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Sprüche und Kurzgedanken Prosatexte, die einen Sachverhalt möglichst kurz und knapp schildern.

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Alt 16.10.2010, 15:22   #1
weiblich FeelLetter
 
Dabei seit: 08/2010
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Standard "Abschiedsbrief"

An die Welt.

Ich bin heute aufgewacht und habe den Tod gespürt. Vielleicht habe ich ihn gespürt, weil ich das Leben spürte, als der Wecker läutete. Wenn du das hier liest, dann ist es eigentlich gut so, dass ich nicht mehr da bin. Gestern wurde ein Mädchen auf dem Weg zur Schule von einem Auto überfahren. Ich bin jetzt achtzehn Jahre alt, am Anfang einer großen, langen Karriere als Mensch. Ich öffne die Tür und die Welt steht vor mir, den Finger an der Klingel. Ich kann deine Hand nehmen, dich umarmen, dich treten, dich anschreien, dich mitnehmen. Und ich stecke dich in den engen Kofferraum meines rostigen Wagens und brettere über die kaputten Landstraßen, durch Blätter werfende Wälder, neben sich wiegenden Wiesen, durch singende und tanzende Städtchen. Heute morgen stürzte ein junger Mann von seinem Balkon. Manchmal chatte ich mit meiner kleinen Schwester. Ich höre sie kichern, zwei Zimmer weiter. Aus einem Doppelpunkt und einer Klammer wird ein lachendes Gesicht, automatisch klicke ich auf das Kreuz, der Bildschirm wird schwarz, die Tastatur ist warm. Du drückst gegen die Fenster und ich spüre dich unter meinem Finger, sehe dich noch als kurzen Funken auf dem Bildschirm. Wenn nicht gerade ein Schneesturm draußen tobt oder vielleicht auch genau dann, lasse ich den Wind herein. Mein Haar ist viel zu kurz, um mich umzureißen, die Ohren werden taub. Du klatschst mir ins Gesicht. Und ich sauge dich auf, lasse dich mich durchfluten, während ich mir ein Buch aus dem Regal hole, ich schalte die Lampe ein, stoße mit der Zehe an das Tischbein. Ein Baum stürzte auf ein fahrendes Auto. Gerade spüre ich mich blinzeln. Ich kann es steuern, kann meine Lider schließen, kann einmal fest einatmen, ich stocke, lasse dich wieder aus mir heraus, sehe. Ich kann meine Beinhaare streicheln, sollte sie abrasieren, doch ich trage meine Lieblingsjeans. Deine schweren Schritte sind schon von weitem zu hören. Als das Türschloss aufspringt, stehst du schon Zehe an Zehe bei mir. Grinsend kreise ich die Autoschlüssel um meinen Finger. Wissend kletterst du in den Kofferraum. Möglicherweise sollte ich das hier nicht schreiben. Weil es in meinem Kopf pocht und in meinen Beinen und in meinen Fingerspitzen, die Ohrläppchen sind warm. Eine Frau stolpert über einen Stein, Kopfwunde. Der Wecker läutet, schwer hebt sich mein Arm und schlägt zu. Stille, einmal umgedreht. Tot. Wenn du das hier liest, bin ich weg. Wann ich geboren wurde, weißt du, was ich gemacht habe, gelassen habe, was ich liebte, was ich hasste. Willst meinen Namen googlen. Was ich dachte und fühlte, ließ ich in der Welt, vielleicht versteckt, vielleicht als kleine Regentropfen auf deinen Kopf regnend. Eigentlich wollte ich nur sagen: Ich lebte.
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