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Alt 15.12.2013, 02:34   #1
männlich Schmuddelkind
 
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Standard Ein Anfang

Weswegen ich mitten in der Woche um drei Uhr in der Nacht noch auf dem Heimweg war, ist ebenso unbedeutend wie die Frage, was ich stattdessen wohl getan hätte. Da die S-Bahnen bereits seit etwa ein Uhr nicht mehr fuhren, irrte ich von Nachtbus zu Nachtbus zu Nachtbus durch den Nebel, der nur noch vereinzelt die Konturen der hell erleuchteten Reklame-Schilder zu erkennen gab. In Neukölln stieg eine junge Frau mit Hund zu, ging, sich gegen das Holpern des bereits angefahrenen Busses stärker zur Wehr setzend als die übrigen stehenden Fahrgäste, den Gang entlang und nahm hinter mir Platz. Noch bevor der Bus die nächste Haltestelle angefahren hat, vernahm ich ein schnappatmiges Röcheln hinter mir; ich fragte mich zunächst, ob es vom Hund oder der Dame kam, bis ich in der Spiegelung an der Fahrer-Kabine erkannte, dass die Frau, den roten Woll-Schal quer über den Kopf geworfen, schlief.

End-Station Plänterwald: ich stieg, neugierig um mich sehend, aus dem Bus und folgte der Straßenführung der weitläufigen Bus-Wende zur nächsten Haltestelle. In die Details der undurchsichtigen Nachtbus-Linienführung vertieft, die ich aus einem Plan herauslesen wollte, bemerkte ich gar nicht, dass die Frau aus dem Bus nun neben mir stand: "Hast du eine Ahnung?" "Nein", antwortete ich ungewöhnlich selbstbewusst und sah sie zum ersten Mal richtig an. Ihre hellblauen Augen leuchteten vor der schwarz-grauen Szenerie, als befände sie sich vor einem Foto, das nichts mit der Erscheinung zu tun haben konnte, die ich in ihr erkannte: wie sie auf einmal, die Unterlippe beinahe hinter den Zähnen verschwindend, lächelte - ein Lächeln, das mit einer dezenten Überschwänglichkeit, einer schüchternen Zügellosigkeit und einer beruhigenden Spur von Unsicherheit zu mir sprach, als spräche es: "Halte dich an mich! Wir kriegen das schon hin." Obwohl alles an ihr verriet (der Schwips, den ich schon im Bus zu bemerken glaubte, die Tatsache, dass sie mich ansprach und nicht zuletzt die Szene, die sich kurz darauf ereignen sollte), dass sie ebenso wenig verstand wie ich, wohin wir uns begeben sollten, vertraute ich diesem Lächeln, das zwischen den lockigen, dunkelbraunen Haaren aus einem hellen Gesicht hervortrat, ein Gesicht, das man mit nur drei oder vier Strichen zeichnen darf - diese aber umso präziser und feiner.

"Ich will nach Schöneweide.", erklärte sie. "Ich auch. Da sind wir also im selben Boot", erwiderte ich erleichtert, während sie schon in ihrem Smartphone nach dem Anschluss suchte. "Die N65 müsste gleich fahren... sagt mein Handy. Aber wo?" Im selben Moment kam der Bus um die Kurve, dem wir kurz zuvor entstiegen waren und hielt direkt vor uns an. Der Fahrer öffnete die Tür und fragte, ob meine neue Begleiterin ihren Hund vergessen habe. Für einen kurzen Moment schien sie vergessen zu haben, dass sie überhaupt einen Hund hat - so erklärte ich mir ihr promptes "Nein", gefolgt von einem panischen "Ja! Oh Gott!" Sofort stieg sie ein, um ihren unbeeindruckt wirkenden Hund - er sah aus wie ein zu klein geratener Schäferhund - heraus zu tragen. Im Vorübergehen fragte sie den Busfahrer noch nach der richtigen Haltestelle. Dieser deutete geradeaus und so machten wir uns auf den Weg, ein paar hundert Meter bis zur Haltestelle an der Hauptstraße. Immerzu koste sie dabei den Hund und sprach ihm liebevoll zu: "Ach, hätte ich dich beinah vergessen. Das tut mir leid, mein Kleiner!" Es gab bemerkenswert viele Dinge, die mich an ihr störten: die hellblau lackierten Fingernägel, das dämliche Status-Symbol, das uns eben noch aus der Ratlosigkeit entließ und das sie immer wieder fast reflexhaft streichelte, den Button auf ihrer Tasche mit der Aufschrift "gegen Atomkraft" (die Botschaft selbst war mir sehr sympathisch, aber dass sie ihre politische Überzeugung in einem Werbeslogan komprimiert vor sich her trug, empfand ich als eine unangemessene Selbstbeengung ihrer Person), die Tatsache, dass sie viel zu hochhackige Schuhe trug - zu hochhackig, sowohl für den Südosten Berlins, als auch in Anbetracht ihrer immer offensichtlicher zu Tage tretenden Trunkenheit - und eben auch, dass sie ihren Hund fast im Bus vergessen hätte. Dennoch mochte ich sie.

Wir waren bereits sehr im Gespräch vertieft, als wir an der Haltestelle ankamen. Wir sprachen nichts Tiefsinniges und verlangten beide nicht mehr als ein wenig angenehme Gesellschaft in einer kalten Nacht, auch wenn wir wohl beide nicht wussten, wo dieses Verlangen enden sollte. Ohne erkennbaren Zusammenhang wollte sie plötzlich sicher gehen: "Ich hoffe, ich habe dich nicht überrumpelt, weil ich dich einfach so angesprochen habe."
"Nein, nein. Das war doch sehr angemessen - und kam mir entgegen: ich fragte mich bereits im Bus die ganze Zeit, wer wohl diese interessante Frau ist, die mir in den Nacken schnarcht."
"Oh Mist! Habe ich das wirklich getan?" Ich nickte, süffisant lächelnd, während sie beschämt die Hände vor der Nase zusammenfaltete.
"Aber das muss dir doch nicht peinlich sein. Das ist doch mal etwas Ehrliches, etwas Echtes. Ich meine: sonst ist der erste Blick, den wir auf eine Person werfen dürfen doch meist nur Fassade. Ich hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, in dieser Millionenstadt Menschen zu finden." Ein wenig war ich selbst von meinen forschen Vorstößen erschrocken. Doch ich erkannte an ihrem verständnisvollen Nicken, dass sie begriff, was ich meinte, auch wenn sie darauf witzelte:
"Du redest... komisch. Bist du ein Schriftsteller?"
"Wenn ich groß bin, möchte ich mal einer sein." Sie lachte mit einer erfrischenden Hingabe und fügte, sich demonstrativ auf die Zehen stellend und zu mir herab blickend hinzu:
"Dann hast du ja noch ein bisschen Zeit."

Ob es wohl an dem Nebel lag oder an unserer erbaulichen beiderseitigen Anteilnahme? Jedenfalls bemerkten wir den Bus erst, als er vor uns Halt machte. Widerstrebend, als kämpften wir gegen die Zeit an, stiegen wir ein, während ich sie noch darauf hinwies, den Hund nicht zu vergessen. Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, aber plötzlich hatte ich das dringende Bedürfnis, eine seltsame Frage zu stellen: "Ein guter Freund verriet mir einmal, dass er davon ausgehe, dass jeder Moment ein Universum abspaltet, in dem all die schönen Dinge möglich sind, die uns in diesem Universum nicht vergönnt sind. Glaubst du daran?" Obwohl wir nur zwei Stationen fahren mussten, schlief sie stehend ein und ließ ihren Kopf auf meine Schulter nieder. All die berauschenden Sinnesfreuden meines Lebens, die dem Realismus nachträglicher Betrachtung weichen mussten, kamen mir in den Sinn, fast so, als würde ich sie noch einmal kurz erleben, bis sie wieder in jene Zeit entschwanden, in der sie gefangen sind und mir wurde bewusst, dass kein noch so ehrenwertes Streben einen einzigartigen Augenblick vervollkommnen könnte. Da wurde ich mit einem Mal so ernst: "Ich muss dich warnen: ich bin der, für den du mich hältst." Verschlafen hob sie den Kopf: "Hmh?" "Ich sagte: "wir sind gleich da."" Nachdem wir ausgestiegen waren, begleitete ich sie auf die andere Straßenseite, ohne dass ich noch ein Wort zu sagen gehabt hätte. Schließlich wies ich sie darauf hin, dass sich nun unsere Wege trennten, woraufhin sie mich herzlich umarmte. Da ich nicht die lauten Schritte ihrer Absätze hören konnte, wusste ich, dass sie stehen blieb, während ich meines Weges ging. Kurz dachte ich daran, umzudrehen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie die Szene dann weiter gegangen wäre. Hinter dem Gerüst einer Straßen-Unterführung lugte ich suchend hervor und sah ihr nach, wie sie mir nachsah und sah ihr nach, dass sie es mir nachsah.
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