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Alt 19.01.2013, 01:13   #1
weiblich Damaris
 
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Beiträge: 261


Standard Alles okay

Ich will nicht aufstehen. Blinzele, noch gar nicht richtig hell, noch gar nicht wach.
Nichts drängt mich. Drehe mich auf die linke Seite, meine Lieblingsseite, kuschele mich in die Bettdecke, atme tief ein und hörbar aus, Leben rein und Krankheit raus. Werde weich, warm, leicht.

Liege weich, warm und klein inmitten rosig duftender Gänseblümchen. Kobolde umtanzen, Elfen umschwirren mich, rufen mich bei meinem Namen. Will mit Ihnen tanzen und fliegen und glücklich sein. Ich stelle die Beine an, stütze mich hoch,
da springt er schwer auf meine Brust, drückt mir die Luft ab, sticht mit spitzen Schnurrbarthaaren in meine Nasenlöcher. Ich versuche ihn abzuwerfen, er faucht und fährt die Krallen aus. Ich schreie, wieder.
Samtkatzenpfötchen, gähnt mich herzlichst an, leckt mir die Nase. Mir wird übel.
Höllenerinnerung.
Kater schnurrt, reibt seinen Kopf an meiner Wange. Ich rieche Vanillemilch. Sinke zurück in die watteweichen Blümchen, sehe verschwommene Zauberwesen sich in lila Luft auflösen, in den Himmel wirbeln, dann wird alles katzenschwarz.

„Oh Happy Day“ schrillt mich mein Weihnachtsklingelton aus dem Schlummer. Mutter.
„Alles okay“, sag ich.
Ob ich noch im Bett liege.
„Nein, wie kommst Du...“
„Es ist schon elf und Du klingst verschlafen. Ist Dir nicht gut?“
„Doch, alles...“
„Mona, hast Du schon was gegessen?“
„Ja.“ ... „Was? ... Ach Mama, mach mich nicht verrückt. Ich komm klar.“ ... „Ja. Geht mir gut.“ ... „Vergess ich nicht.“ ... „Nein, musst Du nicht, danke. Bis dann.“
Ich rappele mich hoch. Wieder dieser Katzentraum. Schleppe mich unter die Dusche, brause mich warm und kalt, rubbele mich trocken, betrachte mich im Spiegel. Durfte sie behalten, die rechte, meine liebste Brust. Sie ist ein wenig kleiner, rundlicher, straffer als die linke, beinahe perfekt.
Doch hätte sie mich fast umgebracht.
Ich massiere meine Kopfhaut mit Birkenwasser, fühle den Babyflaum. Kopfhaare wachsen pro Tag 0,3 bis 0,5 mm, habe ich gelesen. Meine sind recht flott 'rausgeschlüpft, um, als wären sie erschrocken ob ihrer Kühnheit, in den Winterschlaf zu verfallen. Und dieses straßenköterblond, es macht mich blass.
Schminke mich sorgfältig, kleide mich an, bereite mir ein spätes Frühstück, schalte das Radio ein. „Die Zeit: es ist genau 12:30 Uhr“
Also brunche ich, alles okay. 15 Uhr zum Adventskaffee verabredet bei den Eltern. Dann Weihnachtsmarkt. Gut, dass ich mich ausgeschlafen habe, gähne ich. Aber diese Träume, die machen mich fertig.
Tine ruft an. Ob ich Lust habe, heute Abend mit ihr auszugehen, das Leben feiern, in der Salsabar.
„Nee, Du, ich schaff das nicht.“
„Mensch Moni, reiß Dich mal zusammen, Du bist doch..., oder geht’s Dir nicht gut? Ich meine, ist alles in Ordnung mit Dir?“
„Alles okay, keine Sorge. Es ist nur, ich bin so müde, immer noch. Es kotzt mich ja auch an, aber“
„Aber, Kleine, Du musst langsam wieder in die Puschen kommen! Sei doch froh, dass Du wieder gesund bist! Morgen, morgen hole ich Dich ab, keine Widerrede! Bis dann.“
„Aber“, Tine hat aufgelegt, typisch Tine. Können mir doch alle den Buckel 'runter rutschen. Verstehe es ja selbst nicht. Ich bin gesund, doch ich fühle mich wie 100 plus.
Räume den Tisch ab, mache mich ausgehfertig, alles im Schneckentempo. Werde wieder zu spät kommen. Mutter wird mich mit Röntgenaugen durchleuchten, während Vater versucht, die Stimmung aufzulockern.

Flocken schmelzen auf meiner Nase. Der Schnee knirscht unter meinen Stiefeln. Die Luft duscht meine Lungen mit eisigem Sauerstoff. Lichter in den Fenstern. Meine Müdigkeit verfliegt. Hinter mir miaut es. Ein weißes Pfötchen, Schneekatze schnurrt um meine Beine.
„Warum besuchst nicht Du mich mal im Traum?“, frage ich sie streichelnd. Sie legt sich auf den Rücken, lässt sich den Bauch kraulen. Das Handy meldet sich. Kätzchen verschwindet über den nächsten Gartenzaun. Mutter sorgt sich, wo ich bleibe. „Alles okay.“

Die frische Luft hat mir gut getan. Ich bin müde, aber anders. Nicht ausgelaugt, sondern wie wohlverdient nach einem 10 Kilometerlauf. Vielleicht fühle ich mich morgen besser.
Dann gehe ich wieder spazieren, nehme ich mir beim Einschlafen vor.

Und, tatsächlich, ich bin endlich wieder ausgeschlafen, fit, belastbar. Bereits 8 Uhr stehe ich auf. Gleich nach dem Frühstück putze ich meine Wohnung. Danach koche ich und überfalle Tine mit pasta arrabiata. Das hat sie von ihrer Harthäckigkeit. Wir kichern, trinken Sekt, wie in den guten alten Zeiten. Meine Kopfschmerzen lache ich weg. Tine hat Recht, man muss sich einfach mal zusammenreißen.

Auf dem Nachhauseweg folgt mir ein schwarzweiß getigertes Kätzchen. Es hat kein Halsband um, sieht halb verhungert aus. Ich streichele die Miez, gehe ins Haus. Vor der Tür maunzt sie zum Erbarmen. Ich lasse sie herein.
„Was gebe ich Dir nur? Ein Schälchen Milch? Gott bewahre! Katzen sind lactoseintolerant. Weißt Du das denn nicht. Davon kriegst Du Bauchweh und Durchfall. Ich habe nicht 'mal ein Katzenklo. Da, Du kriegst Wasser und Dosenfisch, mein Kätzchen.“
Es frisst sich satt, lässt sich kraulen, schnurrt ein wenig, miaut. Ich öffne ihm die Türen, es schleicht sich elegant von dannen.
Ich schlafe beinahe im Stehen ein.
Nachts träume ich von meinem Kätzchen, wie ich mit ihm über Frühlingswiesen sause, wir jagen die Mäuse. Die Katze ist viel schneller, ich komme aus der Puste, muss stehen bleiben, sie sprintet zurück, springt mich an, wirft mich um und ist wieder der dicke schwarze Kater.

Verkatert wache ich auf. Es liegt nicht am Alkohol. Hatte nur 2 Gläschen von dem Prickelwasser.
Ganzkörperschmerz oder Muskelkater. Oder Metastasen?
Mutter ruft an. „Alles okay“, sag ich.
Gehe zu meinem Onkologen. Warte geduldig, er nimmt mich ohne Termin dran. Ich beschreibe meine Beschwerden. Er beruhigt mich, tastet die Brüste, nimmt Blut ab. Erklärt, dass ich Geduld haben muss, dass dies alles zum normalen Genesungsprozess gehört, verschreibt mir einen Stimmungsaufheller und Tabletten gegen die Angst.
"Was soll ich damit?" frage ich ihn.
Statt einer Antwort drückt mir noch schnell eine Broschüre in die Hand und ich soll mich jederzeit melden, wenn was ist. Nur hat er leider nun keine Zeit mehr. Das Wartezimmer platzt aus allen Nähten.

Ich schleppe mich nach Hause, lege mich mit der Broschüre auf die Couch und beginne zu lesen, über das Leben nach dem Krebs.
Wie wichtig die Psyche ist, dass man sie mitbehandelt, dass der Arzt heutzutage aufklärt, damit der Patient weiß, was auf ihn zukommt.
Ich lese über die nachwachsenden Haare, konditionierte Übelkeit, die Angst und über Müdigkeit.

Das schwarzweiß getigerte Kätzchen kommt auf mich zu geflogen. Es lacht und spricht mit Tines Stimme: „Moni, liebe, reiß Dich zusammen!“
„Kann nicht, zu müde.“, flüstere ich.
„Ich weiß“, schnurrt es.“
„Was kann ich tun?“
„Nicht viel.“, kuschelt es sich auf mich.
„So kann ich nicht aufstehen.“
„Sollst Du auch nicht. Du sollst mit mir kuscheln, mich genießen.“
„Und dann?“, kraule ich das schwarzweiß getigerte Katzenbäuchlein. Kraule die schwarzen Kringel weg. Nun ist es schneeweiß und noch weicher.
Schneekatze maunzt: „Dann wird es besser, alles zu seiner Zeit.“
„Bin ich wieder krank?“
„Nein, dazwischen.“, schnurrt mein Kätzchen, leckt sich übers Fell und schleicht sich davon.
„Warte!“, rufe ich ihm nach. „Wie heißt Du?“
„Fatigue*.“, miaut es. „Bis bald.“


*Fatigue, auch Tumorerschöpfung genannt, ist ein an Leistung unangepasstes überwältigendes, geistiges und körperliches Müdigkeitsphänomen.
In der Regel dauert es lange nach erfolgreicher Krebstherapie an.
Sie brauchen Zeit, Krankheit, Therapie und deren Folgen physisch und psychisch zu verarbeiten, wie ein vom Krieg zerstörtes Land Zeit braucht, sich zu erholen.
Fatigue ist nicht mit depressiven Störungen gleichzusetzen.
Auch nicht mit normaler Müdigkeit, welche sich durch Ruhe und Schlaf beheben lässt.
Genießen sie regelmäßige Pausen, überlasten sie sich nicht, bewegen sie sich viel an frischer Luft, auch Ausdauersportarten wie Joggen (nicht überfordern!) sind zu empfehlen.
Das Wichtigste und Schwerste zu guter Letzt: haben sie Geduld und gönnen sie sich die Zeit,
die sie brauchen.
Damaris ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.01.2013, 17:18   #2
weiblich simbaladung
 
Dabei seit: 07/2012
Alter: 67
Beiträge: 3.073


Hallo, Damaris,

deine Erzählung gefällt mir. Du nimmst den Leser gut mich und lässt ihn teilhaben an der Gefühlswelt der durch die Operation geschwächten Frau.
Die Idee, der Müdigkeit (Fatigue) die Gestalt der Katze zu geben, find ich toll.
Auch, dass sich die Farben und das Wesen dauernd verändern. Beim Lesen habe ich irgendwie an "Seelentiere" denken müssen, die den Menschen besonders in schweren Zeiten begleiten und Kraft geben.
Die reale Welt verschwimmt ein bisschen (der Besuch bei den Eltern wird gar nicht erwähnt), aber das stört mich nicht, ich denke sogar, dass es gut passt.
Interessant auch, dass du Verzweiflung und Klagen in der Geschichte ausklammerst. Das lyrI nimmt an, beobachtet, es ist, wie es ist. Kein Aufbauschen, kein Drama. Sehr schön,

Ob die Erklärung unter die Geschichte muss? Für mich nicht! Irgendwie entzaubert sie für mich die Geschichte. Wer forschen will, soll das tun. Mir hat der Name, Fatigue-müde, gereicht)

lg simbaladung
simbaladung ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.01.2013, 23:34   #3
weiblich Damaris
 
Benutzerbild von Damaris
 
Dabei seit: 03/2008
Ort: München
Alter: 57
Beiträge: 261


Liebe simbaladung,
was für eine reizende Antwort, ich danke Dir!
Seelentiere - sind Katzen irgendwie.
Mit dem Ende hast Du sicherlich Recht. Doch ich möchte mit der Geschichte informieren. Das Ende ist das Ziel, die Geschichte / die Bilder der Weg, um die Information zu verinnerlichen.
LG und alles Gute noch für 2013, Damaris
Damaris ist offline   Mit Zitat antworten
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