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Alt 14.01.2020, 21:15   #1
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Standard die strohpuppe (unheimlich) I

Da ich ahne, dass die meisten hier nicht 4.500 Wörter am Stück lesen mögen, gibt es das Folgende halt häppchenweise. Allerdings ahne ich ebenso, dass spätestens der zweite Happen schon im halse stecken bleiben wird. Wie immer werde ich es mit Fassung nehmen ...

Die Strohpuppe (I)

Eine unheimliche Geschichte aus dem Münsterland

Das morgendliche Licht des Spätsommers war so verlockend gewesen – daran erinnere ich mich jetzt wieder, und immer noch –, dass ich mich heute beim Aufwachen sogar auf meine Arbeit gefreut hatte. Wusste ich doch, dass mir zur Abwechslung mal nicht ein weiterer Tag vor Bildschirmen und Umweltstudien bevorstand. „Es ist ja schon verrückt mit dem Strukturwandel“, hatte mich mein Teamleiter am Vortag angesprochen. „Selbst in den traditionellen Branchen ändert sich nicht mehr Jahr für Jahr, sondern beinahe jede Woche Wesentliches. Nimm doch nur mal diese Wanderbergwerke“, sagte er – wie sollte es auch anders sein, ist es doch eine der zentralen Aufgaben unseres Regionalverbandes, die Verdienste, aber auch die Konsequenzen der Kohleförderung zu analysieren und nach außen darzustellen, die das Ruhrgebiet rund hundertfünfzig Jahre lang geprägt hatte. Obwohl wir alle wissen, dass die ersten Jahre des neuen Jahrtausends auch die letzten des Steinkohlenbergbaus in Deutschland sind, ist es doch faszinierend, sich mit der Anpassung der Technik an sich wandelnde Gegebenheiten zu beschäftigen. Die Suche nach dem schwarzen Gold dringt mittlerweile immer weiter in die Tiefe vor und wandert gleichzeitig nach Norden, aus der dicht besiedelten und stark industrialisierten Emscher-Region in das demgegenüber beinahe menschenleer erscheinende südliche Münsterland. „Bergwerke werden ja bereits seit Längerem nicht mehr als eigene Städte in der Stadt erbaut, um dann hundert Jahre lang an Ort und Stelle zu verbleiben“, hatte mein Chef weiter erzählt, obwohl er wusste, dass ich das natürlich selber weiß. „Heute befördern diagonale Laufbänder die Kohle unterirdisch viele Kilometer weit zur Oberfläche, und sie kommt in weitaus kleineren Anlagen zu Tage, die außerdem flexibel und verblüffend schnell errichtet und auch wieder abgebaut werden können. Prosper-Haniel hat vor kurzem beispielsweise seinen Förderstandort in der Hohen Mark geschlossen.“ Einen Moment hatte mein Teamleiter innegehalten, um dann mit seinem eigentlichen Plan herauszurücken. „Möchtest du dir das nicht morgen einfach mal anschauen? Hier ist nicht viel zu tun, und das Wetter soll ja weiterhin so schön sein. Nimm deine Kamera mit und mach ein paar Fotos von den Einrichtungen, die noch zu sehen sind. Vielleicht können wir unsere Besucher demnächst auch dorthin karren und ihnen das Prinzip der wandernden – und wandlungsfähigen – Bergwerksanlagen am Objekt veranschaulichen.“

So bin ich also jetzt am späten Vormittag in meinem Auto unterwegs nach Norden. Von Essen aus geht es über die Bundesstraße 224 an Bottrop und Gladbeck vorbei nach Marl, wo auch noch riesige Chemieanlagen die Landschaft prägen. Kurz danach trifft dann die Bundesstraße auf die Autobahn A 43, die ich ein kurzes Stück in Richtung Münster fahre. Doch an der Abfahrt Haltern habe ich die Autobahn wieder verlassen und bin auf die B 58 Richtung Wulfen eingebogen. Als ich mich wenig später rechts nach Eppendorf orientiere, wird mir beinahe mit Erschrecken das vollkommen andere Landschaftsbild bewusst: Von Industrie und städtischer Bebauung ist nichts mehr zu sehen, stattdessen wechseln sich weitgehend abgeerntete Weizenfelder mit zunehmend ausgedehnteren Waldflächen ab. Als ich rechterhand den Abzweig zu dem Weiler Holtwick hinter mir gelassen habe, kommen mir auch keine anderen Autos mehr entgegen. Immer dichter stehen die großen Bäume rechts und links der Straße, die mich dennoch laut meinem aktuellen Plan in kürze zu dem stillgelegten Bergwerksstandort führen soll. Nur ab und an dringt noch die helle Mittagssonne durch die Baumkronen, um mich jeweils für einen Augenblick zu blenden. Dazwischen tauche ich in das versöhnlichere Dunkel des Waldes ein – und gleichzeitig mit den Gedanken gewissermaßen in die tieferen Schichten dieser Landschaft, die ich auf unmerkliche Weise klarer zu erkennen meine. Prosper – eigentlich ein seltsamer Name für ein Bergwerk, denke ich, obwohl die Zechen an der Ruhr von Konstantin bis Friedrich dem Großen häufig nach historischen Persönlichkeiten benannt worden waren. Prosper Ludwig von Arenberg, so hatte ich mich schlau gemacht, war ein Reichsfürst, der sich im Jahre 1831 sogar für die soeben neugeschaffene belgische Königskrone beworben hatte – und zur gleichen Zeit zudem Besitzer aller umliegenden Ländereien war. Immerhin fiel der Beginn des Kohleabbaus in seine Ära, während andere, kaum greifbare Gestalten diese Gegend schon geprägt hatten, als an das schwarze Gold noch lange nicht zu denken war. Denn wer an Geschichte – und Geschichten – interessiert ist, wird in diesen Landstrichen auf vielfältige Weise fündig. Ich denke an die Wiedertäufer, die vor rund 500 Jahren in Münster gegen den Kaiser und die Fürstbischöfe aufbegehrten, um das Himmelreich auf Erden zu erschaffen. Nach der Belagerung wurden die toten Körper ihrer hingerichteten Anführer jahrelang in eisernen Käfigen ausgestellt, die noch heute hoch oben am Turm der Lambertikirche sichtbar sind. Dann kommen mir die grausamen Prozesse in den Sinn, bei denen im Vest Recklinghausen noch bis Anfang des 18. Jahrhunderts vermeintliche Hexen angeklagt, gefoltert und dem Tod im Feuer ausgeliefert wurden – vor Jahren habe ich sogar in einem Uni-Seminar davon gehört. Vergnüglicher sind da die Eskapaden des Jägers von Soest, der doch tatsächlich niemand anderes ist als Grimmelshausens Simplicissimus, welcher zu jener Zeit mit seinen Streichen die umliegenden Dörfer und Städtchen aufmischte, als nach 30 unsäglichen Jahren in Münster um den abschließenden Friedensschwur gerungen wurde.

tbc*

* to be continued

Geändert von Epilog (14.01.2020 um 21:32 Uhr) Grund: mehrteilig
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