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Alt 21.12.2013, 04:41   #1
männlich Schmuddelkind
 
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Standard Im Vorübergehen

Samstag, 4. Mai 2013


Nur auf die ehrlichste und schmerzhafteste Weise können sich diese Blätter füllen - nur so oder gar nicht. Warum es mir so schwer gefallen ist, dieses Tagebuch wieder aufzugreifen? Ich glaube, ein Tagebuch ist eine immer wiederkehrende Entscheidung, sein eigenes Leben in den Blick zu nehmen. Doch wenn man einmal eine Entscheidung aus der Hand gegeben hat, dann hat man sie aus dem Herzen verloren und das wollte ich mir nicht eingestehen. Die rastlosen Monate jedoch, die gerade hinter mir liegen, haben alles an sich gerissen, haben meinen Blick von Tag zu Tag verkürzt, dass ich mir kaum ausmalen konnte, wohin das führen sollte.

Was für ein Freund war ich, dass ich geliebt werden wollte, als es mir doch hätte genügen sollen, zu lieben?! In ihren Worten hatte meine Seele geruht und in ihrer Genügsamkeit, mich zu verstehen, war ich bei mir angekommen. Mehr kann ein Mensch - so weiß ich heute - nicht verlangen und doch habe ich alles aus der Hand gegeben, weil ich mehr wollte. Als sie aussprach, dass sie sich wünsche, mir nie begegnet zu sein, wurde meine Vergangenheit unerträglich und meine Zukunft wurde unmöglich. Hin und her gerissen zwischen der Dankbarkeit darüber, mich noch über einen Monat lang in ihrer Nähe zu ertragen und der Verzweiflung darüber, wie sehr sie es mich spüren ließ, dass sie meine Nähe nicht länger ertragen konnte, wusste ich in mir selbst bald keine Möglichkeit mehr zu sein.

Glücklicher Weise fand ich gerade rechtzeitig eine kleine Wohnung zur Zwischenmiete für etwa drei Monate am anderen Ende der Stadt, in Reinickendorf. Auch wenn der Winter ohne Heizung lang und kalt war, so war ich zunächst doch dankbar, dass es nicht schlimmer gekommen war. Die langen Fahrten zwischen dem Nachhilfe-Institut und der Wohnung ließen jedoch nicht mehr viel vom Tage übrig. Zumindest aber nutzte ich die Wochenenden für ausgedehnte Spaziergänge durch den nahen Tegeler Forst, wo eine glitzernde Eisdecke sich den ganzen Winter über auf einem See hielt. Dieses Bild nahm ich stets gerne an, um meinem dahingetriebenen Leben für ein paar Augenblicke die Eile zu nehmen. Ansonsten aber war die Stadt grau und ausdruckslos und schien im Dröhnen der Flugzeuge zu versinken, die den Flughafen auf der anderen Seite der entseelten Hauptstraße anflogen. Mein Honorar erhielt ich zu dieser Zeit nur auf Nachfrage und dann auch nur eben so viel, um meine Mietzahlung und meine Fahrten zur Arbeit zu gewährleisten. Und so spielte ich vor meinen Schülern die Rolle eines souveränen, unterhaltsamen Lehrers, um an einem Ort leben zu können, an dem ich mir selbst nur vormachen konnte, ich selbst zu sein.

Die junge Japanerin, die mir die Wohnung weitervermietet hatte, sprach in etwa so gut deutsch, wie ich japanisch und so kam es zu einem Missverständnis über den genauen Zeitpunkt ihrer Rückkehr. Als ich eines späten Abends nach Hause kam, stand sie bereits entgeistert in der Stube. Nach einigen unbeholfenen Verständigungsversuchen lud ich sofort meine Sachen ins Auto und fuhr nach Pankow, wo ich just ab diesem Tag eine Wohnung zu Verfügung hatte, in die ich allerdings erst am folgenden Wochenende in aller Ruhe einziehen wollte. Auf dem Weg blieb mein Auto stehen; also schob ich es vollbeladen durch Pankow. Es war wohl die Einsicht in eine traurige Notwendigkeit, die mich stark bleiben ließ. Aber nachdem ich angekommen war und mitten in der Nacht die Möbel in die Wohnung geschleppt hatte, die in ihrer bürgerlichen Gemütlichkeit meine Situation ironisierte, sank ich auf dem Bett in mich zusammen und dachte nur einen einzigen Gedanken: "Ich halte es nicht durch, in drei Wochen wieder umzuziehen."

Mein Leben nahm eine erdrückende Vorläufigkeit an, an die ich mich schon beinahe gewöhnt hätte, wenn ich nicht schließlich in einem kleinen Schuppen auf dem Grundstück eines älteren Mannes in der Nähe des Baumschulenweges gelandet wäre. Die Laube war mit einem schmalen Feldbett und meinen drei oder vier Säcken voll Habseligkeiten (meine Möbel und Bücher konnte ich inzwischen im Nachhilfe-Institut unterbringen) bereits so gedrängt, dass ich Mühe hatte, ein- und auszugehen. Das Wasser war kalt und eine Heizung gab es auch hier nicht, was mich des ein oder anderen Morgens schon fast dazu verleitet hätte, liegen zu bleiben, da der Schnee sich in Berlin bis in den April hinein halten konnte. Da erkannte ich, dass ich mich nicht länger der Willkür fügen konnte, die meine Umstände mir auferlegten und beschloss einen ganz und gar neuen Weg zu beschreiten, indem ich das einbringe, was mich ausmacht. Daher inserierte ich meine Idee eines Lebens, in welchem ich weniger Geld, sondern vielmehr meine Hilfe anbiete, um unter Menschen meinen Platz zu haben. Linda, eine Frau mittleren Alters, die ich bisher in unseren Gesprächen als sehr gutmütig und empathisch kennengelernt habe, war willens, mir diese Chance zu geben, indem ich so oft es geht auf ihren Sohn Chrissi aufpassen soll und im Gegenzug so günstig wohnen kann, dass ich tatsächlich hier eine Perspektive habe. Der Kleine ist vier Jahre jung und - das konnte ich in den wenigen Stunden nicht übersehen, die ich bisher mit ihm verbracht habe - besitzt diese kindliche Hinneigung zum vollen Leben, diese unbekümmerte Seligkeit, dass ich seit meiner Ankunft heute Vormittag das alles ganz weit hinter mich gelassen habe, was ich in diesem Tagebuch über meine bisherigen einsamen Gehversuche in dieser fremden Stadt geschildert habe.

Den Umzug bewältigte ich zu Fuß, was vom Baumschulenweg nach Schöneweide keinen allzu langen Marsch bedeutet, aber mit dem Gepäck zieht sich die Strecke schier endlos. Vom Regen und Schweiß durchnässt, klebte die Kleidung an mir, als mir Linda mit fürsorglichem Blick entgegen kam, um mir einen meiner Säcke abzunehmen. Ich nahm also erst einmal eine Dusche, auch um Zeit zu gewinnen, mich daran zu gewöhnen, in dieser neuen Umgebung, nun mitten unter Menschen zu sein. Danach schlug ich vor, mein Pesto-Nudelgericht mit überbackenem Feta zuzubereiten. "Oh Chrissi, endlich jemand, der mit uns kocht!", rief Linda begeistert aus. Chrissi probierte heute zum ersten Mal Feta und fand sichtlich Gefallen daran. Überhaupt denke ich, dass er bei aller Eingewöhnung, die man uns beiden zubilligen muss, beachtlich nah auf mich zugeht. Nach dem Essen turnte er noch ein wenig verlegen auf dem Schoß seiner Mutter herum, kam aber schließlich zu mir, um mich vom Küchenhocker zu ringen. "Ich glaube, ihm tut ein Mann im Haus ganz gut", kommentierte Linda meine Versuche, mit ebensoviel Kraft, wie Behutsamkeit, dagegen zu halten. Ich fragte sie daraufhin nach seinem Vater, konnte aber nicht wirklich zuhören, einerseits, weil Chrissi meine ganze Aufmerksamkeit verlangte, andererseits weil ich noch damit zu tun hatte, mir zu vergegenwärtigen, wo ich nun bin. Auch kam es mir so vor, dass ich kaum ein Wort sagte und doch hielt die Unterhaltung bis in die Abendstunden an.

Nun liege ich in meinem kommoden ZimCDPhen auf der Matratze, die Linda für mich bereitgelegt hat, lausche, wie der Regen auf den Wald hinter meinem offenen Fenster plätschert, atme zufrieden die frische Frühlingsluft und staune - ich weiß nicht, worüber. Ich könnte jetzt noch lange über mich nachdenken, darüber, wo ich angekommen bin, darüber, dass ich angekommen bin, darüber, wie viel Glück darin liegt, dass sich das Leben nicht planen lässt. Doch ich bin müde und werde mir etwas Ruhe gönnen und das alles so für sich stehen lassen. Morgen früh passe ich zum ersten Mal auf den Kleinen auf.


__________________________________________________ ________________________________________________



Ich weiß, das erste Kapitel ist nicht so gut geschrieben; aber für mich ist das erst einmal zu verschmerzen, da dies nur die Hinführung zur eigentlichen Geschichte ist, zu der ich nun einfach so schnell wie möglich vordringen wollte (ich werde da natürlich trotzdem bei Gelegenheit nochma drüber gehen und korrigieren). Ich wäre euch verbunden, wenn ihr euch vom ersten Eindruck nicht abschütteln lasst; denn der Rest der Geschichte wird n bisschen anders aussehen. Ich freue mich auf eure Reaktionen.
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.12.2013, 19:09   #2
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Möge sich der empfindsame Leser finden, die wohlgestalteten Sätze dieser Selbstbesinnung ruhig in sich aufzunehmen.

Freue mich immer, dich hier zu finden.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.12.2013, 19:22   #3
Thing
R.I.P.
 
Benutzerbild von Thing
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998

Bei mir müssen zuerst Schmerzfreiheit und Muße eintreten/eintreffen, bevor ich mich dem Text gebührend nähern kann.

Geduld!
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.12.2013, 21:04   #4
männlich Schmuddelkind
 
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Dabei seit: 12/2010
Ort: Berlin
Alter: 38
Beiträge: 4.798

@gummibaum: Oh, danke für das Lob. Wohlgestaltete Sätze - ich weiß nicht, ich fand, ich habe zu viel gelabert und war oft zu explizit; andererseits ist das hier auch nur die Kurzzusammenfassung der Vorgeschichte; wenn ich in der restlichen Geschichte den Ton treffe, den ich mir erwünsche, dann bin ich zufrieden.

@Thing: Oje, dann wünsche ich dir erstma alles Gute! Und wegen des Kommentars - stress dich dicht! Freue mich zwar darauf, aber mach ganz in deinem Tempo!

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
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