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Alt 02.02.2014, 19:32   #1
männlich HansArp
 
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Standard Der Mann vor dem Brunnen

Ein literarischer Deutungsversuch der Kurzgeschichte "Vor dem Gesetzt" von Franz Kafka.

In einem Dorf steht ein Brunnen. Zu diesem Brunnen kommt ein Mann aus der Stadt und hofft, dass der Brunnen ihm etwas schenkt. Man muss nur ein Geldstück hineinwerfen und sich etwas wünschen. „Nimm meine Gabe und beschenk mich!“, sagt der Mann aus der Stadt. Er wartet vor dem Brunnen, aber nichts geschieht. Er legt den Kopf auf die Seite und überlegt.Er ist überrascht und ein wenig verärgert, da nichts geschieht. Er geht zu einer der Hütten hinüber, nimmt sich einen Holzstuhl von der Terrasse und setzt sich vor den Brunnen. Er legt die Füße auf eine der Steinstufen und sagt: „Ich kann warten.“

Wind und Wetter machen ihm nichts. Immer wieder kommt er mit Leuten ins Gespräch. „Warum warten sie hier?“ wird er oft gefragt. Seine Antwort ist stets die Gleiche: „Ich warte auf die Erfüllung meines Wunsches.“ Das Gerede von Aberglaube und Scharlatanerie interessiert ihn nicht. Eingeschnappt schüttelt er den Kopf und wünscht die Leute zum Teufel. Irgendwann überkommt ihn doch der Zweifel und er schimpft auf den Brunnen. „Bist wohl doch nur ein Lügner und nicht mehr.“ Er tritt gegen den Brunnen aus Bronze, der auf einem mit mehreren Stufen versehenen, quadratischem Podest aus Stein steht. „Siehst aus wie eine umgedrehte Kirchenglocke. Wie ein Blechtopf. Hässlicher Vogel!“ An den Brunnen gelehnt steht die bronzene Leiter, an welcher er sich an warmen Sommertagen immer anlehnt. Viele Tage vergehen. Er telefoniert mit seinem Vermieter und kündigt seine Wohnung. Seine Habe lässt er sich bringen. Nach einigen Tagen des Wartens kommt ein großer LKW. „Stellen sie die Sachen alle um den Brunnen herum“, sagt er ganz aufgeregt. Er verflucht den Starrsinn des Brunnens. „Wenn du ihn mir nicht gewähren willst, dann gebe ich dir eben noch mehr.“ So wirft der Mann seine Habe Tag für Tag und Stück um Stück in den Brunnen.

Nun ist alles in der Tiefe des Brunnens verschwunden. Zufrieden setzt er sich wieder vor den Brunnen. Die Kleider an seinem Körper sind sein letzter Besitz. Im Brunnen sieht er die Sachen schwimmen, die ihm gehörten. Dort sitz er Tage und Jahre. Oft redet er mit dem Brunnen, fragt ihn über seine Entstehung aus und nach vielen anderen Sachen. Es sind Fragen von Bedeutung für ihn. Der Brunnen antwortet nicht, wie große Herren, die sich zu fein sind. Zum Schluss sagt der Mann aus der Stadt dann immer wieder, dass der Brunnen seinen Wunsch doch noch erfüllen wird. So lange wolle er hierbleiben. Der Mann aus der Stadt wartet und schließlich wird er alt. Man nennt ihn jetzt den Mann vom Brunnen. Er hört nur noch schlecht und seine zotteligen Haare stehen zerstreut auf seinem Haupt. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkeln einen Glanz, der unverlöschlich aus der Tiefe des Brunnens bricht. Er erinnert sich in seinem Geist an die Zeit, welche er vor dem Brunnen verbrachte. Seine Zeit würde bald kommen. „Habe ich irgendwas vergessen? Habe ich etwas in den ganzen Jahren vergessen zu bedenken?“, fragte er. „Alle streben nach ihren Wünschen und niemand wartet auf ihr Kommen.“ Er legt seine Kleider ab, wirft sie in den Brunnen und klettert die Leiter hinauf. „Bevor die Beine mich nicht mehr tragen, schenke ich mich selbst.“

Ein Dabeistehender, der den Mann vom Brunnen mittlerweile Jahre beobachtete, sagte: „Es war, als wenn dieser Brunnen nur für diesen Mann gemacht worden wäre.“ Er steht auf der Leiter. „Nein. Ich war für diesen Brunnen gemacht“, spricht der Mann vom Brunnen und stürzt sich in das Wasser.
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kafka, kafkaes, kurzgeschichte

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