerschaft und richteten eine Wohnung ein. Unsere Eltern schossen Geld in unseren jungen Hausstand, den Rest bewältigten wir auf Stottern, wie man früher sagte. Oliver war altmodisch genug, mich auf seinen Armen über die Schwelle zu tragen, was ihn bis an den Rest seines Lebens fertig gemacht haben muss, denn von da an schaffte er es nur noch mit Mühe, seinen eigenen Körper über die Schwelle zu hieven.

Seit das Baby da ist, kommt Oliver immer seltener nach Hause. Inzwischen weiß ich auch den Grund. Oder anders gesagt: Ich weiß, wo er sich hingezogen fühlt. Denn was ich falsch gemacht haben könnte, weiß ich nicht.

Ich sehe nicht nur toll aus, ich bin schön. Ich weiß, dass ich schön bin. Ich bin gepflegt. Schlank. Kultiviert. Eine gute Mutter. Eine gute Hausfrau. Ich bügele Olivers Hemden, ohne Bügelfalten hinein zu plätten. Ich kann kochen und backen, Gäste unterhalten, komme mit den Nachbarn aus und vergesse nie, das Treppenhaus zu putzen, wenn ich dran bin. Ich höre Oliver zu, wenn er Kummer im Job hat, und ich kaufe kostenbewusst ein. Ich bin sparsam und nähe und häkele Babykleidung selbst. Und ich bin treu.

Ich habe absolut nichts an mir auszusetzen. Trotzdem geht Oliver zu dieser Schlampe. Als ich dahinter kam, weinte ich. Sie ist nicht schön, wandte ich ein, um an Olivers Schuldgefühle zu appellieren und ihm die Beziehung zu vermiesen. Er nickte.

Sie ist unordentlich, ungeschminkt, geschmacklos angezogen, ungebildet und außerdem zehn Jahre älter als du. Oliver nickte.

Kein Mann mit Stil würde sich mit einem solchen Flittchen abgeben. Ich sagte dies in höchster Erregung, doch Oliver schüttelte den Kopf.

Das stimme nicht, entgegnete er, jeder Mann wolle sie haben. Sie sei nicht perfekt im Sinne des Alltags, aber sie habe Herz und sei der Inbegriff der Sinnlichkeit. Sie sei imstande, auf den Grund des Seins zu sehen. Ein Geschöpf, das mit sich und der Welt eins ist.

Seine Worte klangen für mich nach böhmischen Dörfern, die nach dem pseudo-philosophischen Bauplan eines Klugscheißers errichtet wurden. Bis heute kann ich nichts mit ihnen anfangen. Real fassbar ist für mich, dass ich attraktiv genug bin, um die Avancen meines Nachbarn aus der Wohnung gegenüber abwehren zu müssen, dass Oliver seit drei Monaten nicht mehr mit mir geschlafen hat und dass unser Baby schreit, das ich zu hassen beginne, weil es mich daran hindert, davonzulaufen.
Vanessa hält die Tränen zurück. Sie greift nach einer Perlenkette und legt sie um. Ich bin schön, bestätigt sie sich trotzig, als sie sich im Spiegel betrachtet. Alle anderen Gedanken sind verflogen. Sie steht auf und geht zur Kinderzimmertür, um nach dem Baby zu sehen, das ihre Liebe fordert.

01.08.2017
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.08.2017, 12:28   #2
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Unterhaltsam und flüssig geschrieben, aber ich verstehe die Moral der Geschichte nicht ganz.
Alles richtig gemacht und trotzdem reingefallen?
Oder: Frau mit Herz schnappt der Schönen den Mann weg, weil...?
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.08.2017, 13:17   #3
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Alles richtig gemacht und trotzdem reingefallen?
So ist es, Silbermöwe.

Komisch, dass gerade heute das Thema "Gewalt in Beziehungen" durch die Presse geht. Wenn über die Leidensgeschichten der Geschädigten berichtet wird, beginnen diese immer so: " .... Am Anfang war alles wunderschön ..."

Das sind natürlich die Extremfälle. Aber auch bei den Beziehungen, die "normal" auseinandergehen, ist es nicht anders. Wäre es am Anfang nicht topp gewesen, wären die Paare nicht zusammengekommen.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.08.2017, 08:37   #4
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Liebe Ilka-Maria,

die Auflösung gefällt mir auch besser. Ich hatte gestern noch überlegt, ob du es wirklich so banal meinen könntest, dass nur eine "Frau mit Herz" auftauchen muss, um die Ehefrau ins Abseits zu drängen. So im Stil: "Die Ehefrau ist zwar schön und in jeder Hinsicht perfekt, aber ihr fehlt halt Herz und darauf kommt es an".
Die Erklärung wäre mir für eine Geschichte ein wenig zu dünn gewesen.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.08.2017, 08:51   #5
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Die Erklärung wäre mir für eine Geschichte ein wenig zu dünn gewesen.
Das empfindest du ganz richtig. Spannend würde es erst, wenn sich die "Frau mit Herz" schließlich doch nicht als liebenswert erwiese.

Im wirklichen Leben geht es sogar noch banaler zu.

Übrigens ist das ein Motiv, das häufig in Filmen zu sehen ist, wie z.B. bei Woody Allen und in einer Fernsehproduktion mit Iris Berben und Hannelore Elsner. Manchmal geht es auch umgekehrt zu, dass dem Mann die Ehefrau nicht perfekt genug ist und ihre Nachlässigkeit ihn mit den Jahren nervt. Dann sucht er sich Fräulein Saubermann, wie z.B. in einem Theaterstück, das mit Anthony Quayle verfilmt wurde.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.08.2017, 11:10   #6
Thing
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Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
. Dann sucht er sich Fräulein Saubermann, wie z.B. in einem Theaterstück, das mit Anthony Quayle verfilmt wurde.
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Frau_im_Morgenrock

Den hab ich gesehen.
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 05.08.2017, 12:23   #7
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Und ich suchte in solchen Filmen ständig nach einem sinnvollen Hintergrund. Dabei waren sie tatsächlich einfach nur langweilig....
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
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