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Alt 22.05.2007, 09:37   #1
rollingstoned
 
Dabei seit: 05/2007
Beiträge: 29


Standard fünfeinhalbjahre

Bin für jede Kritik dankbar für die auch ihr dankbar wärt..



fünfeinhalbjahre


Der Abend beginnt nicht gerade vielversprechend. Geburtstag einer Freundin.
Einer Freundin MEINER Freundin.
Silke und ich laufen um das Haus herum (Bj. ´83, Doppelhaushälfte) zur Eingangstür. Als diese aufgeht begrüsst uns die Mutter besagter Freundin mit einem etwas übertriebenen Lächeln. Es wirkt auf mich wie eine Maske, wie Tarnung - wie eine gewohnheitsmässig aufgeführte Täuschung.
Sie schleudert uns ein langgezogenes „Hyyyyyhhh!“ entgegen und wir reagieren angemessen. Der Vater unserer (IHRER) Freundin kommt gerade die Treppe herunter. Ein kleiner Mann von vielleicht 45 Jahren, untersetzte Figur, graumelierter Schnäuzer. Er trägt eine runde, fassungslose Brille und Sandalen. Ich kenne ihn, kenne seine Frau, kenne die Zimmer ihrer Kinder - von damals. Im Moment scheint all dies so weit weg zu sein, wie aus einem anderen Leben. Dabei spreche ich von nur fünfeinhalb Jahren.
Silke ergreift zuerst das Wort, dem folgen allgemeine Hallo Formeln. „Hadiesindochscholangweg!“ informiert der Vater und „DiewolltedochindROFAgehen.“
Letzteres lässt einen kleinen Hoffnungsschimmer in mir keimen. Dort wäre es bei weitem einfacher, mich (zumindest für eine gewisse Zeit) von dieser Gesellschaft abzusetzen, nochmal alles abzuwägen. Ein alter Rockschuppen: dunkel, laut und anonym. Der Gedanke gefiel mir.
Als Silke etwas ungeordnet erwidert: „Aber ich dachte dass..“ kommt Manuela, das Geburtstagskind, geradewegs durch die Wohnzimmertür. Sie richtet ihre ganze Aufmerksamkeit auf Silke und beide, als hätten sie sich abgesprochen, beginnen mit diesem Wir-ham-uns-so-lange-nicht-gesehn-Ding. Ihre Stimmen scheinen sich in einer aufwärts gerichteten Spirale zu befinden, schwellen an als wollten sie verhindern dass das Gegenüber seine brandheissen Neuigkeiten als erste los wird. Silke gewinnt. Währenddessen stehe ich immer noch vor der Tür, lache über den (viel zu gut) geglückten Scherz und fühle mich irgendwie fehl am Platz. Um mich aus der Schlinge meiner Selbstzweifel zu befreien betrete ich den Flur und versuche mich an einer herzlichen Geste. Die kurze, steife Umarmung scheint Manuela genauso unangenehm zu sein wie mir.
Die Kaffeemaschine röchelt wie ein Mensch mit Lungenkrebs im Endstadium (Meine Oma hatte Lungenkrebs, ich kenne das Geräusch. Als würde man Götterspeise durch einen überdimensionierten Strohhalm schlürfen.) und es riecht nach gebratenem Fleisch. Ich beschliesse, heute keinen Kaffee mehr zu trinken.
Wir sind die Ersten. „Auch dass noch“ denkt es in mir als ich meine Schuhe ausziehe. Aus den Lautsprechern der Stereoanlage kreischt ein junger Mann seine digital verpackte Wut in die Beschaulichkeit des Wohnzimmers: Ledercouch, 3-Sitzer und passende Sessel, ein Tischchen, mittig befliesst, Schrankwand, Buche natur, alles hochwertig und schmalpreisig. "Vielleicht noch den passenden Teppich dazu ?. - NEE danke !" Die Bilder an der Wand neben dem Esstisch, hauptsächlich Verwandte, verstärken mein Unbehagen. Ich frage nach einem Bier und seile mich damit auf die Terrasse ab um eine zu rauchen. Wie ein Echo hallt „..eine rauchen...“ kurz darauf auch aus Silkes Mund heraus und sie und Manuela leisten mir ungewollt ungewollte Gesellschaft. Bier in der einen und Zigarette in der anderen Hand lasse ich mich auf einem der dunklen Teakholzstühle nieder. Silke setzt sich mir auf den Schoss. Ich stelle die Flasche Hansa Export auf den Tisch (ebenfalls Teakholz) und lege meinen Arm um ihre Hüfte. Irgendwie automatisch. Es fühlt sich gut an, so warm und vertraut. Mit den Fingern spüre ich die kleine Anhöhe oberhalb ihres Bauchnabels, eine der schönsten Stellen ihres ganzen Körpers. Ich ziehe sie ein Stückchen näher und küsse sie sanft in den Nacken. Sie würde mich hassen.
Der Garten ist nicht gross, vielleicht sieben auf fünf Meter, überall von einer ziemlich hohen Hecke umgeben, ein schmaler Seitengang führt vom Garten zur Strasse. In der rechten hinteren Ecke steht eine Trauerweide. Sie lässt ihre dünnen, elastischen Äste schlaff über das angrenzende Rosenbeet und den gepflegt sattgrünen Rasen hängen. Links von der gekachelten Terrasse ist ein kleiner Teich. Ich sehe Goldfische unter der Wasseroberfläche und muss an einen alten Witz denken.
„Warum haben Fische Schuppen ? - Na, irgendwo müssen sie doch ihre Fahrräder abstellen !“ Absurdes kann eben auch faszinieren. Über den kleinen Weg neben dem Haus betreten Steffie und ihr neuer Freund die Szene. Sie hat ein schwarzes Oberteil und einen schwarzen Kordrock an. Darunter ziehen sich Strümpfe (ebenfalls schwarz) aus den Schuhen (ja genau) über frischrasierte, irgendwie glasig wirkende Waden, bis knapp unterhalb der Knie hoch. Von den Strümpfen lachen mir weisse Totenköpfe mit darunter gekreuzten Knochen entgegen, wie man sie aus den alten Piratenfilmen kennt. Auch wir sind uns fremd geworden. Ich lasse mir nichts anmerken und beginne ein belangloses Gespräch mit ihrem Neuen (Tobias). Würden uns jetzt zwei Fremde beobachten hätten sie wahrscheinlich den Eindruck als amüsierten wir uns köstlich. Spielte er auch oder hatte er etwa wirklich Spass an diesem frühen Freitag Abend ? Na ja – vor sechs Jahren hab ich wohl auch mehr ertragen als heute um mit Silke zusammen zu sein. Und die Vorstellung, wieviel das wirklich war macht es mir auch nicht gerade leichter. Verdammt - es machte mir überhaupt nichts aus jeden Tag 50 Kilometer mit dem Rad zufahren um sie zu sehen. Einmal, noch bevor wir offiziell „zusammen waren“, saßen wir stundenlang auf dem kleinen Mäuerchen vor dem Garten, jenseits dieser ziemlich grossen Hecke und unterhielten uns einfach. Dann Knutschten wir. Und während all das passierte saß ihr damaliger Freund genau hier wo ich jetzt sitze. Allein dafür hätte ich all das auf mich genommen. Damals.
Sie sitzt neben mir. Ich trenne mein Bewusstsein von meinen Erinnerungen und hole mir ein neues Bier. Es schmeckt. Viel zu gut. Und Silke sitzt auf einem dunklen Teakholzstuhl auf Manuelas Terasse und lacht in den Himmel hinein.
Wir rauchen und reden und lachen und trinken. Rosa Zuckerwattefetzen ziehen über uns hinweg und Mütter rufen ihre kleinen Kinder auf noch kleineren Bobbycars zurück ins Haus. Manuelas Freund lässt sich zum ersten Mal heute Abend blicken. 29, Typ Dauerstudent, lange dunkle Locken, eine schmale Brille mit hellbrauner Fassung auf der etwas zu gross geratenen Nase. Wir begrüssen uns mit Handschlag und reden belangloses Zeug. Er ist nett und unter anderen Umständen hätte ich vielleicht wirkliches Interesse an ihm und an seiner Geschichte gehabt, aber heute hatte ich das nicht. Drinnen sind noch zwei weitere Gäste eingetroffen, junge Frauen. Eine ist hübsch, die andere wäre es gern. Sie stehen am Tisch und gratulieren Manuela. Gratulieren. Oh Scheisse ! Das war dann wohl irgendwo zwischen Türtäuschung und Krebskaffee verloren gegangen. Und jetzt war es eindeutig zu spät dafür.
„Kommt zu´nem Geburtstag und gratuliert erst nach anderthalb Stunden ?“
Nee, nee, eigentlich spielt es sowieso keine Rolle. Oder es würde keine mehr spielen. Der wütende junge Mann hatte inzwischen das CD-Fach für Deep Purple geräumt. Die Mutter steckt ihren Kopf aus der Küche und signalisiert Bereitschaft. Das Essen ist fertig.

...

„Noch ins mad´s ?“ frage ich als wir ins Auto steigen. Das unbedachte „Mir egal“, welches mich als Antwort erreicht, lässt meine innere Waagschale wieder eindeutiger in eine Richtung tendieren. Wir fahren los, Silke am Steuer. „Wäre auch wirklich keine gute Idee gewesen jetzt noch zu fahren!“, sage ich mir selbst als wir das Ortsschild passieren. Bald darauf befinden wir uns auf einer dunklen Landstrasse in Richtung Bonn.

Die letzten beiden Whiskey schienen gleichzeitig ihre Zeitzünder zu aktivieren wodurch nur noch Bruchstücke und Screenshots, Wortfetzen, das Arschloch-Gefühl und vor allem Zweifel darüber bleiben sollten, was in den nächsten eineinhalb Stunden geschah.
Wir fuhren zur Tanke, kauften Wein, dann fuhren wir zu mir. Den Grund des Streits weiss ich nicht mehr, aber darum ging es ja sowieso nicht wirklich. Ich erinnere mich noch recht deutlich wie sie „Manuelas Vater HATTE wirklich Angst vor Dir!“ schrie, kann es aber in keinen vernünftigen Zusammenhang mehr bringen. Das wiederum macht MIR Angst.

Als nächste Haltestelle meiner Erinnerung sehe ich uns vor ihrer Wohnung Diesmal sitze ich am Steuer. Wir schreien und weinen uns an und versuchen, uns mit Worten zu verletzen. Dieses Mal KONNTE sie gar nicht gewinnen. Fast beiläufig sage ich: „...außerdem hab ich jemand anders kennengelernt.“ und diese sechs Worte treffen wie Wärmesuchraketen genau ins Ziel. Drei bei ihr und drei bei mir. Ihre sowieso verheulten Augen füllen sich von unten erneut mit Tränen. Sie steigen bis fast zur Mitte der Iris auf bevor sie der Schwerkraft nachgeben und auf den Wangen Richtung T-Shirt flüchten. Auf einmal scheint all ihre Trauer und Verzweiflung in blanken Hass umzuschlagen und sie verflucht mich und meine neue Bekanntschaft, droht mir nicht ernst gemeinte Dinge an. „Hoffentlich hält das an“ denke ich, „...hoffentlich hatte es funktioniert“.
Nachdem sie das Auto verlassen hat sitze ich noch eine Weile hinter dem Steuer des Wagens, den ich mit ihr zusammen abgeholt habe, lasse den Blick über die Strasse wandern auf der wir entlanggelaufen sind und kann sie verstehen. Vielleicht ist dass das Schlimmste.
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