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Alt 31.07.2016, 15:35   #1
weiblich DieSilbermöwe
 
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Standard Spontanheilung

England, 30. Juli 1966

Catherine stieg von ihrem Fahrrad und schob es die letzten Meter bis zum Eingang des schmucken Einfamilienhäuschens im Londoner Stadtbezirk Islington, in dem sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester lebte. Es war ein Samstag, der Tag des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft in London im Wembley-Stadion und obwohl Catherine sonst nicht gerade fußballbegeistert war, freute sie sich heute ganz besonders darauf, sich dieses Spiel anzusehen. Versonnen lächelte sich vor sich hin, als sie daran dachte, wer zu Besuch kommen würde. Ihre Schwester Maude hatte den Nachbarn Bernhard eingeladen – mit einem Stoßseufzer: „Was soll ich machen? Er hat keinen Fernseher zu Hause. Und ihm liegt doch so viel daran, dieses Endspiel zu sehen. Tut mit leid, Catherine, dass du ihn nun ertragen musst." Maude hatte keine Ahnung, dass Catherine durchaus nicht glaubte, Bernhard "ertragen" zu müssen. Und Maude hatte keine Ahnung, dass Catherine den fünfzehn Jahre älteren Nachbarn, der eigentlich vom Alter her viel besser zu ihrer Schwester passen würde, still und heimlich schon seit drei Jahren verehrte. Ohne es ihm zu sagen natürlich, oder auch nur vage Andeutungen zu machen. So etwas gehörte sich nicht, und Catherine war sittsam erzogen worden. Zudem war sie erst siebzehn Jahre alt, und jeder hätte sie nur belächelt, wenn man über ihre schwärmerischen Anwandlungen für einen 32-jährigen Bankangestellten Bescheid gewusst hätte. Das Leben war auch so schon nicht einfach, da musste man sich nicht noch selbst in Schwierigkeiten bringen.

Seit dem Tod des Vaters vor zwei Jahren lebte sie mit Maude, die neun Jahre älter war als sie und ihrer gemeinsamen 48-jährigen Mutter Jane allein im Haus. Geldsorgen hatten sie glücklicherweise nicht; aber ihre Mutter hatte schon seit zwei Jahren kein Wort mehr gesprochen. Körperlich schien es ihr an nichts zu fehlen, Maude war mit ihr bei verschiedenen Ärzten gewesen. Keiner hatte etwas Relevantes gefunden. Einige meinten, dass sie vielleicht nur nicht sprechen wolle, und man könne sie nicht zwingen. Andere sagten, dass ihr der Tod ihres Mannes wohl so nahegegangen sei, dass sie nicht mehr sprechen könne. In jedem Fall müsse man abwarten und eben Geduld haben. Es könne durchaus sein, dass die Sprache von selbst wiederkäme.

Catherine betrat das Wohnzimmer, wo ihre Mutter in dem großen Sessel vorm Fernseher saß. Von diesem Gerät war sie immerhin fasziniert. Sie drückte ihrer Mutter zur Begrüßung einen Kuss auf die Stirn und sah dann auf die große Wohnzimmeruhr. Noch eine Stunde zum Anpfiff. Sie musste sich beeilen, um dem Nachbarn schön hergerichtet, aber dennoch so lässig wie möglich gegenübertreten zu können. Er kam ja bestimmt pünktlich. Sie hörte Maude in der Küche hantieren. Einen Gast musste man bewirten. Und da rief Maude auch schon: „Catherine, komm hilf mir mal! Wir machen ein paar belegte Brote für heute Abend!"
„Gleich!" rief Catherine zurück und verschwand hastig in ihrem Zimmer.

Als sie nach einer Dreiviertelstunde in der Küche auftauchte, so zurechtgemacht, wie sie es für den Anlass für angemessen hielt, sah Maude sie missbilligend an. „Darf man fragen, was du eine Dreiviertelstunde lang so Wichtiges zu tun hattest? Jetzt bin ich fertig. Da kann ich auf deine Hilfe auch verzichten." Und sie trug mit eingeschnappter Miene ein Tablett mit belegten Broten ins Wohnzimmer. Kaum hatte sie es abgesetzt, klingelte es. „Mach wenigstens auf", sagte Maude mürrisch, „wenn ich schon sonst alles machen muss."

Diesmal beeilte sich Catherine, der Aufforderung Folge zu leisten. Draußen stand Bernhard, mit einem Blumenstrauß in der Hand und lächelte. „Darf ich hereinkommen?" „Ja natürlich" strahlte Catherine ihn an und wollte ihm die Blumen aus der Hand nehmen. „Was für schöne Blumen!" Aber er wehrte lächelnd ab: „Die möchte ich doch Ihrer Schwester selbst geben. Sie war ja so liebenswürdig, mich einzuladen, damit ich auch das Spiel sehen kann." „Ich weiß", sagte Catherine verlegen, „entschuldigen Sie bitte."

Dann endlich, nach einer schier endlos erscheinenden Begrüßung, begann der Abend, wie sie sich ihn vorgestellt hatte. Bernhard hatte auf dem Sofa zwischen ihr und Maude Platz genommen und alle, auch ihre Mutter, verfolgten gespannt das Spiel zwischen England und der Bundesrepublik Deutschland. Bereits nach 20 Minuten stand es 1:1. Catherine beobachtete mehr Bernhard als das Spiel, Bernhard war vom Spiel völlig gebannt, und Maude ärgerte sich über Catherines Benehmen. Sie hatte sie längst durchschaut. Und so achtete niemand auf Jane, die unentwegt ihre Finger knotete. Jane konnte sich ja alleine versorgen – sie sprach nur nicht. Und daran hatten sich ihre Töchter inzwischen schon fast so sehr gewöhnt, dass sie Veränderungen in ihrem sonstigen Verhalten kaum registrierten.

„Ich habe gewettet", sagte Bernhard auf einmal, „dass England die WM gewinnt. Wenn es so kommt, kann ich mir vom Gewinn endlich auch einen eigenen Fernseher kaufen und muss Sie nicht mehr belästigen."
„Ich hoffe sehr, dass wir die WM gewinnen und Sie ihre Wette", antwortete Maude, „aber wir fühlen uns keineswegs von Ihnen gestört, ganz sicher nicht!"
„Nein, Sie stören uns doch nicht!" rief auch Catherine lebhaft. Sie lächelte Bernhard an, und er lächelte zurück – für sie bis dahin der schönste Moment des Abends.

Es waren noch zwölf Minuten bis zum Abpfiff. Da fiel das dritte Tor – für England. „Toooor!" schrien alle gemeinsam – bis auf Jane natürlich. Doch sie knotete ihre Finger noch immer. „Fast haben wir den Sieg in der Tasche", sage Bernhard aufgeregt, „am nervenaufreibendsten ist aber immer die Nachspielzeit!“
„Da haben Sie recht", pflichtete Maude ihm bei. Catherine sagte nichts. Sie war selig, ihn so aus der Nähe betrachten und anhimmeln zu können. Um sich nicht völlig verdächtig zu machen, achtete sie darauf, das Spiel, soweit es unbedingt nötig war, mitzuverfolgen. Die Nachspielzeit lief bereits . „Schade", dachte Catherine, „nach dem Spiel wird er sich sicher gleich verabschieden." Und dann fiel ein Tor in der Nachspielzeit – für Deutschland.
Bernhard war zu wohlerzogen, um vor Damen zu fluchen, aber ihm standen Schweißperlen auf der Stirn. „Das darf doch wohl nicht wahr sein! Wir standen doch so dicht davor!"
„Es ist ja nur Gleichstand", tröstete Catherine ihn.

101. Minute. Catherine sah zu, wie der Ball von einem englischen Spieler auf die Unterkante der Latte geschossen wurde und von dort senkrecht nach unten prallte, ehe er von einem anderen, deutschen Spieler ins Toraus geköpft wurde. „Was war das denn?" sagte Maude. Alle beugten sich vor, um besser sehen zu können, was auf dem Spielfeld ablief. „War das ein Tor?" fragte Catherine, aber niemand antwortete. Auch auf dem Spielfeld war man sich anscheinend nicht einig. Der Schiedsrichter besprach sich mit dem Linienrichter. Dann wurde es bekanntgegeben: „Tor!" Alle lachten und klatschten in die Hände, außer Jane, die weiterhin ihre Finger knotete. Und das Spiel lief weiter. Bernhard war noch ein wenig nervös, aber das Ergebnis schien nicht mehr in Gefahr zu sein.

Und dann – in der Schlussminute der zweiten Halbzeit der Verlängerung schrie auf einmal jemand im Zimmer: - „Tooor"! Das kam von jemand, von dem erst keiner wusste, wer es war, so lange hatte man die Stimme nicht gehört. Verwundert sahen Catherine und Maude erst sich, dann ihre Mutter an. „Mama!" rief Catherine aufgeregt, „Mama, du hast ja etwas gesagt!" Sie ging auf ihre Mutter zu und fiel ihr um den Hals. Maude tat es ihr gleich. Und Bernhard räusperte sich und sagte: „Das ist aber erfreulich!"
„Ja", sagten Maude, Catherine und Jane wie aus einem Mund.

Und dann lachten und redeten alle durcheinander. England hatte die WM gewonnen. Bernhard hatte seine Wette gewonnen. Und Jane hatte ihre Stimme wiedergewonnen. Niemand konnte erklären, auch die Ärzte nicht, wie sich das medizinisch zugetragen haben könnte. Man beließ es bei der Erklärung: Sie habe sich so über das Tor gefreut, dass sie durch dieses Ereignis ihre Sprache wiederfand.

Jane selbst widersprach dieser Erklärung niemals.
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Alt 31.07.2016, 16:12   #2
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Und dann – in der Schlussminute der zweiten Halbzeit der Verlängerung schrie auf einmal jemand im Zimmer: - „Tooor"!


Kein Mensch hatte den Ball im Tor gesehen und hätte Anlass zu einem Spontanausbruch gehabt. Es war eine nüchterne Schiedsrichterentscheidung. Und eine falsche dazu. Der Jubel kam mit erheblicher Verzögerung.

https://www.youtube.com/watch?v=XtiWJe54PPU
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Alt 31.07.2016, 16:19   #3
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Du meinst das dritte Tor, hier geht es dann aber bereits um das vierte.
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Alt 31.07.2016, 16:41   #4
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Du meinst das dritte Tor, hier geht es dann aber bereits um das vierte.
Ach so, dann nehme ich das zurück, ich weiß nicht mehr, wann das vierte Tor fiel. Aber dann ist so etwas wie ein Heilungseffekt noch fragwürdiger, weil England bereits in Führung war. Wie kann ein derartig heilsamer "Schock" entstehen, wenn es nur um ein Tor mehr oder weniger geht? Das ist mir ein bisschen zu viel Wunder.
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Alt 31.07.2016, 19:42   #5
Thing
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Es iat doch eine Geschichte, Ilka-Maria.
Da gelten nur die Regeln der Autorin. Und wenn ein Tor zur Wunderheilung führt, -- warum nicht?

LG
R Th
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Alt 01.08.2016, 04:48   #6
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Zitat:
Zitat von Thing Beitrag anzeigen
Und wenn ein Tor zur Wunderheilung führt, -- warum nicht?
Ich weiß nicht recht ...

Das vierte Tor hätte zwar auch diskutiert werden können, denn es war irregulär und hätte gar nicht gegeben werden dürfen. Trotzdem hat seit damals nie wieder jemand über diesen Treffer gesprochen, er blieb immer im Schatten des umstrittenen dritten Tors.

Für eine Wunderheilung ist mir das zu dünn.

Befremdlich wirkt auf mich auch, dass ein Bankangestellter im Alter von 32 Jahren, dem finanziell keine Sorgen zuzutrauen sind, kein eigenes Fernsehgerät hat. Bekanntlich florierte in den 60er und 70er Jahren der Verkauf von Fernsehgeräten vor jedem Start einer Fußball-WM.

Eigentlich schade, denn die Idee zu der Geschichte ist gut, und vom Erzählerischen her ist sie weit besser als die meisten anderen. Sie müsste nur glaubwürdiger sein.
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Alt 01.08.2016, 07:04   #7
weiblich DieSilbermöwe
 
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Hallo Thing und Ilka-Maria,

erst mal danke für die Rückmeldungen zu meiner Geschichte.

Ich las vor Jahren mal, dass (wenn ich mich recht erinnere, war das in England) sich eine Frau, die nicht mehr sprechen konnte, sich so sehr über ein Tor gefreut hatte, dass sie dadurch die Sprache wiederfand. Ich habe das nicht nachgeprüft, aber es fiel mir vor kurzem wieder ein, und dann spukte mir eine Geschichte dazu im Kopf herum.

Soviel Fernseher gab es um 1966 noch nicht. Das habe ich recherchiert wie auch die englischen Vornamen zu der Zeit und einiges anderes. Es ist gar nicht so einfach, eine solche Geschichte zu schreiben, wenn sie in einer anderen Zeit spielt (das soll jetzt kein Selbstlob sein. Ich hab mich nur gewundert, wieviel Arbeitsaufwand das doch für eine relativ kurze Geschichte ist). Und was für Berufe z. B. gab es schon zu der Zeit?
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Alt 01.08.2016, 07:20   #8
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Ich las vor Jahren mal, dass (wenn ich mich recht erinnere, war das in England) sich eine Frau, die nicht mehr sprechen konnte, sich so sehr über ein Tor gefreut hatte, dass sie dadurch die Sprache wiederfand. Ich habe das nicht nachgeprüft, aber es fiel mir vor kurzem wieder ein, und dann spukte mir eine Geschichte dazu im Kopf herum.
... und dann hast Du dieses Ereignis mit dem 50jährigen Jubiläum der Fußball-WM verknüpft.

Wie gesagt: Die Idee ist gut.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.08.2016, 07:29   #9
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Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen
... und dann hast Du dieses Ereignis mit dem 50jährigen Jubiläum der Fußball-WM verknüpft.

Wie gesagt: Die Idee ist gut.
Danke. Genau, das habe ich dann verknüpft - von der Zeit her passte es auch noch zum Jahrestag (30. Juli), das war allerdings Zufall.
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
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