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Alt 19.10.2012, 20:02   #1
weiblich Damaris
 
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Standard Die Herbstzeitlose

Agnes Iglkraut ist das sonnigste Wesen, welches ich kenne. Dennoch ist sie meine Seelenverwandte. Soeben öffnet sich das Haus - Agnes erscheint.
In der Linken den Weidenkorb und in der Rechten den Stock trippelt sie in den Garten. Wie immer begrüßt sie mich, die Herbstzeitlose, zuallererst: "Guten Morgen Teufelskrokus. Schau, ich war beim Friseur. Purpurrosa, hab ich gesagt. Bitte färben Sie mein Haar purpurrosa! Herr Safran hat vielleicht geschaut."
"Noch bin ich eine Nackte Hur", wispere ich neidisch.
"Warte bis der Herbst kommt, Teufelskrokus. Dann blühst Du purpurrosa." Agnes lässt mich stehen und trippelt zur Leonurus cardiaca, dem Herzgespann. Diese ist die älteste und höchste Staude des Gartens. Doch Agnes überragt sie um Blatteslängen. "Morgen Herzige!", pflückt sie weißrosa Blüten in den Korb. Agnes geht weiter zur Chelidonium majus, dem Schöllkraut. Sie legt den Stock bei Seite, holt das grüne Kissen aus dem Korb und kniet sich ächzend darauf. Jetzt stellt sie den Korb ab, entnimmt ihm die Dechsel und das Messer. "Morgen Goldige, ich brauch ein Stück von Dir", gräbt sie die Gelbblütige samt Wurzel aus. Seufzend geht Agnes in die Hocke. Sie legt Pflanze, Werkzeug und Kissen in den Korb, stützt sich am Stock in die Höhe und trippelt zur neben mir stehenden Gartenbank. Agnes stellt den Korb ab und legt das Kissen auf die Bank. Endlich beugt sie sich zu mir herab: "Ich bin schon alt, aber meine Augen sehen noch gut. Noch kann ich Dich von Deinen Doppelgängern unterscheiden", pflückt sie ein paar Blätter vom mir nahe stehenden Bärlauch. Agnes geht zur Bank zurück, hängt den Stock an die Rückenlehne und setzt sich aufs Kissen. Sie schaut zu mir, zum Bärlauch in ihrer Hand und wieder zu mir. Nickend legt sie das Grün in den Korb und greift sich das Schöllkraut. Agnes bricht den Stengel ab, legt die Wurzel in den Korb zurück. Nun spreizt sie die dürren Finger der linken Hand und beträufelt ihre Handwarzen mit dem milchig-gelben Pflanzensaft.
"Iris hat geschrieben", bemerkt sie nebenbei. "Gestern kam die Karte: Schöne Grüße aus Mallorca. Es geht uns gut. Das Essen ist vorzüglich. Heute, am 29. Mai 2009, haben wir uns in der Kathedrale Santa Ana das Ja - Wort gegeben. Herzlichst! Iris und Rüdiger Maiglöckchen. PS.: Papa hätte sich nur aufgeregt."
"Deine Tochter ein Maiglöckchen", zische ich.
Agnes Iglkraut richtet sich kerzengerade auf, schüttelt die rosa Locken und donnert: "Iris Maiglöckchen ist doch kein Name!"
"Convallaria majalis!", füge ich hinzu.
Agnes' Mund zuckt, ihre Augen regnen: "Das ist kein Name", schnieft sie.
"Agnes!"
Agnes schaut zum Haus: "Er ist wach."
"Hunger!", schreit das Haus wieder.
Agnes wendet sich mir zu: "Früher war er mein wilder Bär."
"Ramser", zische ich.
"Und jetzt..."
"Ich lieg nass", brüllt das Haus, "Dreckspisse!", brüllt es lauter.
"Er stinkt", flüstert sie.
"Wurmlauch, Hexenknoffel", pflichte ich ihr bei.
"Wo bleibst Du, Alte, taube Nuss", plärrt das Haus.
"Gehört auf den Gottesacker!", gifte ich.
Agnes beugt sich zu mir herab. Sanft streichelt sie meine grünen Blätter.
"Agnes komm jetzt!", heult das Haus. "Ich hab Schmerzen."
"Ein Blatt von mir und Du bist ihn für immer los", säusele ich.
Agnes schaltet das Hörgerät aus.
"Noch sehen meine Augen gut", lächelt sie und greift zum Bärlauch.
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