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Alt 14.05.2012, 15:59   #1
weiblich HierJetztundJa
 
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Standard Ein Teil von mir...

Das Liebste, was ich habe, liegt neben mir. Schlummert noch so friedlich. Leicht pfeifend entweicht der Atem aus den beiden herzförmigen Mündern. Der Kleine, gerade mal zwei Wochen alt. Die Große, meine Tochter, 25, und frisch gebackene Mutter. Mein Gott, ich kann es kaum fassen! Presse meine linke Wange auf die Matratze. So habe ich beide im Blick. Male die Konturen ihrer Gesichter mit den Augen nach. Suche nach Ähnlichkeiten. Er ist so perfekt – der Kleine. Die glatte weiche Haut, die zarten kleinen schwarzen Augenwimpern, der zuckersüße Mund, der sich gerade leicht zuspitzt und ins Leere nuckelt, die zur Faust geballten marmorfarbenen Händchen – einfach alles. Ich kann mich nicht satt sehen…
Was aus ihm einmal wird? Bestimmt ein kleiner Herzensbrecher. Bei dem Mund!
Und ich beginne mich auf kleine Turnschuhe zu freuen, die dann über den Rasen laufen und versuchen, einen Ball zu treffen, auf flinke Füße, die auf mich zulaufen und laut und glücklich „Oma!“ rufen, auf kleine Arme, die sich um meinen Hals legen und mich ganz fest an sich drücken. Ach ja, ich bin so stolz, so stolz, soooo stolz! Oma werden ist so fantastisch!

Dass es den Kleinen gibt, grenzt wirklich an ein Wunder. Für manch gestandenen Mediziner vielleicht nichts Besonderes, doch für mich ist es eines. Da ist dieses kleine, für andere nicht sichtbare Gerät aus Titan, dass dicht unter der Haut meiner Tochter ganz in der Nähe ihres Herzens dafür sorgt, dass ihr Körper funktionieren kann. Und wenn es niemand zuvor erfunden hätte … Ich mag gar nicht zu Ende denken. Und plötzlich läuft sie wieder vor meinen Augen ab – jene Nacht, die ich nie vergessen werde. Jene Nacht, in der ich – genau genommen – meiner Tochter das Leben rettete und meinem Enkelkind somit dazu verhalf, jemals auf die Welt zu kommen…


Schock
Es ist halb 4, nachts. Ich stecke den Schlüssel in die Wohnungstür und muss andauernd gähnen. Was für eine Schicht! Es reicht für heute. Nur noch anderthalb Stunden, dann muss ich wieder aufstehen. Die beiden Kinder fertig machen, zum Kindergarten bringen, nach Lübeck zum Satzstudio fahren. Gegen 16 Uhr unbedingt die Rückfahrt antreten, um nicht vor verschlossenen Kita-Türen zu stehen. Hoffentlich sind die Straßen morgen Nachmittag staufrei und ich schaffe es dieses Mal pünktlich, bevor der Kindergarten seine Türen schließt. .Und ich habe jetzt schon wieder ein schlechtes Gewissen…
Das habe ich eigentlich permanent. Seitdem ich getrennt vom Vater meiner Kinder lebe (der ein starkes Alkoholproblem hat), bin ich wie ein Brummkreisel. Morgens zur Kita, dann zur Arbeit, gegen 18 Uhr Kinder abholen, Abendbrot machen, warten bis sie eingeschlafen sind, wieder zu Arbeit, meistens nachts nach Hause. Wenig Schlaf. Männer? Keine Zeit!
Am Wochenende Termine machen, Kinder mitnehmen. Eröffnungen von Autohäusern und Flughafenfeste sind auch für die beiden interessant. Auf Hüpfburgen und bei Tombolas sind sie schon echte Profis. Auch als Fotomodelle. Da schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie sehen, was Mutti so macht, wenn sie arbeitet, sie sind bei mir und beschäftigt und ich kann trotzdem meine Zeitungsseiten füllen. Was für ein Glück!

Ich sehe nach den beiden Kindern. Alles schläft friedlich. Jedem ein Küsschen auf die Wange. Ich lasse meine Tasche auf den Boden fallen, meine Klamotten auch, habe keine Lust mehr zum Zähneputzen. Schnell schlafen, ganz schnell. Doch die Zeitung geht mir nicht aus dem Kopf. Habe ich auch nichts vergessen? Sie ist fertig geworden, gerade so – die neue Wochenzeitung. Kein Zuckerschlecken momentan. Ich bin alleine. Nachdem vor kurzem der zweite Redakteur gegangen ist, blieb der Zustand erst mal so. Kostengründe oder es fand sich keiner für den nicht tarifgebundenen Lohn – keine Ahnung. So hatte ich jedenfalls im Durchschnitt 48 Seiten pro Woche zu füllen, bevor sie gesetzt und gedruckt wurden.
Und dieser Zustand sollte auch noch ein halbes Jahr andauern…


Irgendwann bin ich tatsächlich eingeschlafen. Plötzlich hörte ich ganz weit entfernt die Stimme meiner 8jährigen Tochter neben mir. Ich dachte, ich träume. Doch dann legte sich eine kleine kalte Hand auf meinen Arm und rüttelte an mir. Begeistert war ich nicht. Ich war müde, sehr müde, wollte schlafen. Wenigstens eine einzige Stunde. Ich rollte genervt mit den Augen: „Ach nö, was ist denn?“ „Mama, mir ist so schlecht. Ich wollte dich eigentlich nicht wecken, aber mir ist so komisch…!“ „Was?“ Ich hatte noch gar nichts so richtig verstanden, war noch etwas entfernt von der Realität und schaute auf die dunkle Silhouette meines Kindes. Plötzlich kippte diese zur Seite – rrrrumms.
Schlagartig war ich wach. „Mausi, Mausi? Was ist mit Dir?“ Ich sprang aus dem Bett, griff ihr unter die schlaffen Arme und zog sie hoch an meine Brust. „Tini, Tini, sag doch was! Tut Dir was weh, was ist los?“
„Mama ich höre dich von ganz weit weg“, murmelte sie und ich blickte in verdrehte Augen und ein weißes, mit Schweißperlen bedecktes Gesicht, als ich das Licht anmachte. Die Lippen waren bläulich.
Ich versuchte sie wach zu halten. Das hatte ich in vielen Filmen gesehen. Und ich dachte, dass sei jetzt das Richtige. Jetzt bloß nicht einschlafen! Ich schlug mit den Handflächen leicht auf ihre Wangen und redete auf sie ein. „Ist dir schlecht, musst du spucken?“ Ich schleppte sie ins Badezimmer und beugte sie über den Badewannenrand. Dann nahm ich ihren Kopf etwas nach hinten und steckte den Finger in ihren Mund. Ich dachte, sie hätte vielleicht Erbrochenes darin. Mein Kind röchelte. Und es schien sich die Kraft immer mehr aus ihrem Körper zu verabschieden. Ich musste Hilfe holen! „Ach ja“, fiel mir ein, „ich habe ja seit einer Woche ein Telefon!“ Ich wählte die 112. In der einen Hand den Hörer. Im anderen Arm mein Kind. Mir liefen die Tränen übers Gesicht. In meinem Magen wuchs ein Stein. Tonnenschwer. Ich konnte kaum reden. „Tini, Tini bitte, tu mir das nicht an! Mausi, mach keinen Scheiß! Das wird wieder!“
Ich stammelte die Antworten auf die Fragen des Notdienstes in den Hörer. Und musste nicht lange warten. Inzwischen wühlte ich im Schrank nach dem Versicherungsausweis meiner Tochter. Dass ich ihn in meiner Panik in den Kühlschrank legte, bemerkte ich später, als der Notdienst danach fragte.
Mein kleiner Sohn Kai, 5 Jahre alt, kam verschlafen ins Wohnzimmer und rieb sich die Augen. „Mama, was ist mit Tini?“ Und langsam füllten sich auch seine Augen mit Tränen, als er mich so aufgelöst sah. Er hängte sich an meine Schlafanzughose und ging mit mir durch die Zimmer. Auf dem Arm hing meine Tochter. Kraftlos.
Ich brachte Kai wieder in sein Bettchen. Immer mit meiner Tochter auf dem Arm.
Es klingte. Der Notdienst. Sie legten Tini auf die Couch, maßen Blutdruck, schauten in den Mund und murmelten sich Fachbegriffe zu. Ein Rettungssanitäter raste aus der Wohnungstür und kam mit einer Trage zurück. „Versicherungsausweis?“ Ich wusste, ich hatte ihn in der Hand gehabt. Überlegte hektisch, wo ich überall gewesen bin. Konnte mich einfach nicht sammeln. Da meinte ein Sanitäter lächelnd: „Schauen sie doch mal im Kühlschrank nach. Das wäre nicht das erste Mal!“ Und tatsächlich, dort lag er…
Doch das war nicht mein größtes Problem. Ich hatte Angst um mein Kind! Mein Gesicht war tränennass, meine Nase lief, ich suchte nach einem Taschentuch. „Was ist los mit ihr?“, wollte ich wissen. „Nur 29 Puls, sie muss sofort in die Klinik. Kommen sie mit?“, fragte die Ärztin. „Ja, natürlich!“, erwiderte ich. „Und was ist mit ihrem Sohn?“ „Ach ja stimmt ja!“ Das hatte ich völlig “vergessen“. „Rufen sie uns morgen früh an! Und kommen sie dann in die Uni-Kinderklinik. Geben sie uns noch ihre Telefonnummer.“
Ich sah den Sanitätern nach, wie sie meine Tochter auf der Trage die Treppe hinunter schleppten. Und ich hatte ein fürchterliches Magendrücken. Mir war schwindelig und ich war völlig neben mir. Was ist mit meiner Tochter? Und vor allem: Warum fahren die jetzt nicht gleich los? Der Rettungswagen stand noch etwa eine halbe Stunde vor dem Haus. Im Inneren sah man Schatten geschäftig hin und her huschen. Es sah aus, als würde mein Kind an einen Tropf angeschlossen werden. „Oh mein Gott, mach, dass sie am Leben bleibt!“, brabbelte ich ständig vor mich hin. Diese Ungewissheit, dieses quälende Gefühl, diese Angst, die eine Mutter in solch einer Situation um ihr Kind haben kann, werde ich nie vergessen! (Selbst das Schreiben dieser Zeilen treibt mir wieder die Tränen in die Augen.)
Der Rettungswagen war weg. Ich überlegte: „Was ist zu tun?“ An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Plötzlich fiel mir die noch ungedruckte Zeitung ein, die im Kofferraum meines Autos lag. Ich musste Ersatz finden. Jemanden, der in zwei Stunden nach Lübeck fährt.
Da fiel mir Moni ein, die gute Seele unseres Vertriebs. Moni half immer, wenn Not am Mann war und das war es ja. 5 Uhr. Und sie nahm auch den Hörer ab. Ihre Stimme klang glockenhell. Die agile Frau ist ein Frühaufsteher. Ich schilderte ihr, was geschehen war. „Oh mein Gott, Kerstin! Kein Problem, wo wohnst Du? Ich komm gleich und hole das Zeug und fahr nach Lübeck. Kümmere du dich um dein Kind!“
20 Minuten später stand Moni vor der Tür. Wir fielen uns in den Arm und heulten um die Wette. Moni ist auch Mutter und dicht am Wasser gebaut. „Fahr nachher gleich in die Klinik. Du hälst das ja doch nicht aus!“, meinte sie und schloss die Wohnungstür.

Moni war weg und das Telefon klingelte. Ich zuckte zusammen. Um diese Zeit? Ich nahm den Hörer ab: „Ja, schönen guten Morgen, Uni-Kinderklinik Rembrandtstraße. Frau Wesselow.?“ Ich bejahte. „Bei ihrer Tochter sind alle Impulsgeber für die Herzklappe ausgefallen. Wir müssen ihr einen Herzschrittmacher implantieren. Kommen sie bitte gleich in die Klinik wegen der Formalitäten!“

Ich musste mich erst einmal setzen. Ich ließ mich auf einen Küchenstuhl sinken, steif, starrte aus dem Fenster. Lähmung. Ich hörte mein Herz im Hals klopfen. „Du musst dich beruhigen Mutter, sonst bist du auch noch dran. Und das geht nicht. Du hast zwei Kinder. Also reiß dich zusammen!“ Ich sprach in schwierigen Situationen oft mit mir selbst. Doch so schwierig wie diese, war noch nie eine.

Ich kochte mir einen starken Kaffee und weckte meinen Sohn, der nach dem ganzen Tumult erstaunlicherweise noch einmal eingeschlafen war. Ich präparierte ihn für den Kindergarten, gab ihn dort ab, erzählte der Erzieherin, der die Betroffenheit ins Gesicht geschrieben stand, was mit meiner Tochter passiert war, stieg dann in mein Auto und flog förmlich zur Kinderklinik.

„Jetzt habe ich also einen kleinen „Duracell-Hasen“, versuchte ich mich selbst aufzumuntern, als ich die Klinik wieder verließ. Mir war eigentlich nicht nach Lachen zumute. Doch erstaunlich war für mich die Vorstellung schon, dass das Leben meiner Tochter künftig von einem batteriebetriebenen Gerät aus Titan abhängig sein würde, das auch regelmäßig nach einigen Jahren operativ ausgewechselt werden muss. Daran wird kein Weg vorbei führen. Das kleine Ding würde immer anspringen, wenn ihr eigener Herzschlag unter 49 Schlägen pro Minute sinken würde. Welche Einschränkungen würde das für ihr Leben bedeuten? „Nicht mit Samthandschuhen anfassen, ihr Kind ganz normal behandeln“, gab mir der Arzt noch damit auf den Weg. „Das ist leicht gesagt…“
Ich blickte auf die Uhr. Gerade in diesem Moment setzte vielleicht der Chirurg das Skalpell in der Nähe der linken Brust meiner Tochter an. Ich verwarf den Gedanken ganz schnell und fieberte meinem ersten Besuch bei meiner Tochter nach ihrer Operation entgegen. Bestimmt wird alles gut!
Ich überlegte kurzzeitig, ob ich meine Mutter anrufen und ihr alles erzählen sollte. Doch ich beschloss, um sie noch zu schonen, es erst nach überstandener OP zu tun.


Der erste Besuch
Intensivstation. Was für ein schlimmes Wort! Hier also liegt meine Tochter. Das schrille intervallmäßige Piepen eines Überwachungsgerätes hörte ich bereits auf dem Flur. Mit Herzklopfen betrat ich den Aufwachraum. Schläuche, Tropf, Nierenschale, Kurven und Zahlen und ein pulsierendes rotes Herz auf dem Oszillografen. Und mitten drin – mein Kind. Sie war blass, ihre dunkelblonden langen Haare waren verschwitzt und ergossen sich auf das schneeweiße Kissen. Ihre anfangs trüben Augen begannen urplötzlich zu glänzen: „Mama!“
Sie sei eine der jüngsten Herzschrittmacherpatienten Deutschlands erzählte sie mir – fast stolz - und der Arzt bestätigt es später. Auch, dass sie unglaublich tapfer war. Sie fühle sich gut – sagte sie. Es ziepe nur ziemlich doll, da wo die Narbe war und sie hätte Angst, wenn der Doktor den Verband abmachen würde, dass es wehtun könnte. Doch das Wichtigste: Ich hatte mein Kind wieder! Und das mit einem, wenn auch schwachen, Lächeln im Gesicht. Alles andere erschien mir so unwichtig…

Die Narbe verheilte schnell und gut. Auf der Station war meine Tochter der Liebling aller Kinder. Immer, wenn ich sie besuchte, saßen Kleinere auf ihrem Schoß, spielte sie Karten oder malte, umringt von anderen. Vor allem ein kleines behindertes Mädchen, das eine riesige Operationsnarbe vom Brustbein bis zum Bauch hatte, hing ihr förmlich am Nachthemdzipfel. Tini genoss es, hatte ich den Eindruck. Schon immer strahlte sie eine ungewöhnliche Ruhe aus. Offenbar fühlten die Kids sich bei ihr geborgen. Und sie sich bei ihnen. So heilten sie sich gegenseitig…


Nach Hause
Nach etwa zwei Wochen konnte ich meine Tochter wieder aus der Klinik abholen. Ich hatte mehr Angst als sie selbst, dass irgendwer oder irgendwas im Alltag mal an ihre Narbe stoßen könnte. Sie bewältigte alles mit Bravour. Mein starkes Mädchen! Den großen Briefumschlag mit den Zeichnungen ihrer Mitschüler, die sie ihr ins Krankenhaus schickten, damit sie wieder gesund wird, habe ich heute noch. Und manchmal, wenn er mir in die Hände fällt, öffne ich ihn auch und schaue mir alle Bilder noch einmal an: „Werde wieder gesund! Wir denken an Dich!“ Die Wünsche haben offenbar geholfen.

Sie erholte sich so sehr, dass der Arzt ihr nur zwei Jahre später sogar erlaubte Handball zu spielen. Ich war erstaunt. So konnte meine Tochter auch in ihrer Freizeit mit ihren Freundinnen zusammen sein. Ohne die Sporterlaubnis hätte sie sich ausgeschlossen gefühlt. Wunderbarerweise verbesserte sich ihre Kondition um ein Vielfaches. Der Schrittmacher musste nur noch selten anspringen. Statt nach 7 Jahren, musste er erst viel später, nach 14 Jahren, ausgetauscht werden.

Gemeinheiten

Und doch gab es einige Situationen, in denen ich den Atem anhielt, die mir den im Alltag manchmal schon fast „vergessenen“ Schrittmacher ganz schnell wieder in Erinnerung riefen: Wir Drei waren umgezogen, in ein Hochhaus im Nordwesten Rostocks. Meine Kinder freundeten sich sehr schnell mit Kindern aus dem Haus an. Tini war Pech und Schwefel mit Sandra. Mal schlief sie bei uns, mal meine Tochter bei ihr. Sie waren richtig dicke Tinte.
Doch eines Tages war es irgendwie vorbei. Eifersüchteleien waren der Anfang vom Ende. Es kamen andere Mädchen hinzu, die lieber mit Sandra oder nur mit meiner Tochter zusammen sein wollten. Vor allem Sandra, die ein hohes Geltungsbedürfnis hatte, kam darauf schlecht klar. Sie scharrte immer mehr Mädchen unterschiedlichen Alters um sich herum und begann sich über meine Tochter lustig zu machen.
Ich weiß es noch wie heute. Tini kam aus der Schule und weinte. Sie schmiss ihre Mappe in die Ecke, ging in ihr Zimmer und warf sich aufs Bett. Es dauerte lange, bis ich den Grund aus ihr herausgekitzelt hatte. Doch was ich dann hörte, brachte mich zur Weißglut. Sandra wusste von ihrem Schrittmacher. Sie sah meine Tochter aus der Schule kommen, stand mit ihrer Mädchengang am Treppengeländer vor dem Wohnblock. Sandra duldete es nicht, dass Tini wortlos an ihr vorübergehen wollte. Als sich die Fahrstuhltür öffnete und Tini einsteigen wollte, stiegen ihr die Mädchen nach, schubsten sie im Fahrstuhl in die Ecke. „Na Du Behinderte, na Du blöde Kuh!“, schrien sie ihr ins Gesicht. Und das Schlimmste: Dabei boxten sie ihr mit ihren Fäusten auf die Narbe über der linken Brust. Tini krümmte sich zusammen und kauerte in der Ecke. Sie musste noch einige Etagen unfreiwillig nach oben fahren, bevor die Mädchen sie gehen ließen.
„Wo sind die, sind die noch unten?!“ rief ich. Meine Tochter nickte. Ich stürmte in den Fahrstuhl und drückte hektisch auf das E.
Die Fahrstuhltür öffnete sich und ich sah die Mädchen schon im Flur stehen. Allerdings war Sandra nicht dabei. „Wo ist die Lange?“ fauchte ich sie an, während ich auf sie zustürmte. „Ihr seid ja wohl das Allerletzte! Ein Mädchen zu schlagen, das einen Herzschrittmacher hat. Ich kenne Mittel und Wege, Euch das Leben genau so schwer zu machen. Aber das ist unter meinem Niveau!“ motzte ich sie an. Was ich sonst noch so an Schimpftiraden abließ, schildere ich hier lieber nicht. Aber ich war selten in meinem Leben so wütend und es musste raus. „Wenn ihr meine Tochter auch nur böse anschaut, geschweige denn, sie irgendwie berührt, dann verspreche ich Euch, werdet ihr eures Leben nicht mehr froh!“ „Ist ja gut Frau W.“, versuchte mich ein Junge zu beruhigen. „Die Mädchen meinten es ja nicht so.“ Es war Sandras kleiner Bruder. „Meinten es nicht so? Ein Kind ist mit einem Schrittmacher schon genug bestraft. Sich dann auch noch darüber lustig zu machen und handgreiflich zu werden ist ja wohl wohl das Allerletzte!“
Plötzlich fiel mir ein, dass Sandras Eltern ja auch im selben Block wohnen. Ich drehte mich von den Mädchen mit einem verächtlichen Blick ab und murmelte: „Okay, dann fahr ich mal zu den Langes hoch. Das muss ich klären!“
Plötzlich schoss Sandra aus der Ecke neben dem Müllschluckerraum. Zögernd kam sie auf mich zu. „Frau W., ich hab nichts gegen Tini. Wir waren doch mal befreundet. Es tut mir leid! Kommt nicht wieder vor!“ Offensichtlich wollte sie nicht, dass ich zu ihren Eltern ging. Ich wusste, ihr Vater fackelte nicht lange, wenn sie Ärger machte. „Wenn ich noch einmal was Negatives von Tini höre und ihr sie nicht in Ruhe lasst, bin ich oben, das schwör ich dir!“
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass inzwischen auch meine Tochter die Treppen herunter gekommen war und mir zugehört hatte. „Mama, beruhige dich. Du machst mir fast Angst. So habe ich dich noch nie erlebt!“ Ich blickte ihr hinterher wie sie aus dem Haus ging und beobachtete mit Argusaugen die Mädchengang, die sich jetzt tatsächlich nicht traute meine Tochter auch nur anzusehen. Ich muss Eindruck geschunden haben – sagte ich mir mit einer gewissen Genugtuung und klopfte mir in Gedanken auf die Schulter. Mal sehen, wie lange der Respekt der Mädchengang anhält…
Übrigens zogen wir bald in eine andere Straße im selben Stadtviertel. Was ich nicht wusste, dass Sandra Langes Familie dort inzwischen auch hingezogen war. Es war derselbe Block. Inzwischen war die damals 16-Jährige schwanger und lebte mit ihrem bis unters Kinn tätowierten Freund bei ihren Eltern. Sie war beinahe sanftmütig geworden. Freute sich, wenn sie meine Tochter traf, lud sie zum Kaffee ein und versuchte die Freundschaft wieder aufzufrischen. Doch es war nicht mehr so wie früher. Und als das Baby kam, hatte Sandra sowieso keine Zeit mehr…Ehrlich gesagt, war ich froh darüber. Ich traute diesem Mädchen irgendwie nicht mehr über den Weg.


K.O.

Mal von der Zeit abgesehen, als ich meine Tochter im Sommer nachts regelmäßig von Strandpartys abholte, damit ihr nichts passierte, und plötzlich noch andere angetrunkene Mädchen und Jungs vor dem Auto standen und nach Hause gefahren werden wollten, hatte ich keine Probleme mit meiner Tochter. Naja gut, ich war schon an zahlreichen Abenden genervt, an denen bis zu sechs Mädchen meine kleine Wohnung regelrecht besetzten, um sich auf die Disco vorzubereiten und nebenbei meinen Kühlschrank plünderten.

Aber meine Tochter lebte wie ein ganz normaler Teenager. Das war entscheidend. Beinahe ohne Einschränkungen, trotz Schrittmacher. Den hatten wir verdrängt. Doch wie gesagt, es gab Situationen, die ihn uns auf unschöne Weise wieder in Erinnerung riefen:
Eines Tages, es war ein Sonntag, klingelte morgens gegen 4 Uhr mein Telefon. Margi, die Freundin meiner Tochter war am Apparat. „Tini ist beim Notarzt in der Uniklinik. Wir waren gestern in der Disco. Irgendwer muss ihr K.O.-Tropfen in den CubaLibre getan haben. Sie ist nach nur einem Getränk plötzlich vom Barhocker gerutscht und zusammengebrochen.“ Margi holte tief Luft. „Tini wollte sie eigentlich nicht anrufen, um sie nicht aufzuregen. Aber ich denke, sie sollten das wissen. Es geht ihr schon besser. Die haben hier Tests gemacht und es ist alles wieder in Ordnung. Sie müssen nicht herkommen. Wir fahren gleich nach Hause.
Seit knapp einem Jahr waren die beiden Mädchen eine WG, wohnten, lernten, freuten sich und litten gemeinsam. Meine Tochter hatte sich gerade in einen rapperähnlichen Typen verliebt. Wo war der eigentlich? Margi druckste herum und beantwortete meine Frage nicht wirklich. Der coole Herr hatte sich verdünnisiert, feierte wo und mit wem auch immer. Wie sich später nach ihrer Trennung herausstellte gern mit diversen anderen Mädchen. Jedenfalls konnte Tini ihn an jedem Abend in der Disco nicht mehr finden…


Panik im Hotel

Ich habe ein großes schönes Mädchen, ein kluges noch dazu. Tini hatte ihr Abi in der Tasche, machte gerade eine Lehre als Hotelfachfrau, will danach Betriebswirtschaft studieren. Ich war sehr stolz und es lief alles wie am Schnürchen. Ihre Dienste waren hart. Die Hotelkette verlangte viel von ihren Azubis. Nach 12 bis 14 Stunden Dienst zwei Stunden Schlaf und dann die nächste Schicht. Gesetzestreu war das nicht…
Vor lauter Stress kam meine Tochter nicht zum Trinken, zum Essen in Ruhe auch selten. Sie nahm gewaltig ab. Was ihr gefiel, machte mir Sorgen. Und was ich befürchtete trat dann auch ein. Als sie hinter der Bar einem Gast ein Bier einschenken wollte, kippte sie plötzlich ohnmächtig zur Seite und lag hinter dem Tresen. Das Hotel rief bei mir auf der Arbeit an: „Frau W. ihre Tochter ist ohnmächtig geworden. Können sie mal herkommen, wir wissen doch nicht, was wir tun sollen.“
Als ich die Hände meiner Tochter hielt, die von ihren Kollegen auf eine Couch in einem Aufenthaltsraum gelegt wurde, trafen dann auch die Notärzte ein. Die Diagnose war schnell gestellt: Stress war der Auslöser! Kaum etwas getrunken, wenig gegessen. „Ihre Tochter sollte sich schonen!“, wurde mir empfohlen. Ungläubige Blicke von den herumstehenden Kollegen. Wie sollte das gehen?


Liebe
Das war das letzte Mal - mal abgesehen von einem knallharten Pass auf ihre Narbe über der linken Brust während eines Handballspiels, durch den sie k.o. ging - dass ich angerufen wurde, wenn es meiner Tochter schlecht ging. Meine Funktion übernahm schließlich, als Tini 18 war, ihr Freund Dennis. Ein Eishockeyspieler. Sie sahen sich das erste Mal in der Hotellobby. Er, weil er hier vorübergehend einquartiert war, sie als angehende Hotelfachfrau hinter der Bar. Ich glaube nicht, dass es meiner Tochter recht wäre, wenn ich ganz genau erzählen würde, wie sie sich kennen lernten. Nur so viel: Beide haben sich sehr viel Zeit gelassen. Und für Dennis war es nebensächlich, dass Tini einen Herzschrittmacher hat.
Das ist jetzt fünf Jahre her. Meine Tochter und ihr Schatz sind inzwischen Eltern geworden.
Der Beweis ihrer Liebe liegt gerade neben mir und schläft ganz friedlich. Mein kleiner Enkel ist die lebendige Antwort auf die Frage, die mich jahrelang am meisten beschäftigte: Kann meine Tochter jemals auf normalem Wege Mutter werden? Ist die Belastung einer Schwangerschaft und vor allem die von Geburtswehen nicht zu hoch für eine junge Frau mit Herzschrittmacher? Kann sie so etwas verkraften?
Ich weiß es jetzt. Ganz genau… Es funktioniert!!!
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