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Alt 29.10.2015, 09:29   #1
männlich Eddie
 
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Standard Das Mädchen mit dem roten Luftballon

Aufgeregt nahm sie ein Stück Papier aus dem Karton und begann zu schreiben:

„Lieber Papa, ich wünschte, du wärst nicht fortgegangen. Ich weiß, du wolltest uns nur vor den bösen Menschen beschützen. So, wie du uns vor allen anderen bösen Dingen immer beschützt hast. Doch irgendwann kamen sie zu uns. Mit Gewehren und Bomben. Flugzeugen und Panzern. Angst und Schrecken. Erst holten sie meine Freunde. Dann Oma und Opa und Mama. Von dem Moment an wusste ich, dass du nie wieder zurückkommen würdest. Und jetzt: Bin ich alleine. – Bitte versprecht mir, dass ihr auf mich wartet. Wenn Oma und Opa und Mama schon bei dir sind, gib ihnen einen Kuss von mir. Und Papa: sag ihnen, dass es mir leid tut. Ich will mich nicht mehr wie eine Maus in einem Loch verstecken, denn Papa, weißt du, ich habe jetzt keine Angst mehr vor bösen Menschen! Ich liebe dich. Dein kleiner Sonnenschein.“

Gedanken wurden zu Worten und Worte zu Bildern. Erinnerungen an eine bessere Zeit blitzten wie Diabilder vor ihrem inneren Auge auf. Sie musste achtgeben, dass keine der Tränen, die ihr über die Wangenknochen perlten, das Geschriebene verwischten. Als sie fertig war, steckte sie den Brief in einen Umschlag. Ein Hauch von einem Lächeln zeichnete sich auf ihrem traurigen Gesicht ab. Denn nun hatte sie ein Ziel. Zusammen mit dem roten Luftballon ging sie zur Tür.

Sie verabschiedete sich von den Figuren an der Wand. Mit Buntstiften hatte sie jede einzelne von ihnen gemalt. Anfangs nur grobe Umrisse. Eine Höhlenmalerei. Nach und nach kamen immer mehr Details hinzu. Wie die großen blauen Augen ihrer Mutter oder der dunkle Vollbart ihres Vaters. Der mit Schnitzereien verzierte Gehstock ihres Großvaters oder der Wollschal ihrer Großmutter.

„Ich bin bald wieder zurück“, sagte sie und ging hinaus. Sie wusste jedoch, genau wie die stummen Figuren an der Wand, dass es eine Lüge war.

Auf der Straße angekommen, wehte ihr ein kalter Wind ins Gesicht. Ihre Füße versanken im tiefen Schnee. Die Kälte zog über ihre nackten Zehen hinauf bis zu ihrem Hals. Unter einem viel zu großen Mantel trug sie lediglich eine dünne Stoffhose und ein T-Shirt. Sie traute sich nicht, die Kleidung der Toten anzuziehen. Nur diesen Mantel. Denn er gehörte einst ihrem Vater.

Die Stadt wirkte friedlich, wie eine Szene aus einem Wintermärchen. Nur vereinzelt ragten Körperteile aus dem Schnee. Tiefgefrorene Überreste des Angriffs. Sie folgte der Hauptstraße stadteinwärts zu einem Hügel – dem höchsten Punkt im Umkreis. Von hier aus wollte sie ihn steigen lassen. Zusammen mit dem Brief. Mit jedem Schritt zitterte ihr Körper ein Stück mehr. Die Zähne stimmten mit ein und klapperten, dass es bereits schmerzte.

Plötzlich hörte sie Schüsse. Männerstimmen näherten sich aus einer der vielen Nebenstraßen. Ihr Herz raste. Reflexartig suchten ihre Augen nach einem Versteck. Doch dann erinnerte sie die Schnur in ihrer Hand, an dessen Ende sich ein roter Luftballon befand, an ihr Ziel und sie ging weiter.

Die Männer strömten nun direkt vor ihr auf die Hauptstraße. Für einen kurzen Moment schien es, als würden sie ihr keine Beachtung schenken. Einer nach dem anderen ging an ihr vorüber, so, als wäre sie ein Geist. Dann plötzlich, das Mädchen fühlte sich schon in Sicherheit, donnerte eine tiefe Stimme durch die Straßen.

„Stopp!“

Sie stoppte.

„Umdrehen!“

Sie drehte sich um und stand einer Wand gegenüber – doppelt so groß wie sie selbst. Einer Wand aus Männern mit Gewehren. Jedes war auf sie gerichtet.

Ihre Gesichter versteckten sie hinter dunklen Tüchern. Nur die Augen blitzten aus der Dunkelheit hervor. Wie Raubtiere warteten sie auf die Reaktion ihrer Beute. Eine unbeschreibliche Kälte ging von ihnen aus. Kälter als der Wind. Kälter als der Schnee.

„Öffne deinen Mantel!“

„Aber mir ist kalt“, sagte das Mädchen.

Ein Mann löste sich aus der Wand. Er stellte sich vor das Mädchen und drückte seinen Gewehrlauf auf ihre Stirn. Währenddessen tänzelte über ihnen der rote Luftballon im Wind. Ein stummer Beobachter in sicherer Entfernung.

„Öffne. Sofort. Deinen. Mantel!“, befahl der Mann und drückte den Gewehrlauf noch fester auf die Stirn.

Sie streckte ihm die Zunge raus. Anschließend zeigte sie ihm mit der freien Hand den Mittelfinger und schrie: „Nein!“

Ein Schuss hallte durch die Straßen.

Die Schnur löste sich aus der Hand des Mädchens und der rote Luftballon trug ihren Brief davon.

Die Männer mit den Gewehren liefen weiter.
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